Joseph Conrad
Der Geheimagent
Joseph Conrad

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V

Der Professor war in eine Gasse nach links abgebogen und schritt nun mit krampfhaft erhobenem Kopf in einer Menge von Menschen dahin, deren jeder wohl seine schmächtige Gestalt überragte. Er konnte sich seine Enttäuschung nicht verhehlen. Aber das war nur ein Gefühl; die eiserne Ruhe seiner Gedankengänge konnte durch diesen oder einen anderen Fehlschlag nicht gestört werden. Das nächste Mal oder das übernächste Mal würde ein schmetternder Schlag gelingen – irgend etwas noch nie Dagewesenes – ein Stoß, der vielleicht die erste Bresche in den Machtbau der Gesetze legen würde, hinter dem sich die schauerliche Ungerechtigkeit verbarg. Er war von niedriger Herkunft und von so unvorteilhaftem Äußern, daß seine bedeutenden natürlichen Anlagen sogar darunter litten, und so war seine Einbildungskraft schon früh durch Geschichten von Männern befeuert worden, die sich aus den Tiefen der Armut zu Macht und Einfluß emporgearbeitet hatten. Die übertriebene, fast asketische Reinheit seiner Denkweise, verbunden mit einer erstaunlichen Lebensfremdheit, hatten ihm gebietende Macht als Ziel vor Augen gerückt, das aber nicht mit Hilfe von Kunst, besonderen Gaben, Takt, Reichtum – sondern durch das bloße Gewicht des Verdienstes erreicht werden sollte. In diesem Punkte fühlte er sich des unbedingtesten Erfolges sicher. Sein Vater, ein Enthusiast von schwacher Gesundheit, mit fliehender Stirne, war ein gern gehörter Wanderprediger irgendeiner unbekannten, aber strengen christlichen Sekte gewesen, ein Mann, der sich auf das Vorrecht seiner Ehrbarkeit viel zugute tat. In dem Sohn, einem Einzelgänger von Geburt, verdrängte das Schulwissen jeden Glauben an die Wirksamkeit von Bet-Zirkeln und setzte sich in glühend überspannten Ehrgeiz um, den er wie eine heilige Flamme nährte. Als diesem Ehrgeiz nicht Genüge geschah, gingen ihm die Augen auf für das wahre Wesen der Welt und ihre verkünstelte, verderbte und lästerliche Moral. Selbst den gerechtesten Revolutionen wird durch sehr persönliche Beweggründe, die dann zu Glaubenssätzen umgeformt werden, der Weg bereitet. Der Professor fand für seine Entrüstung in sich selbst einen Grund, der ihn der Peinlichkeit enthob, aus Ehrgeiz zum Zerstörer werden zu müssen. Den allgemeinen Glauben an Gesetzmäßigkeit zerstören zu wollen, war nur die nicht ganz deckende Formel für seinen pedantischen Fanatismus, doch im Unterbewußtsein getragen von der klaren Erkenntnis, daß das Fachwerk einer bestehenden Gesellschaftsordnung ohne Gewaltanwendung in großem oder kleinem Maßstabe nicht erschüttert werden könne. Für ihn stand es fest, daß er eine moralische Sendung hatte. Und indem er sich ihr mit ganzer Seele hingab, verschaffte er sich auch den Anschein von Macht und persönlicher Haltung. Das durfte er sich bei aller rachsüchtigen Bitterkeit doch eingestehen. Es schläferte seine Unrast ein; und auf ihre Art suchen vielleicht die glühendsten Revolutionäre nichts weiter als den Frieden mit der übrigen Menschheit, einen Frieden gesättigter Eitelkeit, erfüllter Wünsche oder vielleicht nur beruhigten Gewissens.

Verloren in der Menge, elend und unter Mittelgröße, sann er stolz seiner Macht nach und hielt dabei mit der Hand in der linken Hosentasche den Gummiball umklammert, den letzten Bürgen seiner traurigen Freiheit; nach einiger Zeit jedoch kam ihm die Überfüllung der Straße mit Fahrzeugen und der Gehwege mit Menschen störend zum Bewußtsein. Er befand sich in einer langen, geraden Straße, die wohl nur von einem geringen Bruchteil einer unendlichen Menge erfüllt war. Er aber fühlte rings um sich, um und um, bis zu den Grenzen des Horizontes hinter den Ziegelbergen, die Macht der Menschen in ihrer Masse. Sie schwärmten zahllos wie Heuschrecken, fleißig wie die Ameisen und gedankenlos wie eine Naturgewalt, drängten blind dahin, jeder für sich, und doch auf Ordnung bedacht, und waren dem Gefühl so wenig zugänglich wie der Logik, oder vielleicht sogar dem Schrecken.

Das war der Zweifel, den er mehr als alles fürchtete – dem Schrecken nicht zugänglich! Oftmals während seiner Wanderungen, wenn er mit sich selbst uneins war, hatte er solche Anfälle drückender und tiefer Menschenverachtung. Wie, wenn sie überhaupt nicht in Bewegung zu bringen wären? Solche Augenblicke sind all denen vertraut, die nach unmittelbarer Herrschaft streben – Künstlern, Politikern, Denkern, Reformern oder Heiligen. Das ist ein jämmerlicher Gemütszustand, gegen den einem überlegenen Charakter die Einsamkeit hilft. Und mit innerlichem Triumph stellte sich der Professor seine sicheren vier Wände vor, den Raum mit dem verschlossenen Tellerschrank, verloren in einem Gewirr armseliger Häuser, die Klause des wahren Anarchisten. Um die Haltestelle seines Omnibusses früher zu erreichen, bog er plötzlich aus der belebten Straße in einen engen, schlecht erleuchteten Durchgang ab, der mit Steinplatten gepflastert war. Die niedrigen Ziegelbauten auf der einen Seite hatten in ihren verstaubten Fensterscheiben den blinden, sterbenden Blick unrettbaren Verfalls, leere Schalen, die der Zerstörung harrten. Denen auf der anderen Seite war das Leben noch nicht ganz entflohen. Grade bei der einzigen Gaslampe gähnte die Höhle eines Altwarenhändlers, wo sich ein schmaler Pfad durch einen wilden Urwald von Kleidungsstücken wand und aus einem Dickicht von Tischbeinen ein schmaler Pfeilerspiegel wie ein Waldweiher blinkte. Eine armselige, heimatlose Bettstatt, begleitet von zwei alleinstehenden Stühlen, zierte den Eingang. Das einzige menschliche Wesen, das außer dem Professor den Durchgang benützte, kam stramm und gerade aus der entgegengesetzten Richtung und hielt seinen wiegenden Schritt plötzlich an.

»Hallo«, sagte der andere und trat aufmerksam ein wenig zur Seite.

Der Professor war schon stehen geblieben, mit einer raschen Wendung, die seine Schulter nahe an die andere Mauer brachte. Die rechte Hand ruhte leicht auf der Lehne der verkommenen Bettstatt, die linke blieb tief in der Hosentasche verborgen; die schwarzgeränderten Brillengläser gaben dem Gesicht einen eulenhaften Ausdruck.

Es war wie ein Zusammentreffen in dem Seitengang eines vollbesetzten Gasthofes; der stramme Mann war in einen dunklen Überzieher eingeknöpft und trug einen Regenschirm. Sein weit zurückgeschobener Hut ließ eine Stirne sehen, die im Dämmerlicht sehr weiß wirkte. Aus dunklen Augen blitzten durchbohrend die Augen. Ein langer, hängender Schnurrbart in der Farbe reifen Korns umrahmte den viereckigen Block des glattrasierten Kinns.

»Ich bin nicht auf der Suche nach Ihnen«, sagte er kurz.

Der Professor rührte sich nicht. Die gedämpften Geräusche der Riesenstadt sanken zu undeutlichem Murmeln herab. Hauptinspektor Heat, von der Abteilung für besondere Verbrechen, änderte den Ton.

»Keine Eile, nach Hause zu kommen?« sagte er mit gemachter Schlichtheit.

Der elende kleine Sendbote der Zerstörung fühlte stummen Jubel angesichts der Wirkung, die von ihm ausging, da er es vermochte, diesen Mann, dem die Verteidigung der bedrohten Gesellschaft oblag, in Schach zu halten. Glücklicher als Caligula, der, um seinen Blutdurst besser stillen zu können, dem römischen Senat nur einen Kopf wünschte, sah er in diesem einen Mann alle die Mächte verkörpert, die er herausgefordert hatte: die Macht des Gesetzes, des Eigentums, der Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Alle seine Feinde sah er in ihm und trat ihnen furchtlos entgegen, zur äußersten Befriedigung seiner Eitelkeit. Sie standen bestürzt vor ihm wie vor einem schlimmen Vorzeichen. Er frohlockte innerlich über dieses zufällige Zusammentreffen, das ihm seine Überlegenheit über die Masse der Menschheit bestätigte.

Es war tatsächlich ein zufälliges Zusammentreffen. Hauptinspektor Heat hatte einen bösen Arbeitstag gehabt, seit kurz vor elf Uhr vormittags das erste Telegramm aus Greenwich bei seiner Abteilung eingelaufen war. Peinlich genug war vor allem schon die Tatsache, daß der Anschlag kaum eine Woche nach dem Tag erfolgt war, wo er einem hohen Beamten versichert hatte, daß durchaus kein Ausbruch anarchistischer Tätigkeit zu befürchten sei. Wenn überhaupt je, so war er damals seiner sicher gewesen, als er diese Behauptung aufstellte. Er hatte es mit größtem Vergnügen getan, denn es lag auf der Hand, daß der hohe Beamte eben dies zu hören wünschte. Er hatte versichert, daß an nichts derart auch nur gedacht werden könnte, ohne daß die Abteilung innerhalb vierundzwanzig Stunden davon erführe; und er hatte so in dem Bewußtsein gesprochen, der große Sachverständige seiner Abteilung zu sein. Er hatte sich sogar zu Worten verleiten lassen, die wahre Weisheit vielleicht zurückgehalten hätte. Aber Hauptinspektor Heat war nicht sehr weise, wenigstens nicht wahrhaft weise. Wahre Weisheit, für die nichts in dieser Welt der Widersprüche feststeht, hätte ihn daran gehindert, seine jetzige Stellung zu erreichen. Sie hätte seine Vorgesetzten beunruhigt und seine Aussichten auf Beförderung verschüttet. Er war sehr rasch aufgestiegen.

»Nicht einer ist darunter, Herr, auf den wir nicht zu jeder Stunde bei Tag und Nacht die Hände legen könnten. Wir wissen, was jeder von ihnen Stunde um Stunde tut«, hatte er erklärt, und der hohe Beamte hatte zu lächeln geruht. Das waren so ganz offenbar die rechten Worte für einen Offizier von Hauptinspektor Heats Ruf, daß es ein wahres Vergnügen war, ihnen zuzuhören. Der hohe Beamte glaubte der Versicherung, die sich so ganz seinem Bild von der Sachlage einfügte. Sein Wissen war mehr amtlicher Art, sonst hätte er vielleicht eine Tatsache in Betracht gezogen, die weniger durch die Theorie, als durch die Erfahrung bestätigt wurde, daß nämlich in dem eng gewobenen Netz von Beziehungen zwischen Polizei und Verschwörern auch weitere Maschen mit unterlaufen, plötzliche Lücken in Raum und Zeit. Ein bekannter Anarchist mag Zoll um Zoll und Minute um Minute überwacht werden, und doch kommt ein Augenblick, wo er irgendwie für einige Stunden ganz außer Sicht und Fühlung kommt, und in dieser Zeit geschieht dann etwas mehr oder weniger Betrübliches (meistens eine Explosion). Der hohe Beamte aber, befangen in der günstigen Beurteilung der Sachlage, hatte gelächelt, und die Erinnerung an dieses Lächeln war nun für Hauptinspektor Heat, den ersten Sachverständigen in der Bekämpfung des Anarchismus, gründlich unangenehm.

Dieser Umstand war übrigens nicht der einzige, der dazu beitrug, die sonstige Seelenruhe des hervorragenden Spezialisten zu trüben. Es gab noch etwas, was eben erst an diesem Morgen hinzugetreten war. Der Gedanke, daß er unfähig gewesen war, sein Erstaunen zu verbergen, als sein Kommissar ihn dringlich hatte rufen lassen, war äußerst peinlich. Als erfolgreichen Mann hatte ihn sein Instinkt längst gelehrt, daß ganz allgemein ein Ruf ebensosehr durch Benehmen, wie durch Tüchtigkeit geschaffen wird, und er fühlte gut, daß er sich angesichts des Telegramms nicht einwandfrei benommen hatte. Er hatte die Augen weit aufgerissen, hatte ausgerufen: »Unmöglich!« und sich so dem unwiderleglichen Vorwurf eines Zeigefingers ausgesetzt, der sich nachdrücklich auf das Telegramm legte, das der Kommissar, nachdem er es laut verlesen, auf den Tisch geworfen hatte. Unter der Spitze eines Zeigefingers zermalmt zu werden, sozusagen, war ein unerfreuliches Erlebnis. Und auch durchaus nicht förderlich. Überdies mußte sich Hauptinspektor Heat gestehen, daß er die Sache nicht besser gemacht hatte, indem er sich eine Meinung zu äußern erlaubte:

»Eines kann ich sofort sagen: keiner von unserer Gruppe hat irgend etwas damit zu tun.«

Er fühlte sich unanfechtbar in seiner Eigenschaft als erprobter Detektiv, begriff aber jetzt, daß eine undurchdringlich aufmerksame Zurückhaltung diesem Vorfall gegenüber seinem Ruf mehr genützt hätte. Andererseits mußte er sich zugeben, daß es schwer war, seinen Ruf zu wahren, wenn glatte Außenseiter sich in die Geschäfte zu mischen begannen. Außenseiter sind in der Polizei, wie auch in anderen Berufen, die reine Pest. Der Ton, in dem der Kommissar seine Bemerkung gemacht hatte, war sauer genug gewesen, daß man hätte mit den Zähnen knirschen können.

Und seit dem ersten Frühstück war Hauptinspektor Heat nicht dazu gekommen, irgend etwas zu essen.

Er war unverzüglich aufgebrochen, um seine Nachforschungen an Ort und Stelle zu beginnen, und hatte dabei eine Menge rauhen, wenig bekömmlichen Nebels im Park schlucken müssen. Dann war er zum Spital hinübergegangen; und als endlich die Untersuchung in Greenwich beendet war, hatte er den Appetit verloren. Da er nicht, wie die Ärzte, daran gewöhnt war, die durcheinander gewürfelten Reste menschlicher Wesen aus der Nähe zu betrachten, so war ihm der Anblick etwas nahe gegangen, der sich ihm bot, als in einem gewissen Raum des Spitals ein Wachstuch von einem Tisch weggezogen wurde.

Auf dem Tisch lag wie ein Tischtuch eine andere Wachsleinwand, deren Ecken über einem kleinen Hügel aufgeschlagen waren – einem Haufen versengter, blutbefleckter Lumpen, unter dem sich etwas barg, das wie der Vorrat zu einem kannibalischen Fest aussah. Es erforderte erhebliche Standhaftigkeit, vor diesem Anblick nicht zurückzuweichen. Hauptinspektor Heat, ein tüchtiger Offizier seiner Abteilung, blieb standhaft, wagte sich aber eine volle Minute lang nicht vorwärts. Ein Schutzmann des Bezirks, in Uniform, sagte nach einem Seitenblick mit schöner Schlichtheit:

»Er ist ganz da. Jedes Stückchen von ihm; das war eine Arbeit!«

Er war als erster nach der Explosion zur Stelle gewesen und erzählte nun nochmals den Hergang. Er hatte durch den Nebel etwas wie einen starken Blitz gesehen. Damals hatte er an der Türe des Torhäuschens bei King William Street gestanden und hatte sich mit dem Wärter unterhalten. Der Krach ließ ihn über und über erzittern. Er rannte zwischen den Bäumen auf das Observatorium zu. »So schnell meine Beine mich tragen wollten«, wiederholte er zweimal.

Hauptinspektor Heat, der sich zaghaft und entsetzt über den Tisch beugte, ließ ihn rennen. Der Spitalspförtner und noch ein Mann schlugen das Wachstuch auf und traten beiseite. Die Augen des Hauptinspektors überliefen die grausigen Einzelheiten des Durcheinanders vor ihm, das in Schlachtbänken und bei Lumpensammlern aufgelesen schien.

»Sie haben eine Schaufel benützt«, sagte er, da er feine Spuren von Kies, nadelfeine Rinden- und Holzsplitter bemerkte.

»War stellenweise nötig«, erwiderte der dämliche Schutzmann. »Ich sandte einen Wärter um einen Spaten. Als er mich auf dem Boden damit kratzen hörte, da lehnte er die Stirne gegen einen Baum und wurde seekrank wie ein Hund.«

»Blond war er«, fuhr der Schutzmann ungerührt fort und machte eine kleine Pause. »Die alte Frau, die mit dem Sergeanten sprach, hat einen blonden jungen Mann aus Maze Hill Station herauskommen sehen.« Er hielt nochmals inne. »Und das hier war ein blonder junger Mann. Sie sah zwei Leute aus der Station kommen, nachdem der Zug durchgefahren war«, fuhr er langsam fort. »Sie konnte nicht sehen, ob sie zusammengehörten. Von dem Größeren hatte sie keinen Eindruck, aber der andere war ein blonder, schmächtiger Kerl, der eine Blechkanne in der Hand trug.«

Der Schutzmann verstummte. »Kennen Sie die Frau«, mummelte der Inspektor, die Augen auf den Tisch gerichtet, in der unklaren Erkenntnis, daß er nun eine Untersuchung über einen Menschen anzustellen haben würde, der aller Voraussicht nach unerkannt bleiben mußte.

»Jawohl. Sie ist Haushälterin bei einem pensionierten Steuereinnehmer und besucht gelegentlich die Kapelle am Parkplatz«, gab der Schutzmann gewichtig an und verstummte abermals, mit einem Blick nach dem Tisch. Dann plötzlich: »Nun also, hier ist er, alles, was ich von ihm finden konnte. Blond. Schmächtig – schmächtig genug. Sehen Sie sich den Fuß da an. Ich hob die Beine zuerst auf, eins nach dem anderen. Er war so verstreut, daß man nicht wußte, wo man anfangen sollte.«

Der Schutzmann hielt inne, und der Glanz eines unschuldigen, selbstgefälligen Lächelns verlieh seinem Gesicht einen kindlichen Ausdruck.

»Er ist gestolpert«, erklärte er mit Bestimmtheit; »ich stolperte selbst einmal und stieß mir den Kopf an, während ich hinrannte. Die Wurzeln stehen überall heraus. Ist über eine Wurzel gestolpert und hingefallen, der Kerl, und das Ding, das er trug, ist ihm gerade unter der Brust losgegangen, denke ich mir.«

Es beunruhigte den Inspektor beträchtlich, daß das Echo der Worte »Person unbekannt« in ihm nicht zur Ruhe kommen wollte. Er hätte schon aus persönlichem Wissensdurst die Angelegenheit bis zu ihrem geheimnisvollen Ursprung zurück verfolgen mögen. Er war neugierig von Beruf, auch hätte er gerne vor der Öffentlichkeit die Person des Täters festgestellt, um damit die Tüchtigkeit seiner Abteilung zu beweisen. Er war ein getreuer Diener des Staates. Nun stand er vor einer Unmöglichkeit. Der Anfang der Fährte war heillos verwischt und erlaubte keinerlei Schluß, außer dem auf unsinnige Grausamkeit.

Inspektor Heat überwand seinen Ekel und streckte, ohne Überzeugung, nur zur Beruhigung seines Gewissens, die Hand nach dem am wenigsten besudelten Fetzen aus. Es war ein schmaler Streifen Samt, von dem ein etwas größeres Dreieck blauen Tuchs herunterhing. Er hielt es an die Augen und der Schutzmann sprach:

»Samtkragen. Doch komisch, daß die alte Frau den Samtkragen bemerkt hat. Dunkelblauer Überrock mit Samtkragen, hat sie uns gesagt. Das hier ist der Kerl, den sie gesehen hat, kein Zweifel; und er ist ganz vollzählig hier, mit Samtkragen und allem. Ich glaube nicht, daß ich auch nur ein Stückchen so groß wie eine Briefmarke hinten ließ.«

Hier hörte die geschulte Untersuchungsgabe des Hauptinspektors auf, der Stimme des Schutzmanns Gehör zu schenken. Er trat an eines der Fenster, um besser zu sehen. Sein Gesicht, vom Zimmer abgewandt, drückte Überraschung aus, während er das Stückchen Tuch untersuchte. Er riß es mit einem plötzlichen Ruck ab und wandte sich erst, nachdem er es in der Tasche verborgen hatte, wieder ins Zimmer, um den Samtkragen auf den Tisch zurück zu werfen.

»Zudecken«, wies er die Wärter kurz an, ohne nochmals hinzusehen, und entfernte sich hastig mit seiner Beute, von dem Schutzmann gegrüßt.

Er kam gerade zu einem Zug zurecht und fuhr in einem Abteil dritter Klasse, allein und in tiefe Gedanken versunken, zur Stadt. Dieses versengte Stückchen Tuch war unglaublich wertvoll, und er konnte ein lebhaftes Erstaunen darüber nicht verbergen, wie zufällig es in seine Hände gekommen war. Es war, als hätte das Schicksal selbst ihm einen Schlüssel bieten wollen. Und nach der Art des Durchschnittsmenschen, dessen Ehrgeiz es ist, das Schicksal zu lenken, begann er dem mühelosen Zufallserfolg zu mißtrauen – gerade weil er ihm so in den Schoß zu fallen schien.

In dieser geistigen Verfassung, mit leerem Magen und mit einem Rest von Übelkeit wegen des gehabten Anblicks, war er mit dem Professor zusammengetroffen. Unter solchen Bedingungen, die einen gesunden Durchschnittsmann wohl zum Jähzorn geneigt machen konnten, war das Zusammentreffen für Hauptinspektor Heat besonders unerfreulich. Er hatte an den Professor nicht gedacht; er hatte überhaupt an keinen einzelnen Anarchisten gedacht. Der verwickelte Fall hatte ihm irgendwie die Torheit aller menschlichen Dinge zum Bewußtsein gebracht, was ja schon ganz allgemein für ein unphilosophisches Temperament recht langweilig, im Einzelfall aber geradezu unerträglich sein kann. Zu Beginn seiner Laufbahn war Hauptinspektor Heat mit den auffallenderen Formen von Diebstahl befaßt gewesen. Dabei hatte er sich die Sporen verdient, und begreiflicherweise auch nach seiner Versetzung in eine andere Abteilung für seinen ersten Wirkungskreis ein Gefühl bewahrt, das nahe an Zuneigung grenzte. Diebstahl war kein blanker Unsinn. Er war eine Erscheinungsform menschlichen Erwerbsfleißes, wohl verkehrt, aber doch Erwerb in einer auf Erwerb gestellten Welt. Es war Arbeit, geleistet aus denselben Gründen, wie die Arbeit in Töpfereien, Kohlenbergwerken, auf dem Acker oder in der Fabrik. Eine Arbeit, die sich von den anderen Formen von Arbeit hauptsächlich durch ihre Gefahren unterschied, die nicht in Verknöcherung, Bleivergiftung, Verbrühung bestanden, sondern darin, was mit einem Fachausdruck »sieben Jahre Schweren« genannt wurde. Hauptinspektor Heat verschloß sich natürlich nicht der Wucht sittlicher Unterscheidungen. Das taten aber ebensowenig die Diebe, die er zu überwachen hatte. Die unterwarfen sich mit einer gewissen Entsagung den strengen Gesetzen einer Sittlichkeit, die dem Inspektor vertraut war. Sie waren seine Mitbürger, die infolge verfehlter Erziehung in die Irre gegangen waren, so glaubte Inspektor Heat. Abgesehen von diesem Unterschiede aber konnte er sehr wohl die Sinnesart eines Räubers verstehen, weil nämlich Sinn und Triebe eines Räubers im Grunde die gleichen sind wie Sinn und Triebe eines Polizeioffiziers. Beide erkennen dasselbe Übereinkommen an, haben genaue Kenntnis ihrer gegenseitigen Methoden und die ganze Erfahrung ihres Geschäfts. Sie verstehen einander, was für beide vorteilhaft ist und ihre Beziehungen gewissermaßen angenehm gestaltet. Produkte derselben Maschine, das eine als nützlich, das andere als schädlich bezeichnet, nehmen sie die Maschine als gegeben an, von verschiedenen Gesichtspunkten zwar, aber mit einem wesentlich gleichen Ernst. Inspektor Heats Gemüt war für aufrührerische Gedanken unzugänglich. Seine Diebe waren ja auch keine Rebellen. Seine körperliche Kraft, sein kalter Gleichmut, seine Tapferkeit und Makellosigkeit hatten ihm auf dem Felde seiner ersten Erfolge allgemeine Verehrung eingetragen, die sich sogar zur Liebedienerei steigern konnte. Er hatte sich verehrt und bewundert gefühlt. Und wie er nun sechs Schritte vor dem Anarchisten mit dem Spitznamen »der Professor« stillehielt, da dachte der Inspektor mit Wehmut an die Welt der Diebe – gesund, ohne überspannte Ideale, geschickt arbeitend, mit Ehrfurcht vor den bestehenden Behörden, frei von Haß und Verzweiflung.

Nachdem er so der gesetzmäßigen Gesellschaftsordnung seinen Zoll entrichtet hatte – denn der Gedanke des Diebstahls erschien ihm ebenso gesetzmäßig wie der des Eigentums – empfand der Inspektor lebhaften Ärger darüber, daß er stehengeblieben war, daß er gesprochen und daß er überhaupt diesen Weg eingeschlagen hatte, einfach nur, weil er eine Abkürzung vom Bahnhof zum Hauptquartier vorstellte. Und er sprach wieder, mit seiner tönenden Befehlsstimme, in der nun, da er sie dämpfte, eine Drohung mitklang.

»Sie werden nicht gewünscht, sage ich Ihnen«, wiederholte er.

Der Anarchist rührte sich nicht. Ein inneres Hohnlachen entblößte nicht nur seine Zähne, sondern noch seine Kiefer, schüttelte ihn lautlos. Hauptinspektor Heat fühlte sich bemüßigt, gegen sein besseres Wissen hinzuzufügen:

»Noch nicht. Wenn ich Sie haben will, werde ich Sie zu finden wissen.«

Das war ein durchaus berechtigter Ausspruch, ganz herkömmlich und der Stellung eines Polizeioffiziers angemessen, der zu einem Schäflein seiner Herde spricht. Die Aufnahme aber, die die Worte fanden, lag gleich weit von Herkommen wie von Anstand entfernt. Sie war empörend. Die kümmerliche Gestalt begann zu sprechen.

»Ich zweifle nicht, daß Ihnen die Zeitungen dann einen Nachruf widmen würden, und Sie müssen selbst am besten wissen, wie viel Ihnen das wert wäre. Ich dächte doch, Sie können sich leicht vorstellen, was für Zeug dann gedruckt würde. Es könnte Ihnen aber auch geschehen, daß Sie mit mir zusammen begraben würden, obwohl ja natürlich Ihre Freunde keine Anstrengung scheuen würden, um uns auseinander zu klauben.«

Bei aller gesunden Verachtung für den Geist, der solche Worte eingeben konnte, verfehlte die blutrünstige Anspielung doch nicht ihre Wirkung auf den Inspektor. Er war zu einsichtig und auch zu gut unterrichtet, um sie etwa als Aufschneiderei abzutun. Das Düster des engen Durchgangs vertiefte sich zur Farbe des Todes, schien sie der dunklen, schmächtigen Gestalt zu entleihen, die da mit dem Rücken zur Mauer stand und mit schwacher, doch selbstbewußter Stimme sprach. Für die ungestüme, zähe Lebenskraft des Inspektors war die körperliche Krüppelhaftigkeit des Wesens da vor ihm, das so offenbar lebensunfähig war, besonders eindrucksvoll; denn ihm schien, daß er selbst gegen den Tod völlig gleichgültig gewesen wäre, wenn er das Unglück gehabt hätte, in solchem Leibe geboren zu werden. Das Leben hielt ihn so fest, daß die Übelkeit von vorher in einem leichten Schweißausbruch wiederkam. Das Murmeln der Stadt, das entfernte Wagenrollen in den zwei unsichtbaren Straßen zur Rechten und zur Linken, klang durch die Krümmungen des Durchgangs an sein Ohr, vertraut und anheimelnd. Er war ein Mensch. Aber Hauptinspektor Heat war auch ein Mann und konnte solche Worte nicht hingehen lassen.

»All das ist gut, um Kinder zu schrecken«, sagte er. »Ich kriege Sie schon noch!«

Das war sehr gut gesagt, ohne Geringschätzung, mit fast erhabener Gemütsruhe.

»Zweifellos«, war die Antwort. »Aber Sie könnten keinen besseren Augenblick finden, als den jetzigen, glauben Sie mir. Für einen Mann von wahrer Überzeugung ist dies eine wundervolle Gelegenheit zur Selbstaufopferung. Sie finden keine mehr, die so günstig und so menschlich wäre. Es ist keine Katze in der Nähe, und diese verdammten alten Häuser würden da, wo Sie stehen, einen netten Ziegelhaufen abgeben. Nie wieder kriegen Sie mich mit so geringem Verlust an Leben und Eigentum, die zu beschützen Sie ja bezahlt werden.«

»Sie wissen nicht, zu wem Sie sprechen«, sagte der Inspektor fest. »Wollte ich jetzt Hand an Sie legen, so wäre ich nicht besser, als Sie selbst.«

»Aha, das Spiel!«

»Sie können sicher sein, daß unsere Seite schließlich gewinnen wird. Vielleicht wird es vorher noch notwendig sein, den Leuten beizubringen, daß man einige von euch wie tolle Hunde niederschießen muß, wo man sie trifft. Dann wird eben das unser Spiel sein. Aber hol mich der Teufel, wenn ich weiß, was eures ist. Ich glaube, ihr wißt es selbst nicht einmal. Und erreichen werdet ihr auch nie etwas damit.«

»Inzwischen erreichen Sie etwas dabei – bisher. Und recht mühelos noch dazu. Ich will nicht von Ihrem Gehalt sprechen, – aber haben Sie sich Ihren Namen nicht einfach dadurch gemacht, daß Sie unsere Ziele nicht verstanden haben?«

»Was sind also eure Ziele?« fragte der Hauptinspektor Heat wegwerfend, wie ein Mann, der in Eile ist und merkt, daß er seine Zeit vergeudet.

Der vollkommene Anarchist antwortete mit einem Lächeln, das nicht einmal die dünnen, farblosen Lippen trennte; und der berühmte Inspektor fühlte eine Überlegenheit heraus, die ihn veranlaßte, warnend den Finger zu erheben.

»Geben Sie's auf, was immer es auch sei«, sagte er ermahnend; aber nicht ganz so freundlich, als ließe er sich herab, einem berüchtigten Einbrecher einen guten Rat zu geben. »Geben Sie's auf, Sie werden finden, daß wir zu viele für Sie sind.«

Das starre Lächeln auf des Professors Zügen begann zu flackern, als hätte die Spottsucht, die dahinter stand, ihre Sicherheit verloren. Hauptinspektor Heat fuhr fort:

»Sie glauben mir nicht, was? Nun, Sie brauchen sich nur umzusehen. Wir sind zu Viele für euch. Und überdies packt ihr's auch falsch an. Ihr macht zuviel Krach. Wenn die Diebe ihr Handwerk nicht besser verstünden, dann müßten sie Hungers sterben.«

Die Andeutung, daß eine unbesiegliche Vielheit hinter dem Manne da stand, füllte den Professor mit dumpfer Entrüstung. Sein rätselhaftes spöttisches Lächeln war verschwunden. Die Widerstandskraft der Zahl, die unangreifbare Dummheit einer großen Menge, war das Schreckgespenst seiner freudlosen Einsamkeit. Die Lippen zitterten ihm eine Weile, bevor er heiser hervorstoßen konnte:

»Ich tue meine Arbeit besser als Sie die Ihre.«

»Jetzt ist's genug«, unterbrach der Inspektor hastig; und diesmal lachte der Professor laut hinaus und ging, noch lachend, weiter; aber er lachte nicht lange. Es war ein traurig blickender, kümmerlicher, kleiner Mann, der aus dem engen Durchlaß in das Gewühl der großen Straße tauchte. Er schritt dahin, in der müden Haltung eines Landstreichers, der weiter, immer weiter geht, gleichgültig gegen Regen oder Sonnenschein, abgestumpft gegen den Anblick von Himmel und Erde. Hauptinspektor Heat wiederum trat, nachdem er dem anderen eine Weile nachgesehen hatte, mit der geschäftigen Eile eines Menschen heraus, der zwar auch die Unbill der Witterung mißachtet, aber sich doch seines Auftrags auf dieser Welt und des sittlichen Rückhalts an seinen Artgenossen bewußt ist. Alle Bewohner der ungeheuren Stadt, die Bevölkerung des ganzen Landes und sogar noch die ungezählten Millionen, die überhaupt auf dem Planeten wimmelten, waren auf seiner Seite – bis hinunter zu den Dieben und Bettlern. Ja, sogar auf die Diebe konnte er bei seiner jetzigen Arbeit zählen. Dieses Bewußtsein allgemeinen Rückhalts für seine Tätigkeit stärkte ihm den Mut für den schweren Einzelfall.

Die Frage, die den Hauptinspektor zunächst beschäftigte, war die, wie er dem Kommissar, seinem Abteilungsvorstand, begegnen sollte. Das ist die Frage, die jahraus, jahrein gerade die treuen und gewissenhaften Angestellten beschäftigt. Hier gab der Anarchismus nur die besondere Färbung dazu, nicht mehr. Die Wahrheit zu sagen, hielt Hauptinspektor Heat nicht viel vom Anarchismus. Er maß ihm keine übertriebene Wichtigkeit bei und konnte sich nie dazu bringen, ihn ernst zu nehmen. Ihm schien er mehr grober Unfug; Unfug, ohne den menschlichen Milderungsgrund der Trunkenheit, die ja auch noch eine gewisse gute Stimmung und eine Neigung zu Festlichkeiten voraussetzt. Als Verbrecher waren die Anarchisten ausgesprochen ohne Klasse, ganz ohne Klasse; im Gedanken an den Professor murmelte Inspektor Heat, ohne aus seinem weit ausgreifenden Schritt zu fallen, durch die Zähne:

»Narr!«

Diebe zu fangen, war doch eine ganz andere Sache. Das war ein Sport, ganz so ernst wie jeder andere, wobei unter völlig verständlichen Regeln der beste Mann gewinnt. Für den Verkehr mit Anarchisten gab es keine Regel, und das stieß den Inspektor ab. Es war lauter Narretei, die aber die Öffentlichkeit aufregte, vor Männern in hohen Stellungen nicht Halt machte und sogar noch zwischenstaatliche Beziehungen berührte. Des Inspektors Züge nahmen beim Weiterschreiten den Ausdruck harter, unbarmherziger Verachtung an. Er überflog im Geiste die Schar der ihm unterstellten Anarchisten. Nicht einer davon hatte auch nur annähernd die Tatkraft dieses oder jenes Einbrechers, den er gekannt hatte. Nicht die Hälfte – nicht ein Zehntel.

Im Hauptquartier wurde der Inspektor sofort in das Bureau des Kommissars geführt. Er fand ihn mit der Feder in der Hand über einen großen, mit Papieren übersäten Tisch gebeugt, als wollte er das ungeheure doppelte Tintenfaß aus Bronze und Kristall anbeten. Sprachrohre waren wie Schlangen mit den Köpfen an die Rücklehne des großen Armstuhls gebunden, und ihre klaffenden Mäuler schienen bereit, den Kommissar in die Ellenbogen zu beißen. In dieser Stellung erhob er nur die Augen, deren Lider dunkler waren als sein Gesicht, und ganz verrunzelt. Die Meldungen seien eingelaufen: über jeden einzelnen Anarchisten sei genau Rechenschaft abgelegt worden.

Nach diesen Worten senkte er die Augen, unterzeichnete rasch zwei Aktenbogen, legte dann die Feder nieder, setzte sich zurück und sah seinen bestbekannten Untergebenen forschend an. Der Inspektor hielt den Blick ehrerbietig, doch ohne Verwirrung aus.

»Ich glaube,« begann der Kommissar, »daß Sie doch recht hatten mit Ihrer ersten Behauptung, die Londoner Anarchisten hätten mit der Sache nichts zu tun. Ich erkenne ohne weiteres an, wie vorzüglich der Überwachungsdienst arbeitet. Andererseits stellt Ihre Behauptung für die Öffentlichkeit nichts weiter dar, als das Eingeständnis völliger Unwissenheit.«

Der Kommissar sprach leise, wie tastend. Er schien in Gedanken auf jedem Wort zu verweilen, bevor er zum nächsten überging, als wären die Worte die Stufen der Treppe, auf der sein Verstand sich aus den Wassern des Irrtums emporarbeitete. »Außer etwa Sie hätten etwas Wichtiges aus Greenwich gebracht?« fügte er hinzu.

Der Hauptinspektor begann sofort mit einem streng sachlichen Bericht über seine Untersuchung. Sein Vorgesetzter drehte den Stuhl ein wenig, kreuzte seine dünnen Beine und stützte sich seitwärts auf einen Ellenbogen, indem er die Augen mit einer Hand bedeckte. Seine Lauscherstellung entbehrte nicht einer gewissen eckigen, bekümmerten Anmut. Sein ebenholzschwarzes Haar zeigte an den Schläfen einen Glanz wie von oxydiertem Silber, als er schließlich den Kopf neigte.

Inspektor Heat wartete stumm, und es sah aus, als überdächte er das Gesagte noch einmal, hielte es aber für unangebracht, mehr zu sagen. Der Kommissar unterbrach sein Zögern mit der Frage:

»Sie glauben, daß es zwei Männer waren?«

Der Inspektor hielt das für mehr als wahrscheinlich. Seiner Meinung nach hatten sich die beiden Männer etwa hundert Meter vor dem Observatorium getrennt. Er erklärte auch, wie der andere Mann aus dem Park entflohen sein konnte, ohne beachtet zu werden. Der Nebel hatte ihm geholfen, obwohl er nicht allzu dicht war. Scheinbar hatte er den anderen Mann bis an Ort und Stelle geführt und ihn dann verlassen, um die Tat allein zu vollbringen. Hielt man gegeneinander, wann die alte Frau die beiden aus Maze Hill Station kommen gesehen hatte und wann der Knall gehört worden war, so glaubte der Inspektor annehmen zu können, daß der zweite Mann Greenwich Park Station und den nächsten Zug zur Stadt erreicht haben konnte, als sein Genosse gerade in Stücke flog.

»Richtig in Stücke, wie?« murmelte der Kommissar unter der schirmenden Hand hervor.

Der Inspektor beschrieb in wenigen kräftigen Worten den Anblick der Überbleibsel. »Der Leichenbeschauer wird's nicht leicht haben«, fügte er grimmig hinzu.

Der Kommissar gab seine Augen frei. »Wir werden ihn gar nicht kommen lassen«, meinte er langsam.

Er sah auf und beobachtete geraume Zeit die betont verschlossene Haltung seines Inspektors. Er war im allgemeinen nicht geneigt, sich Illusionen zu machen, und wußte gut, daß eine Abteilung auf die Gnade ihrer Untergebenen angewiesen ist, die ihren eigenen Begriff von Diensteifer haben. Er hatte seine Laufbahn in einer tropischen Kolonie begonnen. Die Arbeit dort hatte ihm Freude gemacht. Es war Polizeiarbeit gewesen. Er hatte mit großem Erfolg gewisse gefährliche geheime Gesellschaften unter den Eingeborenen aufgespürt und unschädlich gemacht. Dann hatte er großen Heimatsurlaub genommen und sich etwas überstürzt verheiratet. Rein äußerlich betrachtet war es eine gute Verbindung, nur bildete sich seine Frau vom Hörensagen eine ungünstige Meinung von dem kolonialen Klima. Andererseits hatte sie einflußreiche Beziehungen. Es war eine ausgezeichnete Verbindung. Die Arbeit aber, die er nun zu tun hatte, machte ihm keine Freude. Er fühlte sich von zu vielen Untergebenen und von zu vielen Vorgesetzten abhängig. Die nahe Gegenwart des eigenartigen Gefühlsmomentes, das man die öffentliche Meinung nennt, drückte auf sein Gemüt und beunruhigte ihn durch seine Unberechenbarkeit. Zweifellos übertrieb er aus Unkenntnis die Tragweite dieses Momentes im Guten wie ihm Bösen – besonders im Bösen; und die rauhen Ostwinde des englischen Frühlings (die seiner Frau so zusagten) vermehrten sein allgemeines Mißtrauen gegen die menschlichen Beweggründe und gegen die Wirksamkeit menschlicher Einrichtungen. Ganz besonders erschien ihm die Bureauarbeit durchaus nichtig, in diesen Tagen, die ihn fortwährend an seine empfindliche Leber gemahnten.

Er stand langsam auf, indem er sich zu seiner vollen Höhe entfaltete, und trat mit einem Schritt, dessen Wucht an dem schlanken Mann verwunderlich schien, zum Fenster hin. An den Scheiben rann der Regen nieder, und die kurze Straße, in die er hinuntersah, lag naß und leer, wie von einer plötzlichen Flut reingespült. Es war ein böser Tag, der mit rauhem Nebel begonnen hatte und nun mit kaltem Regen endete. Die kümmerlichen Gasflammen flackerten im Wasserdunst. Und jede Auflehnung eines bedrückten Menschenkindes gegen das elende Wetter erschien hoffnungslos überheblich und aller Verachtung und erstaunten Mitleids wert.

»Schrecklich, schrecklich!« dachte der Kommissar, während er die Stirne gegen die Scheiben drückte. »Jetzt haben wir diese Bescherung schon seit zehn Tagen. Nein, seit vierzehn – vierzehn Tagen.« Er blieb eine Zeitlang völlig gedankenlos. Die gänzliche Leere in seinem Hirn hielt etwa drei Sekunden an. Dann warf er nachlässig hin: »Haben Sie nach diesem zweiten Mann umfassende Nachforschungen eingeleitet?«

Er zweifelte nicht, daß alles Erforderliche geschehen war. Inspektor Heat beherrschte die Kunst der Menschenjagd von Grund auf, und überdies handelte es sich hier um herkömmliche Schritte, die ohne weiters von jedem Anfänger getan worden wären. Einige Nachfragen unter Fahrkartensammlern und den Türhütern der beiden kleinen Bahnstationen würden dem schon gegebenen Bilde der beiden Männer noch einige Züge hinzufügen. Die Durchsicht der gesammelten Fahrkarten mußte sofort ergeben, woher sie an jenem Morgen gekommen waren. Das alles lag so klar auf der Hand, daß es bestimmt nicht versäumt worden war. Ganz wie erwartet, bekundete der Inspektor auch, daß all dies sofort veranlaßt worden war, nachdem die alte Frau ihre Aussage gemacht hatte. Er nannte den Namen einer Station. »Daher sind sie gekommen, Herr«, fuhr er fort. »Der Beamte an der Sperre, der in Maze Hill die Fahrkarten abnahm, erinnerte sich an zwei Burschen, auf die die Beschreibung paßte. Er hielt sie für zwei bessere Handwerker, Schildermaler oder Anstreicher. Der große Mann stieg nach rückwärts aus einem Abteil dritter Klasse aus, mit einer großen Blechkanne in der Hand. Auf dem Bahnsteig gab er sie einem blonden Jungen zu tragen, der hinter ihm dreinkam. All dies stimmt genau mit dem überein, was die alte Frau dem Schutzmann in Greenwich angab.«

Der Kommissar, der immer noch aus dem Fenster hinaussah, drückte Zweifel darüber aus, daß diese beiden Männer irgend etwas mit dem Anschlag zu tun haben sollten. Die ganze Annahme war auf den Aussagen eines alten Hökerweibes aufgebaut, das von einem davonstürzenden Mann fast umgerannt worden war. Die Quelle war nicht besonders vertrauenswürdig, wenn man nicht an plötzliche Erleuchtung glauben wollte, was doch auch schwer denkbar schien.

»Ganz ehrlich – glauben Sie an eine Erleuchtung?« fragte er ironisch, immer mit dem Rücken zum Zimmer und wie verloren in die Betrachtung der unendlichen Stadt, deren Umrisse in der Dämmerung verschwammen. Er wandte nicht einmal den Kopf, als er hinter sich das Wort »Vorsehung« hörte, das sein erster Untergebener vor sich hinmurmelte, der Mann, dessen Name gelegentlich in den Tagesblättern erschien und dem großen Publikum vertraut war als der eines seiner eifrigsten und schwerstarbeitenden Beschützer. Inspektor Heat hob ein wenig die Stimme: »Ich konnte kleine Blechsplitter mit Bestimmtheit feststellen«, sagte er. »Das ist wohl eine starke Bekräftigung.«

»Und die Leute kamen von der kleinen Dorfstation«, grübelte der Kommissar halblaut vor sich hin. Man hatte ihm gesagt, daß der Name dieser Station auf zweien von den drei Fahrkarten gestanden war, die bei jenem Zug in Maze Hill abgegeben worden waren. Die dritte hatte einem Hausierer aus Gravesend gehört, der dem Beamten gut bekannt war. Der Inspektor machte diese Angabe in abschließendem Tone, mit ein wenig übler Laune, wie ergebene Diener sie gerne zeigen, im Bewußtsein ihrer Treue und des Wertes ihrer Dienstleistung. Und dennoch kehrte sich der Kommissar nicht ab von der Dunkelheit draußen, die endlos war wie die See.

»Zwei fremde Anarchisten aus dem kleinen Ort«, sagte er wie zu der Fensterscheibe. »Das ist wohl recht unwahrscheinlich.«

»Jawohl, Herr. Aber es wäre noch unwahrscheinlicher, wenn nicht der Michaelis in einem Landhaus in der Nachbarschaft säße.«

Beim Klang dieses Namens, der unerwartet in die langweilige Geschichte hineinplatzte, ließ der Kommissar unvermittelt den Gedanken an die abendliche Whistpartie in seinem Klub fallen. Dies war die tröstlichste seiner Lebensgewohnheiten, wobei er sein Geschick ohne die Unterstützung von Untergebenen entfalten konnte. Er spielte in seinem Klub von fünf bis sieben, bevor er zum Abendessen heimging, und in diesen zwei Stunden vergaß er alles, was seinem Leben fehlte, als wäre das Spiel eine wohltätige Arznei, die das Bohren innerer Unzufriedenheit übertäubte.

Seine Mitspieler waren der schwermütige Herausgeber einer bekannten Zeitschrift, ein schweigsamer alter Rechtsanwalt mit listigen kleinen Augen und ein äußerst kriegerischer, geradsinniger alter Oberst mit unruhigen, braunen Händen. Diese Drei waren lediglich Klubbekannte. Er traf sie nirgends sonst als am Spieltisch. Sie alle aber schienen sich am Spieltisch als Leidensgefährten zu fühlen, als suchten sie ein Gegenmittel gegen geheime Leiden, und täglich, wenn die Sonne sich auf die zahllosen Dächer der Stadt senkte, empfand er eine weiche, warme Ungeduld, die ihm wie das Gefühl einer warmen, sicheren Freundschaft die Berufsarbeit erleichterte. Jetzt aber verließ ihn diese erfreuliche Empfindung mit einem Schlag, und an ihre Stelle trat eine plötzliche, verstärkte Anteilnahme an seiner beruflichen Aufgabe – dem Schutz der Gesellschaft – eine nicht durchaus geziemende Anteilnahme, die am besten vielleicht als ein jähes und unvermitteltes Mißtrauen gegen die Waffe in seiner Hand zu bezeichnen war.

 


 << zurück weiter >>