Joseph Conrad
Der Geheimagent
Joseph Conrad

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XII

Winnie Verloc, die Witwe von Herrn Verloc, die Schwester des seligen Stevie (der in Stücke gerissen worden war im Stande der Unschuld und in der Überzeugung, an einem Unternehmen zum Nutzen der Menschheit teilzunehmen), Winnie Verloc rannte nicht über die Vorzimmertür hinaus. Auch so weit war sie nur vor ein wenig tröpfelndem Blut geflohen, in einer Bewegung triebhafter Abwehr. Doch nun war sie stehen geblieben, mit stieren Augen und gesenktem Kopf. Als hätte ihre Flucht durch das enge Wohnzimmer lange Jahre gewährt, war die Frau Verloc an der Türe eine wesentlich andere Frau, als jene, die sich über das Sofa gelehnt hatte, ein wenig schwindlig, sonst aber frei, die tiefe Ruhe ihrer müßigen Unverantwortlichkeit genießend. Frau Verloc war nicht länger schwindlig. Ihr Kopf war klar. Sie war auch nicht länger ruhig. Sie fürchtete sich.

Wenn sie es vermied, in der Richtung nach ihrem ruhenden Gatten hin zu sehen, so war es nicht, weil sie sich vor ihm gefürchtet hätte. Herr Verloc war durchaus nicht furchtbar anzusehen. Ihm schien ganz wohl zu sein. Überdies war er tot. Frau Verloc gab sich keinen Hirngespinsten über die Toten hin. Nichts bringt sie zurück, weder Liebe noch Haß. Sie können einem nichts tun. Sie sind nichtig. In ihrem Innern herrschte eine Art erhabene Verachtung für den Mann dort, der sich so leicht hatte töten lassen. Er war das Haupt eines Haushalts gewesen, der Gatte einer Frau und der Mörder ihres Stevie. Und nun war er in jeder Hinsicht ohne alle Bedeutung. Er kam noch weit weniger in Betracht, als die Kleider auf seinem Leibe, als sein Überrock, seine Stiefel – als der Hut, der dort auf dem Boden lag. Er war nichts. Er war nicht wert, daß man hinsah. Er war auch nicht länger mehr der Mörder des armen Stevie. Der einzige Mörder, der im Zimmer gefunden werden mußte, wenn Leute kamen, um nach Herrn Verloc zu sehen, war – sie selbst!

Ihre Hände flogen so, daß sie zweimal vergeblich versuchte, ihren Schleier wieder umzubinden. Die müßige Unverantwortlichkeit war ihr vergangen. Sie fürchtete sich. Herrn Verlocs Tötung war mit einem Stoß geschehen. Damit hatte sie sich von den angesammelten Schreien befreit, die in ihrer Kehle staken, von den ungeweinten Tränen in ihren heißen Augen, von der irren Wut über die grausame Rolle, die dieser Mann gespielt hatte (der nun weniger als nichts war), als er sie ihres Jungen beraubte. Der Stoß war ohne klares Bewußtsein geführt worden. Das Blut aber, das von dem Messergriff auf den Boden niedertropfte, hatte einen klaren Mordfall daraus gemacht. Frau Verloc, die es immer vermieden, den Dingen auf den Grund zu sehen, war nun gezwungen, dieser Sache ganz auf den Grund zu gehen. Dabei sah sie kein vorwurfsvolles Gesicht, keinen mahnenden Schatten, kein Sinnbild der Reue oder Verklärung. Sie sah einen Gegenstand. Und das war der Galgen. Frau Verloc fürchtete sich vor dem Galgen.

Sie machte sich ein besonderes Schreckbild davon. Da ihr jenes letzte Mittel menschlicher Gerechtigkeit nie vor Augen gekommen war, außer in den Holzschnitten, die einer gewissen Art von Erzählungen beigegeben sind, so sah sie den Galgen zunächst gegen einen stürmischen Himmel ragen, mit Ketten und Gerippen behängt und von Vögeln umflattert, die den Toten die Augen aushacken. Das war schreckhaft genug, doch Frau Verloc, wenn auch nicht hochgebildet, kannte die Einrichtungen ihres Landes doch zur Genüge, um zu wissen, daß Galgen nicht mehr an den Ufern düsterer Flüsse oder auf sturmumwehten Hügelkuppen errichtet werden, sondern in den Höfen von Gefängnissen. Da, zwischen vier hohen Mauern, wie in einem Brunnen, wurde ums Morgengrauen der Verbrecher herausgeführt, um mit entsetzlicher Bedachtsamkeit hingerichtet zu werden und, wie die Zeitungen immer sagten, »in Gegenwart der Behörden«. Während ihre Augen am Boden hafteten, ihre Nüstern in Angst und Scham bebten, sah sie sich selbst mitten in einer Schar von fremden Herren in Seidenhüten, die ruhigen Bluts an das Geschäft gingen, sie am Halse aufzuhängen. Das – niemals! Niemals! Und wie wurde es gemacht? Die Unmöglichkeit, sich die Einzelheiten dieser ruhigen Hinrichtung vorzustellen, steigerte ihre losgelöste Angst bis zum Irrsinn. Die Zeitungen brachten niemals irgendwelche Einzelheiten, ausgenommen die eine, die allerdings regelmäßig am Schlusse der mageren Berichte auftauchte. Frau Verloc erinnerte sich gut daran. Ein brennender Schmerz durchzuckte ihr Hirn, als würden ihm die Worte: »die Fallhöhe betrug vier Meter« mit heißer Nadel eingeritzt. »Die Fallhöhe betrug vier Meter.« Diese Worte übten sogar körperliche Wirkung aus. Ihre Kehle begann sich krampfhaft zusammenzuziehen, um der Erwürgung zu entgehen; und das Sturzgefühl war so lebhaft, daß sie mit beiden Händen nach ihrem Kopf faßte, als wollte sie ihn davor bewahren, von den Schultern gerissen zu werden. »Die Fallhöhe betrug vier Meter.« Nein! Das durfte nicht sein! Das konnte sie nicht ertragen. Nicht einmal den Gedanken daran. Sie konnte nicht länger daran denken. Darum faßte Frau Verloc den Entschluß, augenblicklich hinzugehen und sich von einer der Brücken in den Fluß hinunterzustürzen.

Diesmal gelang es ihr, den Schleier zu befestigen. Sie stand da, das Gesicht wie unter einer Maske, ganz schwarz von Kopf bis zu Fuß, bis auf die paar Blumen auf ihrem Hut, und sah nach der Uhr. Die mußte wohl stehengeblieben sein. Sie konnte nicht glauben, daß nur zwei Minuten vergangen sein konnten, seitdem sie zuletzt darnach gesehen hatte. Natürlich nicht. Sie war die ganze Zeit über nicht gegangen. Tatsächlich aber waren nur drei Minuten vergangen von dem Augenblick an, da sie zum erstenmal, nach dem Stoß, tief und frei aufgeatmet hatte, bis nun, wo Frau Verloc vor dem Entschluß stand, sich in der Themse zu ertränken. Frau Verloc konnte es nicht glauben. Sie schien gehört oder gelesen zu haben, daß Wand- und Taschenuhren immer im Augenblick der Tat stehen blieben, um zur Entdeckung des Mörders mitzuhelfen. Es war ihr gleichgültig: »Zur Brücke – und hinunter.« . . . Doch ihre Bewegungen waren langsam.

Sie schleppte sich mühselig durch den Laden und mußte sich an den Türgriff klammern, bevor sie die nötige Kraft fand zu öffnen. Die Straße erschreckte sie, da sie ja entweder zum Galgen oder zum Fluß führte. Sie taumelte über die Schwelle, den Kopf voran, die Arme ausgebreitet, wie jemand, der sich über ein Brückengeländer stürzt. Dieser Austritt ins Freie gab einen Vorgeschmack des Ertrinkens; ein feuchter Dampf umfing sie, drang in ihre Nüstern, legte sich in ihr Haar. Es regnete nicht gerade, doch hatte jede Gaslampe einen schillernden Hof von Nebel. Der Packwagen mit den Pferden war fort, und in der schwarzen Straße bildete das verhängte Fenster der Kutscherkneipe einen viereckigen, dunkelroten Lichtfleck nahe über der Pflasterhöhe. Während Frau Verloc sich darauf zuschleppte, bedachte sie, daß sie eine recht freundlose Frau war. Das war richtig, so richtig, daß sie in dem plötzlichen Verlangen, ein befreundetes Gesicht zu sehen, an niemand sonst denken konnte als an Frau Neale, die Scheuerfrau. Sie hatte keine eigenen Bekanntschaften. Gesellschaftlich würde sie von niemand vermißt werden. Man muß nicht glauben, daß die Witwe Verloc ihre Mutter vergessen hätte. Das nicht. Winnie war eine gute Tochter gewesen, weil sie eine hingebungsvolle Schwester war. Ihre Mutter hatte immer bei ihr Rückhalt gesucht. Dort war weder Trost noch Rat zu erwarten. Jetzt, da Stevie tot war, schien das Band gerissen. Sie konnte nicht mit der furchtbaren Nachricht vor die alte Frau treten. Überdies war es auch zu weit. Der Fluß war jetzt ihr Ziel. Frau Verloc versuchte, ihre Mutter zu vergessen.

Jeder Schritt kostete sie eine Willensanstrengung, die die letztmögliche schien. Frau Verloc hatte sich an dem roten Schein des Kneipenfensters vorbeigeschleppt. »Zur Brücke – und hinunter«, wiederholte sie sich mit wilder Hartnäckigkeit. Sie streckte gerade noch rechtzeitig die Hand aus, um an einem Laternenpfahl Halt zu finden. »Niemals komme ich vor dem Morgen dahin«, dachte sie. Die Todesfurcht lähmte ihre Anstrengungen, dem Galgen zu entgehen. Es schien ihr, als kämpfte sie sich schon seit Stunden durch diese Gasse vorwärts. »Niemals komme ich dahin«, dachte sie. »Sie werden mich finden, während ich noch durch die Gasse laufe. Es ist zu weit.« Sie hielt ein und keuchte unter ihrem schwarzen Schleier.

»Die Fallhöhe betrug vier Meter.«

Sie stieß den Laternenpfahl heftig von sich weg und fühlte, wie sie weiterschritt. Doch eine neue Woge von Schwäche schlug über sie weg wie eine Sturzsee und spülte ihr das Herz glatt aus der Brust. »Niemals komme ich dahin«, murmelte sie, blieb plötzlich stehen, und schwankte leise hin und her. »Niemals.«

Angesichts der völligen Unmöglichkeit, bis zur nächsten Brücke zu gehen, dachte Frau Verloc an eine Flucht ins Ausland.

Der Gedanke kam ihr plötzlich. Mörder entflohen. Sie entflohen ins Ausland. Nach Spanien oder Kalifornien. Bloße Namen. Die weite Welt, zum Ruhm der Menschheit geschaffen, war für Frau Verloc nur ein weiter, weißer Fleck. Sie wußte nicht, welchen Weg sie nehmen mußte. Mörder hatten Freunde, Verwandte, Helfer – hatten Kenntnisse. Sie hatte nichts. Sie war der einsamste aller Mörder, die je einen Todesstreich geführt hatten. Sie war alleine in London: und die ganze Stadt mit ihren Wundern und ihrem Schmutz, mit ihrem Straßengewirr und ihrer Lichtflut, schien in hoffnungslose Nacht versunken, schien auf dem Grunde eines schwarzen Abgrunds zu ruhen, aus dem emporzuklimmen eine Frau ohne Hilfe nicht hoffen durfte.

Sie schwankte nach vorne und stürzte nochmals blindlings vor, in der quälenden Angst niederzufallen; nach wenigen Schritten aber empfand sie unerwartet das Gefühl von Halt und Sicherheit. Als sie den Kopf hob, sah sie, daß ein Mann dicht unter ihren Schleier spähte. Genosse Ossipon fürchtete sich nicht vor fremden Frauen, und kein falsches Feingefühl konnte ihn davon abhalten, die Bekanntschaft einer offenbar schwer betrunkenen Frau zu suchen. Genosse Ossipon hatte Geschmack an Frauen. Diese hier hielt er zwischen seinen beiden großen Händen aufrecht und maß sie mit geschäftlichem Blick, bis er sie flüstern hörte: »Herr Ossipon!« Da hätte er sie fast zu Boden fallen lassen.

»Frau Verloc!« rief er aus, »Sie hier!«

Es schien ihm undenkbar, daß sie getrunken haben sollte. Aber man weiß ja nie. Er ging auf die Frage nicht weiter ein, sondern versuchte, sie an seine Brust zu ziehen, in dem Bestreben, das gütige Geschick nicht zu erzürnen, das ihm die Witwe des Genossen Verloc so in die Hände spielte. Zu seiner Verwunderung gab sie gerne nach und ruhte sogar einen Augenblick in seinem Arm, bevor sie sich freizumachen versuchte. Genosse Ossipon wollte gegen das gütige Geschick nicht unhöflich sein. Er zog ganz natürlich seinen Arm zurück.

»Sie haben mich wiedererkannt«, stammelte sie und blieb auf unsicheren Beinen vor ihm stehen.

»Natürlich tat ich das«, sagte Ossipon mit größter Bereitwilligkeit. »Ich fürchtete, Sie würden stürzen. Ich habe in letzter Zeit zu oft an Sie gedacht, um Sie nicht immer und überall zu erkennen. Ich habe immer an Sie gedacht – seit ich Sie zuerst gesehen habe.«

Frau Verloc schien nicht zu hören. »Sie wollten in den Laden kommen?« fragte sie fahrig.

»Ja; sofort«, antwortete Ossipon. »Unmittelbar nachdem ich die Zeitung gelesen hatte.«

Tatsächlich hatte sich Genosse Ossipon gut zwei Stunden in der Nachbarschaft der Brett Street herumgetrieben, unfähig, einen raschen Entschluß zu fassen. Der muskelstarke Anarchist war nicht eben ein kühner Eroberer. Er erinnerte sich, daß Frau Verloc niemals auf seine Blicke auch nur mit dem kleinsten ermutigenden Zeichen geantwortet hatte. Überdies dachte er, der Laden könnte von der Polizei überwacht sein; und Genosse Ossipon wünschte nicht, der Polizei eine übertriebene Meinung von seinen revolutionären Neigungen beizubringen. Auch jetzt wußte er nicht genau, was zu tun war. Im Vergleich mit seinen gewöhnlichen Liebesgeschichten war dies ein großes und ernsthaftes Unternehmen. Er wußte nicht, wie viel daran war und wie weit er würde gehen müssen, um das zu kriegen, was zu kriegen war – vorausgesetzt, daß überhaupt etwas zu kriegen war. Diese Ratlosigkeit hemmte seinen Schwung und gab seinem Tone eine Nüchternheit, die gut zu den Umständen paßte.

»Darf ich fragen, wohin Sie gehen?« fragte er halblaut.

»Fragen Sie nicht«, schrie Frau Verloc mit einem mühsam unterdrückten Schauer. Ihre ganze, wilde Lebenskraft wehrte sich gegen den Gedanken an den Tod. »Ganz gleich, wohin ich wollte . . .«

Ossipon schloß daraus, daß sie unerhört aufgeregt, aber ganz nüchtern war. Sie blieb eine Weile schweigend an seiner Seite, tat aber dann plötzlich etwas, was er nicht erwartet hatte. Sie schob ihre Hand unter seinen Arm. Er war von der Tatsache selbst überrascht, aber nicht minder von der fühlbaren Entschlossenheit der Bewegung. Da dies aber eine zarte Angelegenheit war, so benahm sich Genosse Ossipon mit aller Zartheit. Er begnügte sich damit, die Hand leise an seine gewaltigen Rippen zu drücken. Zur gleichen Zeit fühlte er sich vorwärtsgedrängt und gab dem Drängen nach. Am Ende der Brett Street fühlte er, daß er nach links sollte, und folgte.

Der Obsthändler an der Ecke hatte die glühende Farbenpracht seiner Orangen und Zitronen verhüllt, und Brett Place lag im Dunkeln, nur gesprenkelt durch die Nebelhöfe um die wenigen Lampen, die seine dreieckige Form erraten ließen, und mit einer Traube von drei Lampen an einem Pfosten in seiner Mitte. Die dunklen Gestalten des Mannes und der Frau glitten langsam, Arm in Arm, den Wänden entlang und erweckten in der trostlosen Nacht den Eindruck von Liebenden ohne ein Heim.

»Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen erzählte, daß ich dabei war, Sie aufzusuchen?« fragte Frau Verloc und umklammerte seinen Arm.

»Ich würde sagen, daß Sie niemand finden könnten, der freudiger bereit wäre, Ihnen in Ihrem Kummer beizustehen«, antwortete Ossipon in dem Bewußtsein, daß er rasende Fortschritte machte. Tatsächlich verging ihm bei dem Tempo dieser heiklen Geschichte fast der Atem.

»In meinem Kummer«, wiederholte Frau Verloc langsam.

»Jawohl.«

»Und wissen Sie, was mein Kummer ist?« flüsterte sie mit sonderbarer Eindringlichkeit.

»Zehn Minuten, nachdem ich die Abendblätter gelesen hatte,« erklärte Ossipon feurig, »traf ich einen Burschen, den Sie vielleicht ein- oder zweimal in dem Laden gesehen haben mögen, und hatte ein Gespräch mit ihm, das mir nicht den geringsten Zweifel mehr ließ. Dann machte ich mich auf und fragte mich, ob Sie – – Ich habe Sie mehr geliebt, als ich sagen kann, schon seitdem ich Sie zum erstenmal gesehen hatte«, rief er aus, als könnte er seine Gefühle nicht länger bezähmen.

Genosse Ossipon nahm mit Recht an, daß keine Frau imstande war, einer solchen Versicherung gar keinen Glauben zu schenken. Doch wußte er nicht, daß Frau Verloc sie mit all der Gier aufnahm, die der Selbsterhaltungstrieb dem Zugriff des Ertrinkenden verleiht. Der Witwe des Herrn Verloc erschien der muskelstarke Anarchist wie ein strahlender Bote des Lebens.

Sie gingen langsam weiter, in gleichem Schritt. »Ich dachte es«, murmelte Frau Verloc schwach.

»Sie haben es in meinen Augen gelesen«, vermutete Ossipon mit großer Bestimmtheit.

»Ja«, hauchte sie in sein geneigtes Ohr.

»Eine Liebe wie die meine konnte einer Frau wie Ihnen nicht verborgen bleiben«, fuhr er fort und versuchte sich dabei materielle Betrachtungen fernzuhalten, wie zum Beispiel den Wert des Ladens und die Höhe des Geldbetrags, den Herr Verloc auf der Bank haben mochte. Er verlegte sich auf die Gefühlsseite der Angelegenheit. Im tiefsten Herzen war er über seinen Erfolg ein klein wenig sittlich entrüstet. Verloc war ein guter Kerl gewesen und gewiß ein sehr anständiger Gatte, soweit man es beurteilen konnte. Doch so oder so wollte Genosse Ossipon seinem Glück, einem toten Mann zuliebe, gewiß nicht aus dem Wege gehen. Entschlossen unterdrückte er sein Mitgefühl mit dem Geist des Genossen Verloc und fuhr fort:

»Ich konnte es nicht verbergen. Ich war zu sehr erfüllt von Ihnen. Ich glaube wohl, daß Sie es in meinen Augen sehen mußten. Doch ich konnte es nicht ahnen. Sie waren immer so fern . . .«

»Was sonst haben Sie erwartet?« fuhr Frau Verloc auf. »Ich war eine anständige Frau.«

Sie unterbrach sich und fügte dann wie im Selbstgespräch düster hinzu: »Bis er mich zu dem gemacht hat, was ich bin.«

Ossipon überging das und nahm den Faden wieder auf.

»Er ist mir Ihrer niemals ganz würdig erschienen«, begann er und ließ alle Kameradschaft fahren. »Sie hätten ein besseres Geschick verdient!«

Frau Verloc unterbrach ihn bitter:

»Besseres Geschick! Er hat mich um sieben Jahre meines Lebens betrogen!«

»Sie schienen so glücklich mit ihm zu leben.« Ossipon versuchte die Lauheit seines früheren Verhaltens zu entschuldigen. »Das hat mich schüchtern gemacht. Sie schienen ihn zu lieben. Ich war überrascht – und eifersüchtig.«

»Ihn lieben!« rief Frau Verloc gepreßt aus, zwischen Wut und Hohn. »Ihn lieben! Ich war ihm eine gute Gattin. Ich bin eine anständige Frau. Sie dachten, ich liebte ihn! Sie! Sieh doch, Tom – –«

Der Klang dieses Namens kitzelte den Stolz des Genossen Ossipon, denn sein Rufname war Alexander, und nur im engsten Freundeskreise wurde er Tom genannt. Es war ein Freundesname – für Augenblicke der Hingabe. Er hatte keine Ahnung, daß sie ihn je von irgend jemand hatte nennen hören. Es war offenbar, daß sie ihn nicht nur aufgegriffen, sondern in ihrem Gedächtnis, vielleicht in ihrem Herzen gehütet hatte.

»Sieh doch, Tom, ich war ein junges Mädchen, am Ende meiner Kräfte. Ich war müde. Ich hatte zwei Leute, die auf meine Arbeit angewiesen waren, und es schien mir, als könnte ich nicht weiterarbeiten. Zwei Leute – die Mutter und den Jungen. Er gehörte weit mehr mir als der Mutter. Ich hielt ihn nächte- und nächtelang auf dem Schoß, ganz alleine im Oberstock, als ich selbst kaum älter war als acht Jahre. Und dann – er war mein, sage ich dir . . . Du kannst das nicht verstehen. Kein Mann kann es verstehen. Was sollte ich tun? Da war ein junger Bursche . . .«

Die Erinnerung an den frühen Roman mit dem jungen Metzger lebte auf, hartnäckig wie das Bild eines zerstörten Ideals, in diesem Herzen, das aus Angst vor dem Galgen bebte und sich wütend gegen den Tod wehrte.

»Das war der Mann, den ich damals liebte«, fuhr Herrn Verlocs Witwe fort. »Ich nehme an, daß auch er es in meinen Augen sehen konnte. Fünfundzwanzig Schilling pro Woche; und sein Vater drohte ihn aus dem Geschäft hinauszuwerfen, wenn er verrückt genug wäre, ein Mädel zu heiraten, das eine bresthafte Mutter und einen blödsinnigen Bruder auf dem Halse hatte. Er wollte trotzdem nicht von mir lassen, bis ich eines Abends die Kraft fand, ihm die Türe vor der Nase zuzuschlagen. Das mußte ich tun. Ich liebte ihn zärtlich. Fünfundzwanzig Schilling die Woche! Dann war da der andere Mann – ein guter Mieter. Was sollte ein Mädchen tun? Konnte ich auf die Straße gehen? Er schien gütig. Jedenfalls wollte er mich haben. Was sollte ich tun, mit der Mutter und dem armen Jungen? Was sollte ich tun? Ich sagte ja. Er schien gutartig, er war freigebig, er hatte Geld. Er sagte niemals etwas. Sieben Jahre – sieben Jahre eine gute Gattin, ihm, dem gütigen, dem großmütigen, dem – Und er liebte mich. O ja. Er liebte mich, bis ich mitunter selbst manchmal wünschte – sieben Jahre. Sieben Jahre sein Weib. Und weißt du, was er war, dein teurer Freund? Weißt du, was er war? . . . Er war ein Teufel!«

Die übermenschliche Wucht dieser geflüsterten Feststellung verblüffte den Genossen Ossipon völlig. Winnie Verloc fuhr herum, hielt ihn an beiden Armen und sah ihm ins Gesicht; sah ihm ins Gesicht, in der einsamen Dunkelheit von Brett Place, durch den sinkenden Nebel, in dem alle Geräusche des Lebens sich zu verlieren schienen, wie in einem dreieckigen Brunnen aus Asphalt und Ziegeln, aus blinden Häusern und fühllosen Steinen.

»Nein, das wußte ich nicht«, erklärte Ossipon mit einem blitzdummen Gesicht, dessen Komik aber verschwendet war, bei einer Frau, die unter der Angst vor dem Galgen litt. »Jetzt aber weiß ich's, ich – ich verstehe«, flunkerte er und überlegte dabei, welcher Art Neigungen Verloc unter der schläfrigen, geruhigen Oberfläche seines Ehelebens gefrönt haben mochte. Das war tatsächlich grausig. »Ich verstehe«, wiederholte er und stieß dann in plötzlicher Aufwallung hervor: »Unglückliche Frau!« voll reinen Mitgefühls, anstatt des mehr vertraulichen »Armer Liebling!« das er sonst zu gebrauchen pflegte. Das war kein gewöhnlicher Fall. Er war sich bewußt, daß etwas Außergewöhnliches vorging, und ließ die Größe des Ziels nicht aus den Augen. »Unglückliche, brave Frau!«

Er freute sich über die neuentdeckte Abwechslung, konnte aber nichts anderes mehr finden. »Aber jetzt ist er tot«, war alles, was ihm einfiel. Und in den vorsichtigen Ausruf legte er ein beträchtliches Maß von Feindseligkeit. Frau Verloc griff beinahe fieberhaft nach seinem Arm. »So hast du also erraten, daß er tot ist«, flüsterte sie ganz außer sich. »Du! Du hast erraten, was ich tun mußte! Tun mußte!«

In dem unbestimmbaren Ton dieser Worte klang Frohlocken, Erlösung und Dankbarkeit mit. Ossipons Aufmerksamkeit wurde weit über die Grenze seines sonstigen Künstlerstolzes hinaus angespannt. Er fragte sich, was wohl mit ihr los war, warum sie sich in diesen Zustand wilder Erregung hineingesteigert hatte. Er begann sogar sich zu fragen, ob nicht die ganze Sache in Greenwich Park in der unglücklichen Ehe der Verlocs ihren Grund hatte. Er ging so weit, Herrn Verloc zu verdächtigen, daß er diese außergewöhnliche Art des Selbstmordes gewählt habe. Bei Gott, das konnte die völlige Sinnlosigkeit und Torheit des Anschlages erklären! Eine anarchistische Kundgebung war nach Lage der Dinge nicht erfordert. Ganz im Gegenteil; und Verloc wußte das so genau wie jeder andere Revolutionär seines Grades. Was mußte es für einen Spaß geben, wenn Verloc einfach ganz Europa zum Narren gehalten hatte, die revolutionäre Welt, die Polizei, die Presse und den griesgrämigen Professor noch dazu. Tatsächlich, dachte Ossipon verwundert, schien es fast sicher, daß er das getan hatte! Armer Teufel! Plötzlich leuchtete ihm auch die Möglichkeit ein, daß von den zwei Eheleuten vielleicht nicht gerade der Mann der Teufel gewesen war.

Alexander Ossipon, mit dem Spitznamen der Doktor, war von Natur zu nachsichtigem Urteil über seine Freunde geneigt. Er sah nach Frau Verloc, die an seinem Arm hing. Über seine Freundinnen urteilte er in erster Linie von praktischen Gesichtspunkten aus. Frau Verlocs Entzücken über sein Wissen um Herrn Verlocs Tod, der ja durchaus kein Rätselraten gebraucht hatte, beschäftigte ihn nicht übermäßig. Sie redeten oft wie die Narren. Er war aber neugierig, wie sie davon erfahren haben mochte. Die Zeitungen konnten ihr nichts gesagt haben, außer der blanken Tatsache: daß der in Greenwich Park zerrissene Mann nicht erkannt worden war. Es war auf keine Weise denkbar, daß Verloc ihr etwa seine Absicht – welche es auch gewesen sein mochte – angedeutet haben konnte. Diese Frage reizte den Genossen Ossipon ungemein. Er blieb kurz stehen. Sie hatten die drei Seiten von Brett Place abgeschritten und waren wieder nahe bei der Mündung der Brett Street.

»Wie hast du es zuerst erfahren?« fragte er, in einem Ton, den er den Enthüllungen der Frau anzupassen suchte.

Sie schauderte heftig, bevor sie mit klangloser Stimme antworten konnte: »Durch die Polizei. Ein Hauptinspektor kam. Hauptinspektor Heat nannte er sich. Er zeigte mir eine –«

Frau Verloc würgte. »O Tom, sie mußten ihn mit einer Schaufel zusammenkratzen.«

Ihre Brust bebte von trockenem Schluchzen. Im Augenblick fand Ossipon die Sprache wieder.

»Die Polizei! Willst du sagen, daß die Polizei schon da war? Daß Hauptinspektor Heat persönlich es dir sagen kam?«

»Ja«, bestätigte sie mit derselben klanglosen Stimme. »Er kam. Gerade so. Er kam. Ich wußte nichts. Er zeigte mir einen Fetzen vom Überrock und – Gerade so. ›Kennen Sie das‹, sagte er.«

»Heat! Heat! Und was tat er?«

Frau Verloc ließ den Kopf sinken. »Nichts. Er tat nichts. Er ging weg. Der Mann hatte die Polizei auf seiner Seite«, murmelte sie trostlos. »Es kam auch noch ein anderer.«

»Ein anderer – ein anderer Inspektor?« fragte Ossipon in größter Erregung, ganz im Ton eines erschreckten Kindes.

»Ich weiß nicht. Er kam. Er sah wie ein Ausländer aus. Vielleicht war es einer von den Gesandtschaftsleuten.«

Genosse Ossipon brach unter dem neuen Schlag fast zusammen.

»Gesandtschaft! Weißt du denn, was du da sagst? Welche Gesandtschaft? Was in aller Welt meinst du mit Gesandtschaft?«

»Die in Chesham Square. Die Leute, die er so verfluchte. Ich weiß nicht. Was ist denn auch dabei?«

»Und der Mensch – was tat er oder sagte er dir?«

»Ich erinnere mich nicht . . . nichts . . . es ist mir gleich. Frage mich nicht«, bat sie müde.

»Schon gut. Ich will's nicht mehr tun«, gab Ossipon zärtlich nach, und das war ehrlich gemeint, nicht etwa weil er von der bittenden Stimme gerührt war, sondern weil er den Boden unter seinen Füßen schwinden fühlte, angesichts der Abgrundtiefe dieser dunklen Geschichte. Polizei! Gesandtschaft! Teufel! Aus Angst, seinen Verstand Wege gehen zu lassen, die zu erhellen sein natürliches Licht vielleicht nicht ausreichen konnte, verbannte er gewaltsam alle Vermutungen, Annahmen und Grübeleien aus seinem Kopf. Da war die Frau, die sich ihm geradezu an den Hals geworfen hatte, und das war die Hauptsache. Nach allem, was er gehört, konnte ihn aber nichts mehr überraschen, und als ihn Frau Verloc, wie plötzlich aus einem schönen Traum geschreckt, wild anflehte, sofort mit ihr aufs Festland zu fliehen, da fuhr er durchaus nicht auf. Er sagte nur mit echtem Bedauern, daß vor dem nächsten Morgen kein Zug ginge, und blieb stehen. Im Scheine einer Gaslampe, die in einem Nebelschleier steckte, sah er gedankenvoll in ihr schwarz verschleiertes Gesicht.

Dicht neben ihm verlor sich ihre Gestalt in der Nacht, wie eine Figur, die aus einem schwarzen Steinblock halb herausgemeißelt ist. Es war unmöglich zu sagen, was sie wußte, wie weit sie mit Polizei und Gesandtschaft verbündet war. Wollte sie aber fort, so war es nicht seine Sache, ihr zu widersprechen. Er selbst wünschte sich fort. Er fühlte, daß dieser Laden, Hauptinspektoren und Mitgliedern fremder Gesandtschaften so vertraut, für ihn selbst nicht der rechte Platz war. Den mußte man fahren lassen. Aber da war ja noch das andere. Die Ersparnisse, das Geld!

»Du mußt mich bis zum Morgen irgendwo verstecken«, sagte sie furchtsam.

»Die Sache ist die, meine Liebe, daß ich dich nicht zu mir nehmen kann. Ich teile das Zimmer mit einem Freunde.«

Er fürchtete sich selbst ein wenig. Morgen würden die verdammten Kriminaler gewiß an allen Bahnhöfen stehen, und wenn die sie einmal in die Hände bekamen, aus dem oder jenem Grund, dann war sie ihm tatsächlich verloren.

»Du mußt aber. Hast du mich denn gar nicht lieb, gar nicht ein bißchen lieb?« fragte sie. »Woran denkst du?«

Das klang heftig, doch ließ sie ihre Hand entmutigt niedersinken. Sie schwieg, während der Nebel fiel und die Dunkelheit ungehemmt über Brett Place herrschte. Keine Seele, nicht einmal die irrende, verliebte Seele einer Katze, kam in die Nähe des Mannes und der Frau, die einander ansahen.

»Vielleicht wäre es möglich, irgendwo eine sichere Unterkunft zu finden«, sagte Ossipon schließlich. »Die Wahrheit ist aber, meine Liebe, daß ich nicht genug Geld habe, um es versuchen zu können – nur einige Pence. Wir Revolutionäre sind nicht reich.«

Er hatte fünfzehn Schillinge in der Tasche. Und nun fuhr er fort:

»Und dann haben wir die Reise vor uns – als erstes gleich am Morgen.«

Sie regte sich nicht, gab keinen Laut, und dem Genossen Ossipon sank der Mut. Augenscheinlich hatte sie keine Anregung zu geben. Plötzlich griff sie nach ihrer Brust, als hätte sie dort einen scharfen Schmerz empfunden.

»Aber ich,« hauchte sie, »ich habe Geld. Ich habe Geld genug. Tom! Komm fort von hier!«

»Wieviel hast du?« fragte er, ohne sich vom Fleck zu rühren; denn er war ein vorsichtiger Mann.

»Ich habe das Geld, sage ich dir, das ganze Geld.«

»Was meinst du damit? Das ganze Geld, das auf der Bank war? Oder was?« sagte er ungläubig, doch entschlossen, sich von keinem Glücksfall überraschen zu lassen.

»Ja, ja«, sagte sie zappelig. »Alles, was da war. Ich habe alles.«

»Wie zum Teufel hast du es fertiggebracht, es jetzt schon abzuheben«, wunderte er sich.

»Er gab es mir«, murmelte sie, mit einem Male zitternd ergeben.

Genosse Ossipon hielt seine steigende Überraschung mit fester Hand nieder.

»Nun, dann – sind wir gerettet«, sagte er langsam.

Sie lehnte sich vor und sank an seine Brust. Er hieß sie willkommen. Sie hatte das ganze Geld. Ihr Hut war im Zustand merklicher Erregung; ihr Schleier ebenso. Ossipon war in seinen Gefühlsbezeugungen angemessen, aber nichts weiter. Sie nahm sie ohne Widerstreben und ohne Hingabe entgegen, gleichmütig, als wäre sie nur halb bei Besinnung. Sie machte sich aus seiner kühlen Umarmung ohne Anstrengung los.

»Du wirst mich retten, Tom«, rief sie zurückweichend, hielt ihn aber noch an den Aufschlägen seines feuchten Überrocks fest. »Mich retten! Mich verbergen! Laß sie mich nicht kriegen! Du mußt mich erst töten. Ich könnte es nicht selbst tun – ich könnte es nicht, könnte es nicht, auch nicht wegen des einen, das ich so fürchte.«

Sie war verwünscht rätselhaft, dachte er, sie begann endlose Befürchtungen in ihm zu erwecken. Er sagte verdrießlich, denn er war mit wichtigen Gedanken beschäftigt:

»Wovor zum Teufel fürchtest du dich denn?«

»Hast du denn nicht erraten, was ich tun mußte?« schrie die Frau. Abgelenkt durch die Körperlichkeit ihrer schreckhaften Gesichte, den Kopf erfüllt von peinigenden Worten, die ihr das Grauen ihrer Lage wachhielten, hatte sie ihr unzusammenhängendes Gestammel für letzte Klarheit gehalten. Ihr fehlte das Bewußtsein dafür, wie wenig sie hörbar in den abgerissenen Sätzen ausgesprochen hatte, deren Ergänzung immer nur in Gedanken erfolgt war. Sie hatte alle Erlösung einer vollen Beichte empfunden und jedem Satz des Genossen Ossipon, dessen Wissen doch nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihrem eigenen hatte, eine besondere Meinung untergeschoben. »Hast du nicht erraten, was ich tun mußte?« Ihre Stimme sank. »Dann brauchtest du nicht länger zu raten, wovor ich mich fürchte«, fuhr sie in bitterem Schmerz fort. »Ich will es nicht. Ich will nicht. Ich will nicht. Ich will nicht. Du mußt versprechen, mich vorher zu töten!« Sie schüttelte die Aufschläge seines Rocks. »Es darf nicht sein!«

Er versicherte ihr kurz, daß von seiner Seite keine Zusage nötig sei, nahm sich aber wohl in acht, ihr ausdrücklich zu widersprechen, denn er hatte viel mit aufgeregten Frauen zu tun gehabt und liebte es, seine Haltung von seiner Erfahrung bestimmen zu lassen, anstatt seinen Witz immer von neuem an jeden Fall zu wenden. In diesem Fall war sein Witz in anderer Richtung tätig. Die Worte einer Frau fielen ins Wasser, die Mängel eines Fahrplans aber blieben. Es kam ihm gehässig zum Bewußtsein, daß England eine Insel ist. »Man könnte ebensogut jede Nacht hinter Schloß und Riegel gesetzt werden«, dachte er böse und war so außer sich, als sollte er mit der Frau auf seinem Rücken über eine Mauer klettern. Plötzlich schlug er sich vor die Stirn. Nach langem Grübeln war ihm endlich der Southampton-St. Malo-Dienst eingefallen. Das Schiff ging um Mitternacht. Es gab einen Zug um zehn Uhr dreißig. Er wurde heiter und tatenfroh.

»Von Waterloo. Zeit genug. So haben wir doch noch etwas gefunden . . . Was jetzt? Das ist nicht der Weg«, wehrte er.

Frau Verloc hatte ihren Arm unter den seinen geschoben und versuchte, ihn wieder in die Brett Street hineinzuziehen.

»Ich habe vergessen, die Ladentür zuzumachen, als ich hinausging«, flüsterte sie in furchtbarer Aufregung.

Der Laden und alles, was darin war, hatte aufgehört, den Genossen Ossipon zu beschäftigen. Er wußte seine Wünsche zu zügeln. Ihm lagen die Worte auf der Zunge: »Was weiter? Laß es gehen«, doch er beherrschte sich. Er haßte Auseinandersetzungen über Kleinigkeiten. Er beschleunigte sogar erheblich den Schritt bei dem Gedanken, daß sie das Geld in der Schublade gelassen haben konnte. Seine Bereitwilligkeit aber reichte bei weitem nicht an ihre fieberische Ungeduld hin.

Der Laden schien zunächst ganz dunkel. Die Türe stand halb offen. Frau Verloc lehnte sich mit der Stirn dagegen und keuchte: »Niemand war hier. Sieh! Das Licht – das Licht im Wohnzimmer.«

Ossipon streckte den Kopf vor und sah einen schwachen Lichtschimmer ganz hinten im Laden.

»Dort ist Licht«, sagte er.

»Ich habe es vergessen«, Frau Verlocs Stimme klang schwach hinter ihrem Schleier vor. Und als er abwartend stehenblieb, um sie vorzulassen, sagte sie lauter: »Geh hinein und lösch es aus, oder ich werde verrückt.«

Er hatte keine Entgegnung auf diesen so merkwürdig begründeten Vorschlag. »Wo ist das ganze Geld?« fragte er.

»Bei mir. Geh, Tom. Schnell! Lösch es aus . . . Geh hinein«, schrie sie auf und faßte ihn von rückwärts an beiden Schultern.

Genosse Ossipon, nicht gefaßt auf eine körperliche Kraftentfaltung, flog unter ihrem Stoß weit in den Laden hinein. Er war überrascht von der Stärke der Frau, und empört über ihr Benehmen. Doch ging er nicht zurück, um ihr auf offener Straße ernste Vorwürfe zu machen. Er begann über ihr phantastisches Gehaben bestürzt zu werden. Überdies war jetzt oder nie der Zeitpunkt gekommen, der Frau gefällig zu sein. Genosse Ossipon vermied geschickt die Ecke des Ladentisches und näherte sich ruhig der verglasten Wohnzimmertüre. Da der Vorhang vor den Scheiben ein wenig zurückgezogen war, so warf er ganz natürlich einen Blick hinein, während er gerade die Türklinke niederdrückte. Er sah ganz gedankenlos hinein, ohne Absicht und ohne alle Neugier. Er sah hinein, weil es ihn gerade so ankam. Er sah hinein und entdeckte Herrn Verloc, der ruhig auf dem Sofa lag.

Ein Schrei, der aus den tiefsten Tiefen seiner Brust kam, verhallte ungehört auf dem langen Weg und wurde zu einem schlechten, krankhaften Geschmack in seinem Munde. Zu gleicher Zeit machte Genosse Ossipon innerlich einen wilden Sprung nach rückwärts. Sein Leib aber, derart ohne verstandesmäßige Führung gelassen, klammerte sich krampfhaft und gedankenlos an dem Türgriff fest. Der muskelstarke Anarchist schlotterte nicht einmal. Er starrte nur, das Gesicht dicht an die Scheibe gepreßt, mit Augen, die aus dem Kopf hervortraten. Er hätte alles darum gegeben, wegzukommen. Seine wiederkehrende Besinnung aber machte ihm klar, daß es nicht genügen würde, den Türgriff loszulassen. Was war das – Irrsinn, ein Traum oder eine Falle, in die er mit teuflischer Kunst gelockt worden war? Warum – wozu? Er wußte es nicht. Er fühlte sich frei von aller Schuld, hatte ein völlig unbeschwertes Gewissen, soweit diese Leute in Betracht kamen, und der Gedanke, daß er aus geheimnisvollen Gründen von dem Ehepaar Verloc ermordet werden sollte, fuhr ihm nicht so sehr durch den Kopf, als vielmehr durch den Magen und wieder hinaus, und hinterließ einen Anfall peinlicher Schwäche – – Übelkeit. Genosse Ossipon fühlte sich einen Augenblick lang – einen recht langen Augenblick lang – nicht sonderlich wohl. Und er starrte. Herr Verloc lag unterdessen ganz still und heuchelte aus unerfindlichen Gründen Schlaf, während sein wildes Weib die Tür bewachte – unsichtbar und lautlos in der dunklen, einsamen Gasse. War dies alles von der Polizei zurechtgemacht, um ihn, gerade ihn, zu erschrecken? Seine Bescheidenheit wies diese Erklärung zurück.

Der wahre Sinn des Bildes vor ihm ging Ossipon aber erst beim Anblick des Huts auf. Der schien ein ganz ungewöhnliches Ding, verhängnisvoll, ein Vorzeichen. Schwarz, mit der Krempe nach oben, lag er auf dem Boden vor dem Sofa, als wäre er dazu bestimmt, die Eintrittspfennige der Leute aufzunehmen, die kommen wollten, um Herrn Verloc in voller Ruhe sein häusliches Schläfchen machen zu sehen. Von dem Hut weg wanderten die Augen des muskelstarken Anarchisten zu dem verschobenen Tisch, ruhten eine Weile auf der zerbrochenen Schüssel, bekamen einen optischen Stoß, sozusagen, beim Anblick eines weißen Schimmers unter den halb geschlossenen Augenlidern des ruhenden Mannes hervor. Nun schien Herr Verloc nicht eigentlich zu schlafen, sondern nur mit gebeugtem Kopf dazuliegen und beharrlich auf seine linke Brust zu sehen. Und als Genosse Ossipon den Messergriff erblickt hatte, da wandte er sich von der Glastür ab und erbrach sich heftig.

Der Krach der Ladentür versetzte ihn in panischen Schrecken. Dieses Haus mit seinem stillen Inwohner konnte immer noch zur Falle werden – zu einer furchtbaren Falle. Genosse Ossipon hatte keinen klaren Begriff mehr davon, was mit ihm geschah. Er fuhr herum, rannte sich dabei die Kante des Ladentisches gegen die Hüfte, taumelte mit einem Schmerzensschrei und fühlte beim Klang der Ladenglocke, wie ihm die Arme unwiderstehlich an den Leib gepreßt wurden, während die kalten Lippen einer Frau hart an seinem Ohr die Worte formten:

»Schutzmann! Er hat mich gesehen.«

Er gab den Widerstand auf. Sie ließ ihn nicht frei. Ihre Hand hatte sich mit einem Gewirr von Fingern in seinen fleischigen Rücken verkrallt. Während die Schritte näher kamen, atmeten sie schnell, Brust an Brust, in harten, keuchenden Stößen, als stünden sie in tödlichem Kampf und nicht in Todesangst. Das dauerte lange.

Der diensthabende Schutzmann hatte tatsächlich etwas von Frau Verloc gesehen; da er aber aus der hellerleuchteten Straße am anderen Ende der Brett Street kam, war sie ihm nur als ein Schatten in der Dunkelheit erschienen. Und er war nicht einmal sicher, ob ein Schatten dagewesen war. Er hatte keinen Anlaß, sich zu beeilen. Als er vor den Laden kam, stellte er fest, daß er zu früher Stunde geschlossen worden war. Auch darin lag nichts Ungewöhnliches. Die Diensthabenden hatten bezüglich dieses Ladens besondere Weisung: was dort vorging, mußte, wenn es nicht grober Unfug war, unbehelligt bleiben. Alle Beobachtungen aber waren sofort zu melden. Nun war nichts zu beobachten; aus Pflichtgefühl aber und um sein Gewissen zu beruhigen, vielleicht auch wegen des zweifelhaften Schattens in der Dunkelheit, überquerte der Schutzmann die Straße und klinkte an der Tür. Das Schnappschloß, dessen Schlüssel, für immer außer Dienst, in des seligen Herrn Verlocs Brusttasche lag, hielt wie gewöhnlich stand. Während der gewissenhafte Beamte an der Türklinke rüttelte, fühlte Ossipon die kalten Lippen der Frau wieder an sein Ohr kriechen:

»Wenn er hereinkommt, töte mich – töte mich, Tom!«

Der Schutzmann ging weiter und ließ lediglich der Form halber das Licht seiner Blendlaterne über das Ladenfenster wegblitzen. Der Mann und die Frau innen standen noch einen Augenblick lang reglos, keuchend, Brust an Brust; dann lösten sich ihre Finger, ihr Arm sank langsam herab. Ossipon lehnte sich gegen den Ladentisch. Der muskelstarke Anarchist brauchte dringend einen Halt. Dies war grauenhaft. Er war fast zu erschüttert, um sprechen zu können. Schließlich brachte er aber doch ein paar klägliche Worte heraus, die zumindest zeigten, daß er seine Lage erfaßt hatte.

»Nur ein paar Minuten später, und du hättest mich geradeswegs an den Burschen mit seiner verdammten Blendlaterne hinrumpeln lassen.«

Herrn Verlocs Witwe stand reglos mitten im Laden und sagte eindringlich:

»Geh hinein und dreh' das Licht ab, Tom, es macht mich noch verrückt.«

Sie sah verschwommen seine heftig abwehrende Gebärde. Nichts in der Welt hätte Ossipon dazu bringen können, das Wohnzimmer zu betreten. Er war nicht abergläubisch, aber es war zu viel Blut auf dem Fußboden; ein großer Teich davon, rings um den Hut. Er war der Ansicht, daß er dem Leichnam da drinnen schon viel näher gekommen war, als für seinen Seelenfrieden – und für seinen Hals vielleicht gut sein mochte.

»Dann also den Gasometer! Hier! Sieh! In dieser Ecke!«

Die wuchtige Gestalt des Genossen Ossipon durchquerte schnell und schattenhaft den Laden und verschwand gehorsam in einer Ecke; doch fehlte diesem Gehorsam die Anmut. Er hantierte gereizt herum, und plötzlich ging das Licht hinter der Glastür aus, beim Klang eines gemurmelten Fluchs und eines keuchenden, halb irren Frauenseufzers. Nacht, der unvermeidliche Lohn für jede getreue menschliche Mühe auf dieser Erde, Nacht hatte sich auf Herrn Verloc gesenkt, den erprobten Revolutionär – einen von der alten Garde – den demütigen Wächter der Gesellschaft; den unschätzbaren Geheimagenten Δ aus des Barons Stott-Wartenheim Depeschen; den Diener von Gesetz und Ordnung, treu, verläßlich, genau, bewundernswert, mit vielleicht nur einer einzigen liebenswürdigen Schwäche: dem Aberglauben, um seiner selbst willen geliebt zu sein.

Ossipon tastete sich durch die stickige Luft, die nun so schwarz wie Tinte war, zum Ladentisch zurück. Die Stimme der Frau Verloc, die mitten im Laden stand, klang durch die Dunkelheit verzweifelt hinter ihm drein.

»Ich will nicht gehängt werden, Tom – ich will nicht –«

Sie brach ab. Ossipon warnte vom Ladentisch her: »Schrei nicht so«, und schien dann angestrengt nachzudenken. »Hast du das ganz allein getan?« fragte er mit hohler Stimme, doch mit dem Anschein einer überlegenen Ruhe, die Frau Verlocs Herz mit dankbarer Zuversicht in seinen kraftvollen Schutz erfüllte.

»Ja«, flüsterte sie unsichtbar.

»Ich hätte es nicht für möglich gehalten,« murmelte er, »auch sonst niemand.« Sie hörte, wie er sich bewegte und wie das Schloß der Wohnzimmertür einschnappte. Genosse Ossipon hatte den Schlüssel zu Herrn Verlocs Ruhestätte umgedreht, und das nicht aus Ehrfurcht vor der Ewigkeit oder aus sonst einer gefühlvollen Betrachtung, sondern aus einer rein verstandesmäßigen Erwägung – weil er durchaus nicht sicher war, ob sich nicht doch noch jemand im Hause versteckt hielt. Er glaubte der Frau nicht, oder vielmehr er fühlte sich unfähig, zu beurteilen, was noch in dieser Fabelwelt wahr, möglich, oder auch nur wahrscheinlich sein konnte. In dieser außerordentlichen Geschichte, die mit Polizei, Inspektoren und Gesandtschaften begonnen hatte und weiß Gott wo enden würde – vielleicht auf dem Schafott für irgend jemand – hatte ihm der Schrecken alle Fähigkeit zum Glauben oder Nichtglauben genommen. Er war entsetzt bei dem Gedanken, daß er außerstande sein würde, zu beweisen, wie er seit sieben Uhr seine Zeit zugebracht hatte; denn er hatte ja in der Brett Street herumgelungert. Er war entsetzt vor diesem wilden Weib, das ihn hier hereingelockt hatte und ihm wahrscheinlich die Mitschuld aufbürden würde, wenn er sich nicht in acht nahm. Er war entsetzt über die Schnelligkeit, mit der er in solche Gefahr verwickelt – verstrickt worden war. Es war knapp zwanzig Minuten her, seit er sie getroffen hatte – nicht mehr.

Frau Verlocs Stimme klang gepreßt, voll flehender Bitte:

»Gib's nicht zu, daß sie mich hängen! Führ' mich ins Ausland. Ich werde für dich arbeiten, ich werde, für dich schuften. Ich werde dich liebhaben. Ich habe niemand in der Welt . . . Wer sollte sich um mich kümmern, wenn nicht du!« Sie unterbrach sich einen Augenblick; dann kam ihr aus der Tiefe der Einsamkeit, die ein von einem Messergriff tröpfelnder Blutfaden rings um sie geschaffen hatte, eine schauerliche Eingebung – ihr, der ehrbaren Haustochter der Belgravia-Pension, der treuen, anständigen Gattin des Herrn Verloc. »Ich werde nicht verlangen, daß du mich heiratest«, hauchte sie, von Scham gequält.

Sie machte in der Dunkelheit einen Schritt vorwärts. Er fürchtete sich vor ihr. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn sie plötzlich ein anderes Messer gezogen hätte, das für seine Brust bestimmt war.

Er hätte sicher keinen Widerstand geleistet. Er hatte tatsächlich im Augenblick nicht die Kraft, ihr zu sagen, daß sie wegbleiben sollte. Doch fragte er mit fremder, hohler Stimme: »Schlief er?«

»Nein«, rief sie und trat schnell vor. »Nein, er schlief nicht. Er hatte mir gesagt, daß ihm nichts geschehen könne, nachdem er mir den Jungen unter den Augen weggenommen hatte, um ihn zu töten – den zärtlichen, unschuldigen, harmlosen Jungen. Der ganz mir gehörte, sage ich dir. Er lag auf dem Sofa, ganz bequem – nachdem er den Jungen getötet hatte – meinen Jungen! Ich wäre am liebsten auf die Straße hinausgelaufen, um ihm aus den Augen zu kommen. Und er sagt mir ›Komm her!‹ nachdem er mir erzählt hatte, daß ich am Tode des Jungen mitschuldig sei – hörst du, Tom? Er sagt mir so ›Komm her‹, nachdem er mir das Herz aus der Brust, zugleich mit dem Jungen, weggenommen hatte, um es in den Schmutz zu werfen.«

Sie unterbrach sich und wiederholte dann wie im Traume zweimal: »Blut und Schmutz. Blut und Schmutz.« Eine Erleuchtung überkam den Genossen Ossipon. So war es also der schwachsinnige Junge, der im Park umgekommen war. Und mehr als je schien es, daß alle Welt ringsum zum Narren gehalten worden war. Ganz und gar – ungeheuerlich. Im Übermaß des Erstaunens drückte er sich wissenschaftlich aus: »Der Degenerierte – großer Gott!«

»›Komm her‹«, erhob sich wieder die Stimme der Frau Verloc. »Was glaubte er denn von mir? Sag' mir, Tom. ›Komm her!‹ Zu mir! Einfach so! Ich hatte gerade das Messer angesehen und dachte mir, ich wollte also kommen, wenn er es gar so sehr wünschte. O ja. Ich kam – zum letztenmal . . . Mit dem Messer.«

Er war ganz entsetzt über sie – die Schwester des Schwachsinnigen – sie selbst eine Schwachsinnige mit Neigung zum Mord . . . oder vielleicht krankhaft verlogen. Man konnte sagen, daß Genosse Ossipon zu allen sonstigen Arten der Furcht auch noch wissenschaftlich entsetzt war. Seine Angst war so maßlos und in ihren Gründen so verwickelt, daß sie ihm eben darum den falschen Anschein von ruhiger und kühler Überlegung gab. Denn er bewegte sich und sprach mit Schwierigkeit, als wäre er innerlich halb erfroren – und niemand konnte sein geisterbleiches Gesicht sehen. Er fühlte sich halb tot.

Plötzlich sprang er in die Höhe. Ganz unerwartet hatte Frau Verloc die Ehrbarkeit ihres Heims entweiht durch einen schrillen, furchtbaren Schrei.

»Hilf, Tom! Rette mich! Ich will nicht gehängt werden!«

Er stürzte vor, preßte ihr die Hände auf den Mund, und der Schrei erstarb. Im Anprall aber hatte er sie niedergeworfen. Nun fühlte er, wie sie sich an seine Beine klammerte, und sein Entsetzen erreichte den Höhepunkt, wurde zu einer Art Betäubung, schuf Schreckensbilder, nahm die Formen des Säuferwahnsinns an. Nun sah er tatsächlich Schlangen. Er sah das Weib wie eine Schlange um seinen Leib gewickelt, nicht mehr abzuschütteln. Sie war nicht nur toddrohend. Sie war der Tod selbst – der Gefährte des Lebens.

Frau Verloc schien durch den Ausbruch erlöst und war nun weit entfernt, sich laut zu benehmen. Sie gab sich jämmerlich.

»Tom, du kannst mich jetzt nicht abschütteln,« murmelte sie vom Boden aus, »außer du willst mir mit der Ferse den Kopf zertreten. Ich will dich nicht verlassen.«

»Steh auf«, sagte Ossipon.

Sein Gesicht war so bleich, daß es aus der tiefen Dunkelheit des Ladens hervorleuchtete; während Frau Verloc unter ihrem Schleier kein Gesicht, kaum noch eine erkennbare Gestalt hatte. Das Zittern von irgend etwas Kleinem, Weißem, einer Blume an ihrem Hut, deutete ihren Standort, ihre Bewegungen an.

Dieses Weiße erhob sich nun durch die Dunkelheit. Sie war vom Boden aufgestanden, und Ossipon bedauerte, nicht fort, in die Straße hinausgerannt zu sein. Doch er begriff ohne weiteres, daß ihm das nichts genützt hätte. Es konnte nichts nützen. Sie würde hinter ihm dreinrennen. Sie würde ihn kreischend verfolgen, bis sie jeden Schutzmann in Hörweite auf seine Fährte gesetzt hätte. Und dann wußte Gott allein, was sie über ihn aussagen würde. Er war so verstört, daß einen Augenblick lang der irre Gedanke ihm durch den Kopf ging, sie im Dunklen zu erwürgen. Und seine Angst wuchs! Sie hatte ihn! Er sah sich selbst in stetem Entsetzen in irgendeinem entlegenen Weiler in Spanien oder Italien leben; bis man auch ihn eines Morgens tot finden würde, mit einem Messer in der Brust – wie Herrn Verloc. Er seufzte tief. Er wagte sich nicht zu rühren. Und Frau Verloc wartete stumm ab, was ihrem Retter zu tun belieben würde; sie schöpfte Trost aus seinem nachdenklichen Schweigen.

Plötzlich begann er in fast natürlichem Tone zu sprechen. Seine Überlegungen hatten zu einem Schlusse geführt.

»Komm, gehen wir, sonst versäumen wir den Zug.«

»Wohin gehen wir, Tom?« fragte sie schüchtern. Frau Verloc war nicht länger mehr ein freies Weib.

»Fahren wir zuerst nach Paris . . . Geh du voran und sieh, ob die Luft rein ist.«

Sie gehorchte. Ihre Stimme klang gedämpft durch die vorsichtig geöffnete Türe:

»Alles in Ordnung.«

Ossipon trat hinaus. Trotz seiner Bemühungen, recht vorsichtig zu sein, schnatterte die heisere Glocke hinter der geschlossenen Tür in den Laden hinein, als versuchte sie vergeblich dem schlafenden Herrn Verloc den endgültigen Abschied seiner Gattin – und zugleich seines Freundes anzuzeigen.

In der Droschke, die sie gleich bestiegen, begann sich der muskelstarke Anarchist zu erklären. Er war immer noch furchtbar bleich, und seine Augen schienen einen guten Zoll tief in sein fleischiges Gesicht versunken zu sein. Doch hatte er offenbar alles mit größter Schärfe überdacht.

»Wenn wir ankommen,« setzte er sonderbar eintönig auseinander, »mußt du vor mir in den Bahnhof hinein gehen, als kennten wir einander nicht. Ich will die Karten nehmen und dir im Vorübergehen deine in die Hand stecken. Dann geh du in den Wartesaal erster Klasse für Damen und bleibe dort bis zehn Minuten vor Abfahrt. Dann kommst du heraus. Ich werde draußen sein. Du steigst zuerst ein, als kenntest du mich nicht. Vielleicht nämlich sind Späheraugen da, die Bescheid wissen. Du alleine bist nur eine Frau, die mit dem Zuge abfährt. Ich bin bekannt. In meiner Begleitung könntest du leicht als Frau Verloc erkannt werden, die fliehen will. Verstehst du, Liebling?« fügte er mit einer Anstrengung hinzu.

»Ja«, sagte Frau Verloc, die eng an ihn gelehnt in der Droschke saß, ganz starr aus Angst vor dem Galgen und dem Tod. »Ja, Tom«, und innerlich fügte sie den grausigen Kehrreim an: »Die Fallhöhe betrug vier Meter.«

Ossipon hatte ein völlig neues Gesicht, wie beim Erwachen aus schwerer Krankheit. Er sagte, ohne sie anzusehen: »Nebenbei – ich müßte jetzt das Geld für die Fahrkarten haben.«

Frau Verloc hakte ihr Leibchen auf und händigte ihm, den Blick unverändert starr geradeaus gerichtet, die neue schweinslederne Brieftasche aus. Er nahm sie ohne ein Wort entgegen und schien sie irgendwo zutiefst in der eigenen Brust zu verbergen. Dann schlug er den Rock darüber zu.

All dies geschah, ohne daß ein einziger Blick gewechselt wurde; sie schienen zwei Leute, die nach dem Auftauchen eines ersehnten Ziels ausspähen. Erst als die Droschke um eine Ecke auf die Brücke fuhr, öffnete Ossipon wieder die Lippen.

»Weißt du, wieviel Geld drin ist?« fragte er und schien sich dabei an irgendeinen Kobold zu wenden, der zwischen den Ohren des Pferdes saß.

»Nein«, sagte Frau Verloc. »Er gab es mir. Ich habe es nicht gezählt. Ich hatte damals nicht die Gedanken dazu. Später . . .«

Sie machte eine kleine Bewegung mit der rechten Hand. Diese kleine Bewegung der rechten Hand, die kaum eine Stunde zuvor den tödlichen Stoß in eines Mannes Herz geführt hatte, war so eindringlich, daß Ossipon ein Erschauern nicht unterdrücken konnte. Er übertrieb es sogleich mit Absicht und murmelte dazu:

»Mir ist kalt. Ich bin ganz durchfroren.«

Frau Verloc spähte starr geradeaus nach den Aussichten ihrer Rettung. Dann und wann tauchten, wie ein Lichtstreifen quer über die Straße, die Worte »Die Fallhöhe betrug vier Meter« im Sehwinkel ihres starren Blickes auf. Durch den schwarzen Schleier blitzte das Weiße in ihren Augen, unternehmend, wie bei einer maskierten Frau.

Ossipons Unbeweglichkeit hatte irgend etwas geschäftliches, einen Beigeschmack merkwürdiger Amtlichkeit. Wieder hob er zu sprechen an, mit einer Plötzlichkeit, als hätte er dazu einen Halt fahren lassen.

»Sieh einmal! Weißt du vielleicht, ob dein – ob er sein Bankkonto unter seinem eigenen oder einem fremden Namen führte?«

Frau Verloc wandte ihm ihr zerwühltes Gesicht und den hellen Glanz ihrer Augen zu.

»Fremder Name?« sagte sie nachdenklich.

»Überlege dir, was du sagst«, belehrte sie Ossipon in der leise schaukelnden Droschke. »Das ist von großer Wichtigkeit. Ich will es dir erklären. Die Bank hat die Nummern dieser Noten. Wenn sie ihm unter seinem eigenen Namen ausgezahlt wurden, dann könnten sie, wenn sein – sein Tod bekannt wird, dazu dienen, uns aufzuspüren, da wir ja kein anderes Geld haben. Du hast kein anderes Geld bei dir?«

Sie schüttelte verneinend den Kopf.

»Gar keines?« beharrte er.

»Ein paar Pfennige.«

»Das wäre nämlich gefährlich. Das Geld müßte dann ganz eigens behandelt werden. Ganz eigens. Wir müßten vielleicht mehr als die Hälfte daran setzen, um diese Noten an einem sicheren Platz, den ich in Paris kenne, einzuwechseln. Andernfalls – ich meine, wenn er sein Konto unter fremdem Namen hatte und unter diesem auch ausbezahlt wurde – sagen wir Smith zum Beispiel – dann ist das Geld einwandfrei zu verwenden. Verstehst du? Die Bank hat keine Möglichkeit, festzustellen, daß Herr Verloc und, sagen wir, Smith eine und dieselbe Person sind. Siehst du nun, wie wichtig es ist, daß du dich bei der Antwort nicht irrst? Kannst du mir überhaupt antworten? Vielleicht nicht! Wie?«

Sie sagte bedächtig:

»Ich erinnere mich nun! Er legte nicht unter seinem eigenen Namen ein. Er sagte mir einmal, daß das Geld unter dem Namen Prozor hinterlegt sei.«

»Bist du sicher?«

»Ganz gewiß.«

»Du glaubst doch nicht, daß die Bank seinen wirklichen Namen kannte? Oder irgend wer in der Bank, oder –«

Sie zuckte die Schultern.

»Wie sollte ich das wissen? Ist das wahrscheinlich, Tom?«

»Nein, ich halte es nicht für wahrscheinlich. Es wäre nur angenehm gewesen, es zu wissen . . . Wir sind da. Steig zuerst aus und geh geradeswegs hinein. Rühr' dich!«

Er blieb zurück und zahlte die Droschke von seinem eigenen Silbergeld. Der von ihm bis ins kleinste ersonnene Plan wurde durchgeführt. Während Frau Verloc, mit ihrer Fahrkarte nach St. Malo in der Hand, den Wartesaal für Damen betrat, ging Genosse Ossipon in die Bar und stürzte innerhalb sieben Minuten drei Gläser Brandy mit Wasser hinunter.

»Ich versuche eine Erkältung zu vertreiben«, erklärte er dem Fräulein an der Bar mit einem freundlichen Nicken und verzerrtem Lächeln. Dann kam er heraus und brachte von der kleinen Erlustigung das Gesicht eines Mannes mit, der an der Quelle aller Sorgen getrunken hat. Er hob den Blick zur Uhr. Es war Zeit. Er wartete. Pünktlich trat Frau Verloc heraus, den Schleier gesenkt und ganz schwarz – schwarz, wie man sich gemeinhin den Tod selbst denkt, ein paar billige, blasse Blumen als Krone. Sie ging nahe an einer kleinen Gruppe von Männern vorbei, die lachten, deren Gelächter aber durch ein einziges Wort leicht zu ersticken gewesen wäre. Ihr Gang war träge, doch ihr Rücken gerade, und Genosse Ossipon sah ihr entsetzt nach, bevor er sich selbst in Bewegung setzte.

Der Zug fuhr ein, und es war kaum jemand vor der langen Reihe offener Türen zu sehen. Mit Rücksicht auf die Jahreszeit und das scheußliche Wetter gab es nur ein paar Fahrgäste. Frau Verloc schritt die Reihe leerer Abteile entlang, bis Ossipon von rückwärts ihren Ellenbogen berührte.

»Hier hinein.«

Sie stieg ein, und er blieb auf der Plattform und spähte herum. Sie beugte sich vor und flüsterte:

»Was gibt's, Tom? Ist Gefahr?«

»Wart' einen Augenblick. Da kommt der Schaffner.«

Sie sah, wie er den Mann in Uniform ansprach. Sie redeten eine Weile. Sie hörte den Schaffner sagen: »Sehr wohl, Herr«, und dabei an die Mütze greifen. Dann kam Ossipon zurück mit den Worten: »Ich sagte ihm, daß er niemand in unser Abteil lassen sollte.«

Sie lehnte sich auf ihrem Sitz vor: »Du denkst an alles . . . Du bringst mich durch, Tom?« fragte sie in jäher Angst und schlug hastig den Schleier hoch, um ihren Retter anzusehen.

Sie hatte ein Gesicht entschleiert, hart wie Demant. Und aus diesem Gesicht blickten die Augen groß, trocken, erweitert, glanzlos, ausgebrannt, wie zwei schwarze Löcher in den weißen, strahlenden Augäpfeln.

»Es ist keine Gefahr«, sagte er und sah sie mit einer hingerissenen Ernsthaftigkeit an, die Frau Verloc, auf ihrer Flucht vor dem Galgen, voll Kraft und Zärtlichkeit zu sein schien. Diese Ergebenheit rührte sie tief – und das demantne Gesicht verlor seine schreckhafte Starrheit. Genosse Ossipon sah sie an, wie nie ein Liebhaber seiner Liebsten Gesicht ansah. Alexander Ossipon, Anarchist, mit dem Spitznamen »der Doktor«, Verfasser einer medizinischen (und unsauberen) Schmähschrift, gewesener Wanderlehrer in Arbeitervereinen, über die Hygiene im Dienst des Sozialismus – Ossipon war frei von den Skrupeln der herkömmlichen Moral, doch unterwarf er sich den Regeln der Wissenschaft. Er war Wissenschaftler und beobachtete wissenschaftlich diese Frau, die Schwester eines Entarteten, selbst eine Entartete, mit Neigung zum Mord. Er beobachtete sie und rief Lombroso an, wie ein italienischer Bauer sich seinem Lieblingsheiligen empfiehlt. Er beobachtete wissenschaftlich. Er beobachtete ihre Wangen, ihre Nase, ihre Augen, ihre Ohren . . . Schlecht . . . Fatal! Als Frau Verlocs blasse Lippen unter seinem leidenschaftlichen Forscherblick ihre Strenge verloren und sich leicht öffneten, beobachtete er auch ihre Zähne . . . Kein Zweifel . . . Typus des Mörders . . . Wenn Genosse Ossipon seine verängstigte Seele nicht Lombroso empfahl, so unterließ er das nur deshalb, weil er aus wissenschaftlichen Gründen nicht glauben konnte, daß er irgendein Ding wie eine Seele mit sich trug. Doch war der wissenschaftliche Drang in ihm stark genug, um ihn auf der Plattform eines Bahnhofs zu einem Bekenntnis in gemacht lustigen Sätzen zu veranlassen.

»Er war ein außergewöhnlicher Bursche, dein Bruder! Sehr interessantes Studienobjekt. Vollendeter Typ in seiner Art. Vollendet!«

In seiner geheimen Angst sprach er wissenschaftlich. Als Frau Verloc diese Lobesworte über ihren geliebten Toten hörte, wiegte sie sich leise auf ihrem Sitz, und in ihre düsteren Augen kam ein Lichtschein, wie ein Sonnenstrahl, der über Wetterwolken huscht.

»Das war er wirklich«, flüsterte sie sanft, mit bebenden Lippen. »Du hast dich immer sehr um ihn gekümmert. Ich habe dich geliebt dafür.«

»Die Ähnlichkeit zwischen euch beiden war fast unglaublich«, fuhr Ossipon fort, gab damit seiner geheimen Angst Stimme und versuchte, die zitternde Unruhe zu verbergen, mit der er die Abfahrt erwartete. »Ja, er sah dir ähnlich.«

Diese Worte waren nicht sonderlich gefühlvoll oder teilnehmend. Es wirkte aber schon stark auf ihr Gefühl, daß die Tatsache dieser Ähnlichkeit betont wurde. Mit einem kleinen, schwachen Schrei streckte Frau Verloc die Arme vor und brach endlich in Tränen aus.

Ossipon stieg in den Wagen, schloß hastig die Türe und sah zum Fenster hinaus nach der Bahnhofsuhr. Noch acht Minuten. Während der ersten drei davon weinte Frau Verloc heftig und hilflos, ohne jede Unterbrechung. Dann sammelte sie sich ein wenig und schluchzte leise zwischen Tränenfluten. Sie versuchte zu ihrem Retter zu reden, zu dem Mann, der ihr wie der Bote des Lebens erschien.

»O Tom, wie konnte ich den Tod fürchten, nachdem er so grausam von mir genommen war. Wie konnte ich das! Wie konnte ich so feige sein!«

Sie wehklagte laut über ihre Liebe zum Leben, zu diesem Leben ohne Reiz und Anmut und fast ohne Anstand, nur ausgezeichnet durch ein ungewöhnliches Zielbewußtsein, das bis zum Mord gegangen war. Und wie es oft bei dem Jammer der Armen der Fall ist, die reich an Leiden sind, doch arm an Worten, brach die Wahrheit – der laute Schrei der Wahrheit – durch, in abgetragenem, künstlichem Gewande, das irgendwo unter falschen Gefühlsphrasen aufgelesen sein mochte.

»Wie konnte ich den Tod so fürchten! Tom, ich habe es versucht. Aber ich fürchtete mich. Ich habe es versucht, mich aus der Welt zu schaffen. Aber ich konnte es nicht. Bin ich gottlos? Ich fürchte, der Leidenskelch war noch nicht voll genug für eine wie mich. Dann, als du kamst . . .«

Nach einem kurzen Schweigen schluchzte sie in vertraulicher Dankbarkeit hervor: »Ich will nun alle meine Tage für dich leben, Tom!«

»Geh hinüber in die andere Ecke des Wagens, vom Bahnsteig weg«, drängte Ossipon. Sie ließ sich von ihrem Retter bequem zurechtsetzen, und er sah zu, wie ein neuer Weinkrampf, heftiger noch als der erste, vorüberging. Er beobachtete die Anzeichen wie ein Arzt, als zählte er die Sekunden. Schließlich hörte er die Pfeife des Zugführers. Eine unwillkürliche Zusammenziehung seiner Oberlippe entblößte seine Zähne mit dem vollen Ausdruck wütender Entschlossenheit, als er fühlte, daß der Zug anfuhr. Frau Verloc hörte und fühlte nichts, und Ossipon, ihr Retter, stand still. Er fühlte, wie der Zug schneller rollte und gewichtig in das laute Schluchzen der Frau polterte; dann durchquerte er in zwei langen Schritten das Abteil, öffnete die Tür und sprang hinaus.

Er war ganz am Ende des Bahnsteiges abgesprungen und sein Entschluß, den verzweifelten Plan durchzuführen, war so ingrimmig, daß er es wie durch ein Wunder noch in der Luft fertig brachte, die Wagentüre zuzuschlagen. Dann erst fand er sich wieder, während er wie ein geschossenes Kaninchen einen Purzelbaum schlug. Er war zerschlagen, durchgerüttelt, bleich wie der Tod und ohne Atem, als er wieder aufstand. Doch war er ruhig und durchaus imstande, dem aufgeregten Haufen von Eisenbahnern, der sich augenblicklich um ihn gesammelt hatte, die Stirn zu bieten. Er erklärte in freundlichen und überzeugenden Worten, daß seine Frau auf eine plötzliche Nachricht hin sofort in die Bretagne zu ihrer sterbenden Mutter gefahren sei; daß sie natürlich furchtbar aufgeregt und er wegen ihres Zustandes sehr besorgt gewesen sei; daß er versucht habe, sie aufzuheitern und dabei zunächst der Abfahrt gar nicht gewahr geworden sei. Dem allgemeinen Ausruf: »Warum sind Sie dann nicht nach Southampton mitgefahren, Herr?« begegnete er mit dem Hinweis auf die Unerfahrenheit einer jungen Schwägerin, die mit drei kleinen Kindern allein im Haus geblieben sei und sich über seine Abwesenheit aufgeregt hätte, da die Telegraphenämter ja geschlossen waren. Er habe ganz triebhaft gehandelt. »Ich glaube aber nicht, daß ich es nochmals versuchen werde«, schloß er, lächelte in die Runde, verteilte einiges Kleingeld und verließ dann, ohne zu hinken, den Bahnhof.

Draußen wies Genosse Ossipon, die Taschen mit Banknoten gespickt wie nie zuvor, das Angebot einer Droschke ab.

»Ich kann gehen«, sagte er mit einem kleinen freundlichen Lachen zu dem höflichen Kutscher.

Er konnte gehen und ging. Er überquerte die Brücke. Späterhin sahen die Türme der Abbey in ihrer massigen Unbeweglichkeit seinen blonden Haarbüschel unter den Lampen vorüberstreichen. Auch die Lichter von Victoria und Sloane Square und die Parkgitter. Wiederum befand sich Genosse Ossipon auf einer Brücke. Der Strom, wunderbar in seinem Gemenge von ruhigen Schatten und tanzenden Lichtern, die sich weit weg in stumme Nacht verloren, nahm seine Aufmerksamkeit gefangen. Er stand lange da und sah über die Brüstung weg. Vom Glockenturm über seinem gebeugten Haupt hallte ein dröhnender Schlag. Er sah nach dem Zifferblatt . . . Halb ein Uhr, und eine stürmische Nacht im Kanal . . .

Genosse Ossipon ging weiter. Seine kräftige Gestalt war in dieser Nacht in verschiedenen Bezirken der ungeheuren Stadt zu sehen, die auf einem Teppich von Schmutz unter der Decke rauhen Nebels ihren bösen Schlaf schlief. Man konnte ihn sehen, wie er die Straßen ohne Leben und Lärm überquerte, oder sich zwischen den endlosen Doppelreihen schattenhafter Häuser verlor, die neben den Linien von Gaslampen leere Hauptstraßen begrenzten. Er ging über Rondelle und Plätze, durch einförmige Straßen mit unbekannten Namen, wo sich der Staub der Menschheit träge und hoffnungslos ansetzt, jenseits vom Strom des Lebens. Plötzlich bog er in einen schmalen Vorgarten mit schäbigem Graswuchs ein und betrat ein kleines, rußiges Haus, dessen Türe er mit einem Drücker geöffnet hatte.

Er warf sich ganz angezogen auf sein Bett und lag eine volle Viertelstunde reglos. Dann setzte er sich plötzlich auf, zog die Knie hoch und umklammerte seine Beine. Das erste Morgengrauen fand ihn mit offenen Augen in der gleichen Stellung. Dieser Mann, der so lange, so weit, so ziellos gehen konnte, ohne ein Zeichen von Ermüdung, konnte auch stundenlang reglos sitzen bleiben, ohne ein Glied oder auch nur ein Augenlid zu regen. Als aber die späte Sonne ihre Strahlen in das Zimmer schickte, löste er die Hände und fiel auf das Kissen zurück. Seine Augen starrten nach der Decke. Und plötzlich schlossen sie sich. Genosse Ossipon schlief im Sonnenschein.

 


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