Joseph Conrad
Lord Jim
Joseph Conrad

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Vierundzwanzigstes Kapitel

Die Küste von Patusan (ich sah sie ungefähr zwei Jahre später) ist gerade und düster und hat ein dunstiges Meer vor sich. Rotes Rankenwerk fällt wie ein Gießbach durch das dunkelgrüne Laub der Büsche und Kletterpflanzen, die die niederen Klippen bekleiden. An der Mündung der Flüsse dehnen sich morastige Ebenen mit einem Ausblick auf gezackte blaue Berggipfel jenseits der tiefen Wälder. In der offenen See ragen, in dem immerwährenden, von der Sonne beleuchteten Dunst, die dunklen, zerbröckelnden Formen einer Inselkette, wie die Überbleibsel einer Mauer, in die das Meer eine Bresche geschlagen hat.

Ein Fischerdorf liegt an dem Mündungsarm bei Batu Kring. Der Fluß, der so lange gesperrt gewesen, war zu der Zeit offen, und Steins kleiner Schoner, in dem ich meine Reise machte, arbeitete sich in drei Flutzeiten stromaufwärts, ohne daß er einem Gewehrfeuer von »ungeantworteten Haufen« ausgesetzt gewesen wäre. Jene Zustände gehörten schon der alten Geschichte an, wenn man dem ältlichen Häuptling des Fischerdorfs glauben wollte, der an Bord kam, um eine Art Lotsendienst zu tun. Er sprach zu mir (dem zweiten Weißen, den er jemals gesehen hatte) mit Zutrauen, und das meiste, was er sagte, drehte sich um den ersten Weißen, den er je gesehen hatte. Er nannte ihn Tuan Jim, und der Ton seiner Auskünfte zeichnete sich durch eine eigene Mischung von Vertraulichkeit und Ehrfurcht aus. Die Bewohner des Dorfs standen unter dem besonderen Schutz des Herrn, was bewies, daß Jim ihnen nichts nachtrug. Es hatte sich schon eine Legende gebildet, daß die Flut zwei Stunden vor der Zeit eingetreten war, um ihm bei seiner Reise den Fluß hinauf zu Diensten zu sein. Der geschwätzige alte Mann hatte selbst das Kanu gesteuert und das Wunder bestaunt. Noch mehr, aller Ruhm war in seiner Familie. Sein Sohn und sein Schwiegersohn hatten gerudert; aber sie waren junge Leute ohne Erfahrung, die die Geschwindigkeit des Kanus nicht bemerkten, bis er sie auf die erstaunliche Tatsache aufmerksam machte.

Jims Anwesenheit in dem Fischerdorf war ein Segen; aber bei ihnen, wie bei so vielen von uns, ging dem Segen der Schrecken voran. So viele Generationen waren aufeinander gefolgt, seit der letzte Weiße den Fluß aufgesucht hatte, daß selbst die Überlieferung davon verlorengegangen war. Die Erscheinung des Wesens, das zu ihnen herabstieg und gebieterisch verlangte, nach Patusan hinaufgefahren zu werden, machte sie ganz ratlos; seine Beharrlichkeit war furchterregend; seine Großmut mehr als verdächtig. Es war eine unerhörte Forderung. Nie war Ähnliches geschehen. Was würde der Rajah dazu sagen? Was würde er ihnen tun? Der größte Teil der Nacht ging mit Beratungen hin; aber die unmittelbare Gefahr, die der Zorn des Fremden androhte, war so groß, daß sie schließlich einen morschen Einbaum klarmachten. Die Weiber kreischten vor Jammer, als er abfuhr. Eine furchtlose alte Hexe fluchte dem Fremden.

Er saß darin, wie ich euch schon sagte, auf seinem Blechkoffer, den ungeladenen Revolver auf dem Schoß. Er saß vorsichtig da – was natürlich furchtbar ermüdend ist – und fuhr so in das Land hinein, das er von den blauen Berggipfeln bis zu dem Band aus weißem Gischt an der Küste mit dem Ruhm seiner Tugenden zu erfüllen bestimmt war. Bei der ersten Biegung verlor er das Meer mit seinen kreißenden, ewig steigenden, sinkenden und wieder sich erhebenden Wellen – das Bild der kämpfenden Menschheit – aus den Augen und befand sich den unbeweglichen, tief in der Erde eingewurzelten Wäldern gegenüber, die in den Sonnenschein hineinragen, in der unergründlichen Macht ihrer Überlieferung unbegrenzt wie das Leben selbst. Und sein Glück saß verschleiert an seiner Seite, wie eine morgenländische Braut, die darauf wartet, von der Hand ihres Herrn enthüllt zu werden. Auch er war der Erbe einer unergründlichen, mächtigen Überlieferung! Er sagte mir aber, daß er sich in seinem ganzen Leben nie so müde und niedergeschlagen gefühlt habe wie in jenem Kanu. Die einzige Bewegung, die er sich gestattete, war, sich sozusagen verstohlen nach der Schale einer halben Kokosnuß zu bücken und mit sorgfältig bemessener Körperhaltung das Wasser auszuschöpfen. Er machte die Entdeckung, wie schlecht sich der Deckel eines Blechkoffers als Sitz eignet. Er hatte eine heldenhafte Gesundheit; aber mehrmals während dieser Fahrt hatte er Schwindelanfälle und stellte zuweilen unsichere Vermutungen über die Größe der Blase auf, die die Sonne auf seinem Rücken zusammenzog. Zum Zeitvertreib suchte er festzustellen, ob die schmutzigen Gegenstände, die er ab und zu voraus am Rande des Wassers liegen sah, Klötze oder Alligatoren wären. Doch mußte er es bald aufgeben. Es war kein Spaß. Es war immer ein Alligator. Einer von ihnen plumpste in den Fluß und brachte das Kanu beinahe zum Kentern. Doch diese Aufregung ging bald vorüber. Dann, nach einer langen, leeren Zeitspanne, war er einem Rudel Affen sehr dankbar, die ans Ufer heruntersprangen und ihm ein fürchterlich lärmendes Geschimpfe nachsandten. So also steuerte er der Größe zu, die doch so echt war wie irgendeine, die ein Mensch je errungen hat. Vor allem sehnte er sich nach dem Sonnenuntergang; und mittlerweile machten sich seine drei Ruderer zur Ausführung ihres Plans bereit, ihn dem Rajah auszuliefern.

»Ich muß wohl vor Müdigkeit blödsinnig gewesen sein, oder vielleicht hatte ich ein wenig gedöst«, sagte er. Das erste, dessen er sich bewußt wurde, war, daß sein Kanu anlegte. Er wurde augenblicklich gewahr, daß die Wälder zurückgeblieben und weiter oben die ersten Häuser sichtbar waren, daß sich zu seiner Linken Palisaden hinzogen und seine Bootsleute an einer niederen Stelle an Land sprangen und die Flucht ergriffen. Unwillkürlich sprang er ihnen nach. Zuerst glaubte er, daß sie ihn aus einem unbegreiflichen Grunde im Stich gelassen hätten; aber er hörte erregte Ausrufe, ein Tor öffnete sich weit, und eine Schar Menschen strömte heraus und auf ihn zu. Zur gleichen Zeit erschien ein Boot voll bewaffneter Männer auf dem Fluß, legte sich neben sein leeres Kanu und schnitt ihm so den Rückzug ab.

»Ich war zu verdutzt, um ganz kühl zu sein, müssen Sie wissen, und wenn der Revolver geladen gewesen wäre, hätte ich auf ein paar geschossen, und dann wäre es mit mir aus gewesen. Aber er war nicht geladen...« – »Warum nicht?«, fragte ich. – »Nun, ich konnte doch nicht die ganze Bevölkerung angreifen, und es sollte auch nicht so aussehen, als wäre ich für mein Leben bange«, sagte er, mit einem schwachen Schimmer seines störrischen Trotzes im Blick. Ich unterließ den Hinweis, die Leute hätten ja nicht wissen können, daß die Patronen fehlten. Man mußte ihm seinen Willen lassen... »Kurzum, er war nicht geladen«, wiederholte er, »und so blieb ich ruhig stehen und fragte sie, was los sei. Davon schienen sie wie vor den Kopf geschlagen. Ich sah, wie ein paar sich mit meinem Blechkoffer aus dem Staube machten. Der langbeinige alte Gauner Kassim (ich werde ihn Ihnen morgen zeigen) lief mit großem Getue auf mich zu; der Rajah wünsche mich zu sehen. Ich sagte: ›Schon gut'; ich wollte ebenfalls den Rajah sehen, und so schritt ich einfach zum Tor hinein, und – und – hier bin ich.« Er lachte und fragte dann mit unerwartetem Nachdruck: »Und wissen Sie, was das Beste daran ist? Ich will es Ihnen sagen. Es ist das Bewußtsein, daß, wenn man mich beseitigt hätte, der verlierende Teil dieser Ort gewesen wäre.«

So sprach er zu mir vor seinem Hause, an dem bewußten Abend – nachdem wir dem Mond zugesehen hatten, der wie ein aus dem Grabe aufgestiegener Geist über der Kluft zwischen den Hügeln dahinschwebte. Sein Schein fiel kalt und fahl herab wie totes Sonnenlicht. Es liegt etwas Spukhaftes im Mondschein; er hat die ganze Kühle einer körperlosen Seele und etwas von ihrem unbegreiflich Geheimnisvollen. Er verhält sich zu unserem Sonnenschein, der allein – sagt, was ihr wollt – uns Leben gibt, wie das Echo zum Ton: irreführend und verwirrend, gleichviel ob der Ruf spöttisch oder traurig ist. Er beraubt alles Dingliche – das doch schließlich unser Bereich ist – seines Gehalts und verleiht nur den Schatten eine düstere Wirklichkeit. Und die Schatten um uns herum waren sehr wirklich, doch Jim an meiner Seite sah so stark aus, als könnte ihn nichts – nicht einmal die geheime Kraft des Mondlichts – in meinen Augen seiner Wirklichkeit berauben. Vielleicht konnte ihn ja tatsächlich nichts mehr berühren, nachdem er den Angriff der dunklen Gewalten überlebt hatte. Alles ruhte, alles war still; selbst auf dem Fluß schliefen die Mondenstrahlen wie auf einem Teich. Es war Hochwasserzeit, ein Augenblick völliger Reglosigkeit, in dem die Vereinsamung dieses verlorenen Erdenwinkels noch stärker wirkte. Die Häuser, die sich längs der weiten, glänzenden, völlig glatten Wasserfläche aneinanderdrängten, in einer Reihe schwankender, undeutlicher, silbriger, mit schwarzen Schattenmassen vermischter Formen, waren wie eine gespenstische Herde gestaltloser Wesen, die sich nach vorn neigten, um aus einem geisterhaften, leblosen Strom zu trinken. Hier und da funkelte ein rotes Licht zwischen den Bambuswänden, das in seiner lebendigen Wärme an menschliche Liebe, an Obdach und Ruhe gemahnte.

Er gestand mir, daß er oft beobachtete, wie diese warmen kleinen Lichter, eins nach dem andern, erloschen, daß er es zu sehen liebte, wie die Menschen unter seinen Augen schlafen gingen, auf die Sicherheit des Morgen vertrauend. »Friedlich hier. He?« fragte er. Er war nicht beredt, aber es lag eine tiefe Bedeutung in den Worten, die folgten: »Sehen Sie sich diese Häuser an; kein einziges darunter, in dem man mir nicht vertraut. Beim Himmel! Ich habe Ihnen gesagt, ich würde durchhalten. Fragen Sie Mann, Frau oder Kind...« Er stockte. »Nun, mit mir ist alles in Ordnung, so oder so.«

Ich warf sofort ein, daß er also endlich dahintergekommen sei. Ich hätte es vorher gewußt, fügte ich hinzu. »Wirklich?« Er drückte meinen Arm leicht über dem Ellbogen. »Nun also. – Sie hatten recht.«

Es lag Gehobenheit und Stolz, beinahe Ehrfurcht in diesem leisen Ausruf. »Himmel!« rief er. »Stellen Sie sich vor, was das für mich ist.« Wieder drückte er meinen Arm. »Und Sie fragten mich, ob ich ans Weggehen dächte! Gott im Himmel! Ich! Weggehen! Besonders jetzt, nach dem, was Sie mir von Herrn Stein gesagt haben... Weggehen! Ich bitte Sie! Das habe ich ja gefürchtet. Es wäre schlimmer gewesen – schlimmer als der Tod. Nein – auf mein Wort. Lachen Sie nicht. Jeden Tag, jedesmal, wenn ich die Augen aufmache, muß ich fühlen, daß man mir vertraut – daß niemand ein Recht hat – verstehen Sie nicht? Weggehen? Wohin? Wozu? Was sollte ich dagegen eintauschen?«

Ich hatte ihm gesagt (es war in der Tat der Hauptgrund meines Besuchs), daß Stein beabsichtigte, ihm sofort das Haus und das Warenlager zu schenken, unter gewissen, leichten Bedingungen, die diese Übertragung einwandfrei und rechtskräftig machen sollten. Erst fing er an zu schnauzen und auszuschlagen. »Zum Teufel mit Ihrer Empfindlichkeit!« schrie ich. »Sie haben da Stein gar nichts zu danken. Er gibt Ihnen nur, was Sie selbst sich geschaffen haben. Und im übrigen sparen Sie sich Ihre Bemerkungen für M'Neil, wenn Sie ihn einmal in der andern Welt antreffen. Ich hoffe, es wird nicht so bald geschehen«... Er mußte meine Beweisgründe einsehen, weil all seine Eroberungen, das Vertrauen, der Ruhm, die Freundschaften, die Liebe – all das, was ihn zum Herrn, ihn auch zum Gefangenen gemacht hatte. Er sah mit dem Auge des Besitzers auf den Frieden des Abends, den Fuß, die Häuser, das immerwährende Leben der Wälder, das Leben dieses alten Menschengeschlechts, auf die Geheimnisse des Landes, den Stolz seines eigenen Herzens; aber sie waren es, die ihn besaßen und sich zu eigen machten bis zum innersten Gedanken, der leisesten Regung des Blutes, bis zum letzten Atemzug.

Es war etwas, worauf man stolz sein konnte. Auch ich war stolz – für ihn, wenn auch nicht ganz so überzeugt von dem fabelhaften Wert dieses Tausches. Es war wundervoll. Ich dachte nicht so sehr an seine Furchtlosigkeit. Es ist seltsam, wie wenig ich sie in Anschlag brachte: als wäre sie etwas zu Herkömmliches gewesen, um den Kern der Sache bilden zu können. Nein. Mir machten die anderen Gaben weit mehr Eindruck, die er entfaltet hatte. Er hatte sich stark genug erwiesen, sich zum Herrn dieser fremdartigen Sachlage aufzuwerfen, hatte in dem neuen Wirkungsgebiet seine geistige Gewandtheit bewährt. Erstaunlich. Und all dies war ihm angeflogen, wie die feine Witterung einem Hund von edler Rasse. Er war nicht beredt, aber es lag Würde in dieser ihm eigentümlichen Zurückhaltung und ein hoher Ernst in seinem Gestammel. Er hatte noch immer seinen alten Trick trotzigen Errötens. Ab und zu jedoch entfuhr ihm ein Wort, ein Satz, der zeigte, wie tief, wie feierlich er diese Leistung empfand, die ihm die Gewißheit seiner Ehrenrettung gegeben hatte. Das war der Grund, warum er das Land und die Menschen mit einer wilden Selbstsucht, einer hochmütigen Zärtlichkeit zu lieben schien.


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