Joseph Conrad
Lord Jim
Joseph Conrad

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Fünfzehntes Kapitel

Ich machte mich nicht sofort auf die Suche nach Jim, weil ich tatsächlich eine nicht zu umgehende Verabredung hatte. Dann wollte es das Mißgeschick, daß ich im Kontor meines Agenten auf einen Menschen stieß, der frisch aus Madagaskar gekommen war und einen Plan zu einem glänzenden Geschäft fertig mit sich in der Tasche trug. Es drehte sich um Vieh und Patronen und einen Fürsten Ravanolo; doch der Angelpunkt des Ganzen war die Dummheit eines Admirals – Admirals Pierre, wenn ich nicht irre. Der gute Mann konnte keine Worte finden, die stark genug waren, seinem Vertrauen Ausdruck zu geben. Er hatte kreisförmige Augen, die ihm mit einem fischigen Glanz aus dem Kopf sprangen; aus der Stirne wuchsen ihm Höcker, und sein langes Haar trug er ohne Scheitel zurückgekämmt. Er hatte einen Lieblingssatz, den er fortwährend stolz wiederholte : Ein Minimum von Risiko bei einem Maximum von Profit – das ist mein Motto. Was? Er machte mir Kopfschmerzen, verdarb mir mein Frühstück, wußte aber dabei eins für sich herauszuschinden; sobald ich ihn losgeworden war, ging ich schnurstracks zum Strand hinunter. Ich erblickte Jim, wie er sich über die Kaibrüstung lehnte. Drei eingeborene Bootsleute, die über fünf Annas stritten, machten dicht neben ihm einen Heidenlärm. Er hatte mich nicht kommen hören und fuhr bei der leisen Berührung meines Fingers wie von einer Tarantel gestochen herum. Ich sah aufs Meer hinaus, stammelte er. Ich weiß nicht mehr, was ich darauf erwiderte, doch machte er keine Schwierigkeit, mir ins Hotel zu folgen. Er folgte mir gefügig wie ein kleines Kind, mit gehorsamer Miene, ohne jede Willensäußerung, als hätte er nur darauf gewartet, daß ich käme und ihn holte. Ich hätte mich nicht so sehr über seine Willfährigkeit zu wundern brauchen. Auf der weiten Gotteswelt, die vielen so groß erscheint und die andre für winziger zu halten vorgeben als ein Senfkorn, hatte er kein noch so kleines Fleckchen, wohin er sich – wie soll ich sagen, wohin er sich hätte verkriechen können. Das war's! Sich verkriechen – allein sein können mit seiner Verlassenheit. Er ging sehr ruhig an meiner Seite, sah hier- und dorthin und drehte sich einmal um, um einem schwarzen Heizer in frackartigem Rock und gelben Hosen nachzusehen, dessen Gesicht seidig spiegelte wie Anthrazitkohle. Doch bezweifle ich, daß er irgend etwas wirklich sah, noch sich die ganze Zeit über meiner Gesellschaft bewußt war, denn wenn ich ihn nicht bald nach rechts geschoben, bald nach links gezerrt hätte, wäre er so lange in einer Richtung vorwärts gegangen, bis ihm eine Mauer oder sonst irgendein Hindernis Halt geboten hätte. Ich steuerte ihn in mein Schlafzimmer und setzte mich sofort hin, um Briefe zu schreiben. Dies war der einzige Platz in der Welt (außer vielleicht das Walpoleriff – doch war dies nicht so bei der Hand), wo er es mit sich auskämpfen konnte, ohne daß ihm die übrige Welt dabei im Wege war. Das verfluchte Ding – wie er sich ausgedrückt hatte – hatte ihn nicht unsichtbar gemacht, aber ich tat so, als ob er es wäre. Kaum saß ich in meinem Stuhl, so beugte ich mich über mein Schreibpult wie ein mittelalterlicher Schriftgelehrter und verhielt mich, abgesehen von der Schreibbewegung der Hand, ängstlich still. Ich kann nicht sagen, daß ich Angst hatte; aber ich war so still, als ob etwas Gefährliches im Zimmer gewesen wäre, das, sobald ich mich nur rührte, auf mich losstürzen konnte. Es war nicht viel in dem Zimmer – ihr wißt, wie diese Schlafzimmer eingerichtet sind –, eine Art Himmelbett unter einem Moskitonetz, zwei, drei Stühle, der Tisch, an dem ich schrieb, der nackte Fußboden. Eine Glastür ging auf eine Veranda im Oberstock, und er stand davor, in möglichster Ungestörtheit sich selbst überlassen. Es dämmerte. Ich zündete mit tunlichster Behutsamkeit und solcher Vorsicht, als wäre es eine unerlaubte Handlung, eine Kerze an. Ganz fraglos ging es ihm sehr nahe, mir aber nicht minder, und zwar bis zu dem Grade, daß ich ihn zum Teufel oder doch wenigstens auf das Walpoleriff wünschte. Es kam mir ein- oder zweimal in den Sinn, daß Chester schließlich doch vielleicht der Mann war, sich zu einem solchen Zusammenbruch richtig zu stellen. Dieser sonderbare Schwärmer hatte im Nu und tatsächlich unbeirrbar eine praktische Verwertungsmöglichkeit entdeckt. Man konnte glauben, daß er vielleicht wirklich, wie er es behauptete, Dinge in ihrem wahren Lichte zu sehen wisse, die weniger phantasiebegabten Menschen geheimnisvoll oder völlig hoffnungslos erschienen. Ich schrieb und schrieb; ich beglich alle Rückstände meiner Korrespondenz und schrieb dann weiter an Leute, die gar keinen Grund hatten, von mir einen geschwätzigen Brief über nichtige Dinge zu erwarten. Ab und zu tat ich einen verstohlenen Seitenblick. Er stand wie festgewurzelt am selben Fleck, doch liefen ihm krampfige Schauer den Rücken hinunter; seine Schultern hoben und senkten sich. Er rang, rang – nach Atem hauptsächlich, wie es schien. Die massigen Schatten, die von der geraden Kerzenflamme alle nach einer Seite geworfen wurden, schienen eigentümlich lebendig, die Gegenstände im Zimmer bekamen für meinen verstohlenen Blick einen Ausdruck von Aufmerksamkeit. Meine Phantasie begann sich inmitten meines eifrigen Geschreibsels zu regen; und obwohl völlige Stille im Zimmer herrschte, wenn das Kratzen meiner Feder einen Augenblick aufhörte, so quälte mich doch eine innere Unruhe und Zerstreutheit, wie sie sich einstellt, wenn irgend etwas Gewaltsames von außen droht – ein heftiger Orkan auf See zum Beispiel. Einige von euch werden wissen, was ich meine – die Mischung von Angst, Trauer und Erregung, mit einer gewissen Verzagtheit dabei, die man eigentlich nicht wahrhaben möchte, die aber der Standhaftigkeit insgeheim besonderen Wert gibt. Ich rechne es mir nicht zum Verdienst an, daß ich dem Anprall von Jims Seelenkämpfen standgehalten habe; ich konnte mich in meine Briefe retten. Ich hätte, wenn nötig, an wildfremde Personen schreiben können. Plötzlich, als ich eben einen frischen Bogen zur Hand nahm, hörte ich einen leisen Ton, den ersten Ton, der, seitdem wir zusammen eingeschlossen waren, in der Stille der Nacht zu mir drang. Ich hielt den Kopf gesenkt, die Hand unbeweglich. Wer je bei einem Krankenbett Wache gehalten, hat in der Stille der Nacht solche Töne vernommen, die sich einem gepeinigten Körper, einer todmüden Seele entringen. Er stieß die Glastür mit solcher Heftigkeit auf, daß alle Scheiben klirrten, trat hinaus, und ich hielt den Atem an und horchte angespannt, ohne zu wissen, was ich sonst noch zu hören erwartete. Er nahm sich wirklich eine leere Formsache zu sehr zu Herzen, die es, nach Chesters scharfem Urteil, nicht wert war, daß ein Mann, der die Dinge sehen kann, wie sie sind, ihrer achtet. Eine leere Formsache. Ein Stück Pergament. Nichts weiter. Was hingegen die unzugängliche Guanoinsel betrifft, so war das eine ganz andere Sache. Darüber konnte einem das Herz wohl brechen. Aus dem Speisesaal unten klang der gedämpfte Schall von vielen Stimmen und ein leises Klirren von Glas und Silber herauf. Durch die offene Tür fiel der Schein meiner Kerze auf seinen Rücken; sonst war alles schwarz; er stand am Rande einer weiten Dunkelheit, wie eine einsame Gestalt am Ufer eines trostlosen, finsteren Meeres. Das Walpoleriff war darinfürwahr ein Fleckchen in der unendlichen Leere, ein Strohhalm für den ertrinkenden Mann. Mein Mitleid formte sich in mir zu dem Gedanken, daß ich es den Seinen nicht wünschen würde, ihn in diesem Augenblick zu sehen. Ich selber fand es quälend. Sein Rücken wurde nicht mehr durchschüttert von den krampfigen Schauern. Er stand gerade wie ein Pfeil, kaum sichtbar und still. Und diese Stille legte sich mir mit solcher Schwere auf die Brust, daß ich einen Augenblick lang wünschte, er wäre tot und ich hätte weiter nichts mit ihm zu schaffen, als für die Kosten seines Begräbnisses aufzukommen. Selbst das Gesetz hatte mit ihm abgeschlossen. Ihn zu begraben, wäre eine so leichte Wohltat gewesen, so sehr im Einklang mit der Weisheit des Lebens, die darin besteht, alles, was uns an unsere Torheit, unsere Schwäche, unsere Sterblichkeit erinnert, alles, was unserer Kraft Abbruch tut, unseren Blicken zu entziehendie Erinnerung an unsere Mißerfolge, die Regungen unserer ewigen Ängste, die Leiber unserer toten Freunde. Vielleicht nahm er es sich wirklich zu sehr zu Herzen. Und wenn – ja, dannChesters Anerbieten... Bei diesem Punkt angelangt, nahm ich einen neuen Bogen und begann wild draufloszuschreiben. Zwischen ihm und dem dunklen Meer stand einzig und allein ich selbst. Ich hatte ein Gefühl der Verantwortlichkeit. Wenn ich sprach, würde dieser reglose, zerquälte Junge den Sprung in die Dunkelheit tunden Strohhalm ergreifen? Ich machte die Entdeckung, wie schwer es manchmal sein kann, einen Laut herauszubringen. Es liegt eine Zaubergewalt im gesprochenen Wort. Und warum zum Teufel nicht? fragte ich mich beharrlich, während ich weiterschrieb. Auf der leeren Seite, unter der Spitze meiner Feder, schoben sich mit einmal die Figuren von Chester und seinem ausgegrabenen Partner, klar und deutlich in Haltung und Gebärde, wie von einem optischen Spielzeug wiedergegeben, in mein Gesichtsfeld. Ich betrachtete sie eine Weile. Nein. Sie waren zu nebelhaft und wesenlos, um in ein Schicksal einzugreifen. Und ein Wort dringt weitsehr weit, kann Zerstörung bewirken, wie die Kugeln, die durch den Raum fliegen. Ich sagte nichts; und er dort draußen, wie gebannt und geäfft von all den unsichtbaren Feinden der Menschen, rührte sich nicht und gab keinen Laut von sich.


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