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Als Herr Verloc nach zehn Tagen vom Festland wiederkam, da zeigte es sich, daß weder sein Geist sich an den fremden Wundern erfrischt, noch seine Stimmung sich durch die Heimkehrfreude gebessert hatte. Beim Rasseln der Ladenglocke trat er mit dem Ausdruck finsterer und verärgerter Erschöpfung ein. Den Koffer in der Hand, schritt er mit gesenktem Kopf hinter den Ladentisch und ließ sich in den Stuhl fallen, als wäre er den ganzen Weg von Dover her gegangen. Es war früh am Morgen. Stevie, der gerade die einzelnen Gegenstände im Ladenfenster abstaubte, drehte sich um, und gaffte ihn in ehrfürchtigem Schreck an.
»Da«, sagte Herr Verloc und stieß die Reisetasche auf dem Boden leicht an. Lind Stevie stürzte sich darauf, packte sie und trug sie davon, mit jubelndem Diensteifer. Er war so flink, daß Herr Verloc merklich überrascht war.
Beim Klang der Ladenglocke hatte Frau Neale, die eben dabei war, das Kamingitter im Wohnzimmer zu schwärzen, durch die Türe gespäht, sich dann von den Knien erhoben und war in ihrer Schürze, grimmig über die ewige Arbeit, Frau Verloc in die Küche sagen gegangen, daß »der Herr zurückgekommen sei«.
Winnie kam nur bis zur inneren Ladentür.
»Du wirst frühstücken wollen«, sagte sie aus einiger Entfernung.
Herr Verloc machte eine leichte Handbewegung, wie um einen unmöglichen Vorschlag abzuwehren. Sobald er aber ins Wohnzimmer gelockt worden war, wies er die vorgesetzte Nahrung nicht zurück. Er aß wie in einem Gasthaus, den Hut weit zurückgeschoben, während die Flügel seines schweren Überrocks zu beiden Seiten in Dreiecken vom Stuhl herunterhingen. Und über die Länge des Tisches mit dem Wachstuchüberzug weg unterhielt Winnie, seine Frau, das übliche Frauengespräch, das gewiß den Umständen seiner Rückkehr nicht minder geschickt angepaßt war als die Reden der Penelope bei der Rückkehr des wandernden Odysseus. Allerdings hatte Frau Verloc während der Abwesenheit ihres Gatten keine Webearbeit verrichtet. Doch hatte sie alle Räume im oberen Stock gründlich reinemachen lassen, hatte einige Waren verkauft und Herrn Michaelis mehrmals empfangen. Dieser hatte ihr beim letztenmal gesagt, daß er nun aufs Land hinausginge, um in einem Landhaus irgendwo an der London-Chatham- und Dover-Strecke zu wohnen. Auch Karl Yundt war einmal gekommen, von »seiner gottlosen, alten Haushälterin« am Arm geführt. Er war »ein ekelhafter, alter Mann.« Von dem Genossen Ossipon, den sie erst kürzlich empfangen hatte, mit steinernem Gesicht und leerem Blick hinter dem Ladentisch verschanzt, sagte sie nichts; das stumme Gedenken an den muskelstarken Anarchisten machte sich äußerlich in einer kurzen Pause und einem leisen Erröten bemerkbar. Sobald wie möglich erwähnte sie auch ihren Bruder Stevie und betonte, daß der Junge recht traurig gewesen sei.
»Daran ist nur die Mutter schuld, weil sie so von uns fortgegangen ist.«
Herr Verloc sagte weder »verdammt«, noch selbst »Stevie soll der Teufel holen«, und Frau Verloc, die ja nicht in seinen Gedanken lesen konnte, vermochte den Edelmut dieser Zurückhaltung nicht zu werten.
»Nicht, als ob er weniger als sonst arbeitete«, fuhr sie fort. »Er hat sich recht nützlich gemacht. Man sollte meinen, daß er sich für uns gar nicht genug tun kann.«
Herr Verloc warf einen flüchtigen Blick auf Stevie, der zu seiner Rechten saß, zart und blaß, den rosigen Mund offen. Es war kein kritischer Blick. Es war keine Absicht darin. Und wenn Herr Verloc einen Augenblick lang dachte, daß der Bruder seiner Frau außergewöhnlich unnütz schien, so war das nur ein nebensächlicher Gedanke, ohne die Kraft und Dauerhaftigkeit, die einen Gedanken mitunter befähigt, die Welt zu bewegen. Herr Verloc lehnte sich zurück und entblößte den Kopf. Bevor sein ausgestreckter Arm den Hut niedersetzen konnte, sprang Stevie darauf zu und trug ihn hochachtungsvoll in die Küche hinaus. Und wieder war Herr Verloc überrascht.
»Du könntest alles mit dem Jungen tun«, sagte Frau Verloc mit unterstrichener Gemütsruhe. »Er würde für dich durchs Feuer gehn. Er –« Sie unterbrach sich, aufmerksam das Ohr der Küchentüre zugekehrt.
Dort scheuerte Frau Neale den Boden. Bei Stevies Eintritt stöhnte sie kläglich auf, da sie beobachtet hatte, daß er leicht dazu zu bringen war, den Schilling, den ihm seine Schwester Winnie von Zeit zu Zeit schenkte, zum Wohle ihrer unmündigen Kinder zu opfern. Auf allen Vieren zwischen den Wasserpfützen, naß und schmierig, wie eine zahme Amphibie, die von Aschenresten und schmutzigem Wasser lebt, begann sie die übliche Leier: »Du hast es leicht, brauchst nichts zu arbeiten, wie ein Gentleman.« Und sie ließ das ewige Klagelied der Armut folgen, mit gefühlvoller Bettelei unterlegt und durch den widrigen Dunst von billigem Rum und Seifenlauge unterstützt. Sie scheuerte gewaltig, keuchte dabei und sprach mit Zungenfertigkeit. Es war ihr Ernst. Zu beiden Seiten ihrer dünnen, roten Nase schwammen ihre entzündeten, glasigen Augen in Tränen, da sie tatsächlich am Morgen das Bedürfnis nach einer Erfrischung verspürte.
Im Wohnzimmer machte Frau Verloc die kundige Bemerkung:
»Da erzählt Frau Neale wieder die Jammermärchen von ihren kleinen Kindern. Die können nicht mehr alle so klein sein, wie sie sie hinstellt. Einige von ihnen müssen jetzt schon groß genug sein, um für sich selbst sorgen zu können. Stevie ärgert sich nur darüber.«
Die Worte wurden bekräftigt durch einen Laut, der von dem Aufschlagen einer Faust auf den Küchentisch herzurühren schien. Infolge des üblichen Ablaufs seiner Gefühle war Stevie zornig geworden, als er merkte, daß er keinen Schilling in der Tasche hatte. Angesichts der Unfähigkeit, sofort die Leiden von Frau Neales »Kleinen« zu lindern, empfand er den Wunsch, es sollte irgendjemand dafür gestraft werden. Frau Verloc erhob sich und ging in die Küche, um »dem Unsinn ein Ende zu machen«. Das tat sie nachdrücklich, aber freundlich. Sie wußte sehr gut, daß Frau Neale, sobald sie ihr Geld bekam, sofort in eine billige, übel berüchtigte Schenke um die Ecke ging, um dort scharfe Getränke zu sich zu nehmen – eine unvermeidliche Station auf dem Kreuzesweg ihres Daseins. Die Randbemerkung zu dieser Gewohnheit wirkte aus Frau Verlocs Munde unerwartet tiefgründig, da sie ja von einer Person kam, die im allgemeinen nicht unter die Oberfläche einzudringen pflegte. »Freilich, – womit sollte sie sich aufrechterhalten? Wäre ich Frau Neale, ich machte es auch nicht anders.«
Am selben Nachmittag, als Herr Verloc schreckhaft aus dem letzten einer langen Reihe von Nickerchen vor dem Wohnzimmerkamin auffuhr und seine Absicht äußerte, spazieren zu gehen, sagte Winnie vom Laden her:
»Ich wollte, du nähmest den Jungen mit, Adolf.«
Zum drittenmal an diesem Tage war Herr Verloc überrascht. Er starrte seine Frau verständnislos an. Sie fuhr in ihrer ruhigen Art fort. Sobald der Junge nichts mehr zu tun hatte, hockte er trübsinnig im Hause herum. Das bedrückte sie; es ging ihr auf die Nerven, gestand sie ein. Und bei der ruhigen Winnie klang das wie Übertreibung. Tatsächlich trauerte Stevie in der aufreizenden Art eines unglücklichen Haustiers. So ging er gerne in den Oberstock hinauf, setzte sich zu Füßen der großen Uhr auf den Fußboden, die Knie hochgezogen und den Kopf in die Hand gestützt. Es war aufregend, sein blasses Gesicht zu sehen, aus dem die großen Augen in die Dunkelheit glänzten. Schon der Gedanke, daß er da droben saß, war unerfreulich.
Herr Verloc gewöhnte sich an die überraschende Neuheit des Vorschlags. Er hatte sein Weib nach der rechten Art gerne – das heißt mit Neigung zur Großmut. Nur ein gewichtiger Einwand drängte sich ihm auf, und er sprach ihn aus.
»Er wird mich vielleicht aus den Augen verlieren und dann auf der Straße verlorengehen«, sagte er.
Frau Verloc schüttelte verneinend den Kopf.
»Das tut er nicht. Du kennst ihn nicht. Der Junge betet dich ja an. Wenn du ihn aber wirklich verlierst –«
Frau Verloc unterbrach sich für einen Augenblick, wirklich nur für einen Augenblick.
»– dann gehe du nur ruhig weiter und kümmere dich um nichts. Ihm geschieht nichts. Er wird sicher schnell genug wieder hierher kommen.«
Diese Zuversicht verhalf Herrn Verloc zu der vierten Überraschung an diesem Tage.
»Wird er das?« knurrte er zweifelnd. Aber vielleicht war sein Schwager nicht ganz so dumm, wie er aussah. Seine Frau mußte das am besten wissen. Er wandte seine schweren Augen ab und sagte heiser: »Nun gut, soll er halt mitgehn.« Dann verfiel er wieder den Klauen des schwarzen Sorgengespenstes, das sonst wohl mit Vorliebe hinter Reitern sitzt, sich aber auch gut an die Fersen von Leuten zu heften versteht, die sich keine Pferde leisten können – wie z. B. Herr Verloc. Winnie, unter der Ladentür, sah diesen düsteren Begleiter Herrn Verlocs nicht. Sie sah den beiden nach, wie sie die schmierige Gasse hinuntergingen, der eine groß und dick, der andere klein und schmächtig, mit dünnem Hals, die spitzen Schultern leicht gehoben unter den großen, halb durchsichtigen Ohren. Ihre Überzieher waren aus dem gleichen Stoff, ihre Hüte waren schwarz und rund. Angeregt durch die Gleichheit der Kleidung, gab sich Frau Verloc einem Traume hin.
»Sie könnten Vater und Sohn sein«, sagte sie sich. Sie dachte auch daran, daß Herr Verloc ein so guter Vater war, wie er dem armen Stevie je vergönnt sein konnte. Sie verhehlte sich nicht, daß es ihr Werk war. Und mit stolzer Freude beglückwünschte sie sich zu einem gewissen Entschluß, den sie einige Jahre vorher gefaßt hatte. Er hatte ihr einige Anstrengung und sogar ein paar Tränen gekostet.
Sie beglückwünschte sich noch mehr, als sie im Laufe der nächsten Tage bemerkte, daß Herr Verloc sich an Stevies Begleitung freundlich zu gewöhnen schien. Wenn er nun zum Spazierengehen fertig war, rief Herr Verloc laut nach dem Jungen, nicht viel anders wohl, als ein Mann dem Haushund pfeift, wenn auch vielleicht in anderem Tone. Es war zu bemerken, daß zu Hause Herr Verloc Stevie immer wieder neugierig betrachtete. Seine eigene Haltung war verändert. Wenn auch noch schweigsam, so war er doch nicht mehr so verschlossen. Frau Verloc fand, daß er zuweilen recht fahrig war. Immerhin konnte auch das als eine Besserung gelten. Stevie wiederum hockte nicht mehr zu Füßen der Uhr, sondern flüsterte statt dessen in allen Ecken drohend vor sich hin. Auf die Frage: »Was sagst du da, Stevie?« pflegte er nur den Mund zu öffnen und seine Schwester anzuschielen. An schlimmen Tagen ballte er auch ohne ersichtliche Ursache die Fäuste und konnte mitunter dabei ertappt werden, wie er finster auf die Wand starrte, während Bleistift und Papier, die man ihm gegeben hatte, damit er Kreise zeichne, unbenützt auf dem Küchentisch lagen. Das war ein Wechsel, aber es war keine Besserung. Frau Verloc, für die alle diese Anzeichen unter das Gesamtbild der Aufregung fielen, begann zu fürchten, daß Stevie mehr von den Unterhaltungen ihres Gatten mit dessen Freunden hörte, als gut für ihn war. Während seiner »Spaziergänge« traf Herr Verloc natürlich mit unterschiedlichen Leuten zusammen und redete mit ihnen. Es konnte kaum anders sein. Seine Spaziergänge waren ein Hauptteil seiner Außenbeschäftigung, die seine Frau niemals zu ergründen versucht hatte. Frau Verloc fand die Sachlage etwas heikel, nahm sie aber mit derselben undurchdringlichen Ruhe auf, die von den Ladenkunden stets bewundert wurde und auch die anderen Besucher dazu brachte, etwas erstaunt ihren Abstand zu wahren. Nein! Sie fürchtete, daß es Dinge gab, die Stevie besser nicht hören sollte, sagte sie ihrem Gatten. Es regte den armen Jungen nur auf, weil er ja doch nichts daran ändern konnte. Niemand konnte das.
Es war im Laden. Herr Verloc erwiderte nichts. Er widersprach nicht, wenn die Versuchung dazu auch nahe lag. Aber er unterließ es, seine Frau darauf hinzuweisen, daß der Gedanke, Stevie zum Begleiter seiner Spaziergänge zu machen, von ihr und von niemand sonst ausgegangen war. In diesem Augenblick wäre einem unparteiischen Beobachter Herr Verloc übermenschlich erschienen in seiner Großmut. Er nahm eine kleine Pappschachtel von einem Bord, sah nach, ob der Inhalt in Ordnung sei, und setzte sie bedächtig auf den Ladentisch. Erst als dies geschehen war, brach er das Schweigen mit der Feststellung, daß es Stevie zweifellos gut tun würde, für eine Zeit aus der Stadt hinaus zu kommen; nur vermute er, daß seine Frau ohne ihn nicht fertig werden würde.
»Nicht fertig werden ohne ihn,« wiederholte Frau Verloc langsam, »ich sollte ohne ihn nicht fertig werden, wenn es zu seinem Besten ist! Was für ein Einfall! Natürlich kann ich ohne ihn fertig werden. Aber er kann ja doch nirgends hin.«
Herr Verloc zog Packpapier und eine Rolle Bindfaden heraus und murmelte dabei, daß Michaelis in einem kleinen Häuschen auf dem Land lebte. Michaelis würde gerne einen Schlafraum an Stevie abtreten. Dort gab es keinen Besuch und keine Gespräche. Michaelis schrieb an einem Buch.
Frau Verloc erklärte ihre Zuneigung für Michaelis; erwähnte ihre Abneigung gegen Karl Yundt, den »ekligen alten Mann«; und von Ossipon sagte sie nichts. Stevie selbst würde sich natürlich sehr freuen. Herr Michaelis war ja immer so nett und freundlich zu ihm. Er schien den Jungen so gerne zu haben. Nun, der Junge war ja auch ein guter Junge.
»Auch du scheinst ihn in letzter Zeit richtig liebgewonnen zu haben«, fügte sie nach einer Weile mit ihrer unerschütterlichen Selbstsicherheit hinzu.
Herr Verloc, der eben die Pappschachtel postfertig einpackte, riß durch eine heftige Bewegung den Bindfaden ab und murmelte verschiedene Flüche insgeheim vor sich hin. Dann erhob er seine Stimme zum üblichen heiseren Flüsterton und kündigte seine Bereitwilligkeit an, Stevie selbst aufs Land hinaus zu bringen und ihn Michaelis in Obhut zu geben.
Schon am nächsten Tag führte er diese Absicht aus. Stevie machte keinen Einwand. Er schien eher erfreut, wenn auch etwas erstaunt. Er ließ seinen kindlichen Blick wiederholt forschend auf Herrn Verlocs wuchtigen Zügen ruhen, besonders dann, wenn seine Schwester ihn eben nicht ansah. Sein Ausdruck war stolz, gelehrig und gespannt, wie der eines kleinen Kindes, dem man zum erstenmal eine Schachtel Zündhölzer anvertraut hat mit der Erlaubnis, Licht zu machen. Und Frau Verloc, entzückt von ihres Bruders Fügsamkeit, empfahl ihm, sich auf dem Lande nicht unnötig die Kleider zu beschmutzen. Daraufhin sah Stevie seine Schwester, Wärterin und Gönnerin mit einem Blick an, in dem zum erstenmal in seinem Leben die kindliche Vertrauensseligkeit zu fehlen schien. Ein Schimmer von Überlegenheit lag darin. Frau Verloc lächelte.
»Du lieber Gott! Du brauchst nicht beleidigt zu sein. Du weißt ja doch, daß du dich bei jeder Gelegenheit recht schmutzig machst, Stevie.«
Herr Verloc war bereits einige Schritte vorausgegangen.
So sah sich Frau Verloc öfter als gewöhnlich allein, nicht nur im Laden, sondern auch im Haus, infolge der Heldentat ihrer Mutter und Stevies Sommerfrische. Denn Herr Verloc mußte seine Gänge machen. Noch länger als sonst war sie an dem Tage allein, an dem der Bombenanschlag in Greenwich Park geschah, denn damals war Herr Verloc frühmorgens weggegangen und erst in der Dämmerung zurückgekehrt. Es machte ihr nichts aus, allein zu sein. Sie hatte auch keine Sehnsucht, auszugehen. Das Wetter war zu schlecht, und der Laden war gemütlicher als die Gasse. Sie saß mit einer Näharbeit hinter dem Ladentisch und sah nicht davon auf, als Herr Verloc unter dem schrillen Klappern der Glocke eintrat. Sie hatte seinen Schritt schon auf dem Pflaster draußen erkannt.
Sie sah nicht auf. Als aber Herr Verloc schweigend, den Hut in die Stirne gezogen, zur Wohnzimmertür ging, sagte sie heiter:
»Was für ein abscheulicher Tag. Hast du vielleicht Stevie besucht?«
»Nein«, antwortete Herr Verloc leise und schlug die Glastür des Wohnzimmers unerwartet heftig hinter sich zu.
Frau Verloc blieb einige Zeit ruhig sitzen, mit der Arbeit im Schoß, bevor sie diese unter den Ladentisch legte und aufstand, um das Gas anzuzünden. Als dies geschehen war, durchquerte sie auf dem Wege zur Küche das Wohnzimmer. Herr Verloc würde seinen Tee haben wollen. Da sie sich der Macht ihrer Reize voll bewußt war, so erwartete Winnie von ihrem Gatten im täglichen Verkehr ihres ehelichen Lebens keinerlei übertriebene Höflichkeit oder Liebenswürdigkeit; leere und veraltete Formen, heutzutage auch in den höchsten Kreisen aufgegeben, und ihrer eigenen Klasse von jeher fremd. Sie erwartete keine Ritterlichkeiten von ihm. Aber er war ein guter Gatte, und sie achtete seine Rechte gebührend.
Frau Verloc wollte durch das Wohnzimmer in die Küche gehen, um sich dort ihren häuslichen Pflichten zu widmen, mit der vollendeten Seelenruhe einer Frau, die sich der Macht ihrer Reize bewußt ist. Aber ein leises, ganz leises, klapperndes Geräusch traf ihr Ohr. Sonderbar und unverständlich, nahm es Frau Verlocs Aufmerksamkeit gefangen. Sobald ihr seine Ursache klar wurde, blieb sie erstaunt und betroffen stehen. Sie strich an der Schachtel, die sie in der Hand hielt, ein Zündholz an und entzündete einen der beiden Gasbrenner über dem Wohnzimmertisch, der schadhaft war und darum erst wie erstaunt pfiff und dann wie eine Katze schnurrte.
Herr Verloc hatte gegen seine sonstige Gewohnheit seinen Überrock abgeworfen. Er lag auf dem Sofa. Sein Hut, den er gleichfalls abgeworfen haben mußte, lag, umgedreht, unter dem Sofa. Er selbst hatte sich einen Stuhl vor den Kamin gezogen, hatte die Füße innerhalb des Gitters gestellt, hielt den Kopf in beiden Händen und beugte sich tief zu der schwachen Glut hinunter. Seine Zähne klapperten mit unwiderstehlicher Heftigkeit, so daß sein gewaltiger Rücken mitzitterte. Frau Verloc war erschreckt.
»Du bist naß geworden«, sagte sie.
»Nicht sehr«, brachte Herr Verloc mit einem Schaudern mühsam heraus.
Mit größter Anstrengung unterdrückte er das Zähneklappern.
»Du solltest dich in meine Hände geben«, sagte sie ehrlich besorgt.
»Ich denke nicht daran«, bemerkte Herr Verloc und schnaufte schwer.
Sicherlich habe er es fertig gebracht, sich zwischen sieben Uhr früh und fünf Uhr nachmittag böse zu erkälten. Frau Verloc sah auf seinen gebeugten Rücken.
»Wo bist du heute gewesen?« fragte sie.
»Nirgends«, antwortete Herr Verloc leise. Er sprach durch die Nase, wie erstickt. Seine Stellung deutete auf übelste Laune oder auf schwere Kopfschmerzen. Die Kürze und Unaufrichtigkeit seiner Antwort kam in dem toten Schweigen des Zimmers peinlich zur Geltung. Er schnaufte entschuldigend und verbesserte sich:
»Ich war auf der Bank.«
Frau Verloc wurde aufmerksam.
»Was?« sagte sie gleichmütig. »Wozu denn?«
Herr Verloc murmelte sichtlich widerwillig, das Gesicht über die Glut gebeugt:
»Habe das Geld abgehoben.«
»Was soll das? Alles?«
»Jawohl, alles.«
Frau Verloc breitete sorgfältig das kleine Tischtuch aus, nahm zwei Messer und zwei Gabeln aus der Schublade und hielt in ihrem zielbewußten Tun plötzlich inne.
»Warum hast du das getan?«
»Werde es vielleicht bald brauchen«, schnaufte Herr Verloc, dessen vorbedachte Offenherzigkeit zu Ende ging.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte seine Frau in ganz nebensächlichem Tone, blieb aber stockstill zwischen Tisch und Anrichte stehen.
»Du weißt, daß du mir vertrauen kannst«, sagte Herr Verloc in den Kamin hinein, mit bärbeißiger Empfindsamkeit.
Frau Verloc wandte sich langsam der Anrichte zu und meinte bedächtig:
»O ja, ich kann dir vertrauen.«
Und sie nahm ihre Tätigkeit wieder auf, legte zwei Teller auf, holte Brot und Butter, ging ruhig zwischen Tisch und Anrichte hin und her, im stillen Frieden ihres Hauses. Als sie eben die Marmelade herausnehmen wollte, überlegte sie sachgemäß: »Er wird Hunger haben, da er doch den ganzen Tag weg war«, und dabei kehrte sie nochmals zur Anrichte zurück, um den kalten Rindsbraten zu holen. Sie setzte ihn unter den schnurrenden Gashahn, warf ihrem reglosen Gatten, der immer noch das Feuer hütete, einen Blick zu und ging (zwei Stufen) in die Küche hinunter. Erst als sie mit Vorlegemesser und ‑gabel in der Hand zurückkehrte, sprach sie wieder:
»Hätte ich dir nicht vertraut, dann hätte ich dich nicht geheiratet.«
Tief in die Feueröffnung gebeugt, den Kopf in beiden Händen vergraben, saß Herr Verloc wie schlafend da. Winnie machte den Tee und rief dann halblaut:
»Adolf.«
Herr Verloc erhob sich sofort und taumelte ein wenig, bevor er sich zu Tisch setzte. Seine Gattin prüfte die Schneide des Vorlegemessers, legte es auf die Platte und machte ihn auf den kalten Rindsbraten aufmerksam. Er beachtete die Anregung nicht und hielt das Kinn auf die Brust gesenkt.
»Bei Erkältung soll man essen«, bemerkte Frau Verloc lehrhaft.
Er sah auf und schüttelte den Kopf. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein Gesicht gerötet. Seine Finger hatten sein Haar zerwühlt. Er sah verkommen aus, als wäre er nach schwerer Ausschweifung von Übelkeit, Reue und Ekel bedrückt. Aber Herr Verloc war kein Mann der Ausschweifungen. Seine Führung war einwandfrei. Sein Aussehen mochte von einer fiebrigen Erkältung kommen. Er trank drei Tassen Tee, enthielt sich aber der Nahrung völlig. Er zeigte sogar Widerwillen, als Frau Verloc ihm zuredete, sodaß diese schließlich sagte:
»Hast du nicht nasse Füße? Du solltest lieber deine Pantoffeln anziehn. Heute abend gehst du ja doch nicht mehr aus.«
Herr Verloc gab durch verdrießliche Knurrlaute und Zeichen zu verstehen, daß er keine nassen Füße habe und daß es ihm überhaupt gleichgültig sei. Die Anregung bezüglich der Pantoffeln wurde, als außerhalb seiner Absichten liegend, nicht beachtet. Nur die Frage eines nochmaligen Ausgangs fand eine unerwartete Aufnahme. Herr Verloc dachte bestimmt nicht darüber nach, ob er abends ausgehen würde. Seine Gedanken befaßten sich mit weiterreichenden Plänen. Aus übellaunigen, abgerissenen Sätzen ging hervor, daß Herr Verloc die Möglichkeit der Auswanderung ins Auge gefaßt hatte. Es war nicht ganz klar, ob er an Frankreich oder Kalifornien dachte.
Das war so gänzlich unerwartet, unwahrscheinlich und unbegreiflich, daß es seine Erklärung um alle Wirkung brachte. Frau Verloc sagte, so ruhig, als hätte ihr Gatte ihr mit dem Weltuntergang gedroht:
»Was für ein Einfall!«
Herr Verloc erklärte, daß er alles und jedes bis zum Ekel über hätte und außerdem – – Sie unterbrach ihn:
»Du bist bös erkältet.«
Es war allerdings offenbar, daß Herr Verloc sich nicht in seinem gewohnten Zustande befand, weder körperlich noch geistig. Eine dumpfe Unentschlossenheit zwang ihn zum Schweigen. Dann murmelte er einige verschwommene Gemeinplätze über zwingende Notwendigkeit.
»Wir werden es müssen«, wiederholte Winnie, die, mit gekreuzten Armen zurückgelehnt, ihrem Gatten gegenübersaß. »Ich möchte wohl wissen, wer dich zwingen wird? Du bist kein Sklave. Niemand braucht ein Sklave zu sein in diesem Lande – und mach' du dich nicht selbst dazu.« Sie hielt inne und fuhr dann mit bezwingender Unberührtheit fort:
»Das Geschäft geht nicht gar so schlecht. Du hast ein gemütliches Heim.«
Sie blickte im Wohnzimmer herum, von der Anrichte in der Ecke zum guten Feuer im Kamin. Traulich geborgen hinter dem Laden voll zweifelhafter Ware, mit dem geheimnisvoll düsteren Fenster und der verdächtig in das dunkle Gäßchen offenstehenden Türe, war es doch ein ehrbares Heim in allem, was häuslichen Besitz und häusliche Gemütlichkeit anbelangte. Ihre hingebende Liebe vermißte darin nur ihren Bruder Stevie, der nun irgendwo in Kent eine verregnete Sommerfrische genoß, unter der Aufsicht des Herrn Michaelis. Sie vermißte ihn schmerzlich, da sie sich leidenschaftlich als Beschirmerin fühlte. Dies war auch des Jungen Heim; das Dach, die Anrichte, der glimmende Kamin. Bei diesem Gedanken erhob sich Frau Verloc, ging zum anderen Ende des Tisches und sagte aus vollem Herzen:
»Und du hast mich doch nicht satt?«
Herr Verloc gab keinen Laut. Winnie lehnte sich von rückwärts über seine Schulter und preßte ihre Lippen auf seine Stirne. So verharrte sie. Kein Flüstern drang von der Außenwelt bis zu ihnen. Der Klang von Schritten draußen auf dem Pflaster verlor sich in der dumpfen, brütenden Stille des Ladens. Nur der Gashahn über dem Tisch schnurrte. So lange die Berührung dieses unerwarteten und lange dauernden Kusses währte, saß Herr Verloc, beide Hände um die Armlehne seines Stuhls gekrallt, in bildhafter Unbeweglichkeit da. Sobald der Druck von ihm genommen wurde, ließ er den Stuhl fahren, erhob sich und stellte sich vor den Kamin. Er wandte nicht länger dem Zimmer den Rücken zu. Mit seinem verschwollenen Gesicht, das nach Vergiftung aussah, folgte er den Bewegungen seiner Frau.
Frau Verloc ging unbekümmert herum und räumte den Tisch ab. Ihre ruhige Stimme erging sich in Betrachtungen über das angeschlagene Thema. Es hielt keiner Prüfung stand. Sie verurteilte es von jedem Gesichtspunkt aus. Ihre einzige ernstliche Sorge aber war Stevies Wohl. Im Hinblick auf diese Möglichkeit erschien er ihr hinlänglich »eigen«, um nicht einfach mitgenommen zu werden. Das war das einzige. Indem sie aber um diesen Hauptpunkt herumredete, steigerte sie sich in echte Erregung hinein. Unterdessen legte sie mit heftigen Bewegungen eine Schürze an, um das Geschirr abzuwaschen. Und als würde sie vom Klang ihrer eigenen Stimme, die ohne Widerspruch blieb, noch mehr aufgereizt, sagte sie endlich mit beißender Schärfe:
»Wenn du fortgehst, dann wirst du ohne mich gehen müssen.«
»Du weißt gut, daß ich das nicht täte«, sagte Herr Verloc heiser, und die klanglose Stimme, die er für den Hausgebrauch zu benützen pflegte, zitterte vor rätselhafter Bewegung.
Frau Verloc bereute ihre Worte bereits. Sie hatten häßlicher geklungen, als sie es beabsichtigt hatte. Sie waren auch, wie alles Unnötige, unklug. Tatsächlich hatte sie überhaupt nicht gemeint, was sie sagte. Es war ein Satz, den ihr nur der Widerspruchsgeist eingeblasen hatte. Doch kannte sie einen Weg, um alles ungeschehen zu machen.
Sie wandte ihren Kopf über die Schulter und warf dem Manne, der schwerfällig vor dem Kamin stand, einen Blick aus ihren großen Augen zu, halb schelmisch, halb grausam – einen Blick, dessen die Winnie der Belgravia-Pension unfähig gewesen wäre, wegen ihrer Ehrbarkeit und Unwissenheit. Doch der Mann war ja nun ihr Gatte, und sie war nicht länger unwissend. Sie ließ den Blick eine ganze Sekunde auf ihm ruhen, während ihr ernstes Gesicht reglos wie eine Maske blieb, und sagte dann scherzend:
»Du könntest es nicht. Ich würde dir zu sehr fehlen.«
Herr Verloc fuhr auf.
»Gewiß«, sagte er laut, breitete die Arme aus und trat einen Schritt auf sie zu. Eine ungewisse Wildheit in seinem Ausdruck machte es zweifelhaft, ob er sein Weib zu erdrosseln oder zu umarmen gedachte. Frau Verlocs Aufmerksamkeit aber wurde durch den Klang der Ladenglocke von dieser Gebärde abgelenkt.
»Laden, Adolf. Geh du.«
Er hielt an, seine Arme sanken reglos nieder.
»Geh du,« wiederholte Frau Verloc, »ich habe die Schürze um.«
Herr Verloc gehorchte hölzern, wie ein Automat mit gemaltem Gesicht. Die Ähnlichkeit mit einer mechanischen Figur ging so weit, daß er sogar den dummen Gesichtsausdruck eines Automaten zeigte, der sich bewußt ist, ein Triebwerk im Leibe zu haben.
Er schloß die Wohnzimmertür, und Frau Verloc trug mit raschen Bewegungen das Geschirrbrett in die Küche. Sie spülte die Tassen und einiges andere ab, bevor sie einhielt, um zu lauschen. Kein Ton drang zu ihr. Der Kunde blieb lange im Laden. Es war ein Kunde, denn sonst hätte ihn Herr Verloc ins Wohnzimmer geführt. Sie löste hastig die Schürzenbänder, warf die Schürze über einen Stuhl und ging langsam ins Wohnzimmer zurück.
Im gleichen Augenblick trat Herr Verloc vom Laden aus ein.
Er war rot hinausgegangen und kehrte nun erschreckend kalkweiß zurück. Sein Gesicht hatte den fiebrigen, rauschigen Glanz verloren und in dieser kurzen Zeitspanne den Ausdruck ratloser Qual angenommen.
Er ging geradeswegs zum Sofa, blieb dort stehen und sah auf seinen Überrock hinunter, als fürchtete er sich, ihn anzurühren.
»Was gibt es denn?« fragte Frau Verloc gedämpft. Durch die offene Türe konnte sie sehen, daß der Kunde noch nicht gegangen war.
»Ich sehe gerade, daß ich heute doch noch ausgehen muß«, sagte Herr Verloc. Doch machte er keinen Versuch, nach seinen Überkleidern zu greifen.
Ohne ein Wort weiter ging Winnie in den Laden, schloß die Türe hinter sich und trat hinter den Ladentisch. Erst nachdem sie sich bequem in dem Stuhl zurechtgesetzt hatte, sah sie zu dem Kunden auf. Inzwischen hatte sie aber schon festgestellt, daß er groß und mager war und den Schnurrbart aufgewirbelt trug. Er war sogar eben dabei, die scharfen Spitzen hochzudrehen. Sein langes, knochiges Gesicht ragte aus hochgeschlagenem Kragen. Er war ein wenig durchnäßt, ein wenig mit Kot bespritzt. Ein dunkelhaariger Mann, unter dessen eingefallener Schläfe der kantige Backenknochen scharf hervortrat. Ihr völlig unbekannt. Und auch kein Kunde.
Frau Verloc sah ihn gleichmütig an.
»Kommen Sie vom Festland herüber?« fragte sie nach einer Weile. Der lange, dünne Fremde antwortete nur mit einem schwachen, sonderbaren Lächeln, ohne Frau Verloc ins Gesicht zu sehen.
Frau Verlocs ruhiger Blick haftete ohne Neugier auf ihm.
»Sie verstehen doch Englisch?«
»O ja, ich verstehe Englisch.«
Seine Aussprache klang nicht fremd, nur deutete die langsame Sprechweise darauf hin, daß er sich Mühe nehmen mußte. Und Frau Verloc hatte in reicher Erfahrung festgestellt, daß manche Ausländer besser sprechen als die Eingebornen. Sie sah unverwandt nach der Wohnzimmertür und meinte:
»Denken Sie etwa daran, sich in England ständig niederzulassen?«
Der Fremde zeigte wieder sein stummes Lächeln. Er hatte einen gutmütigen Mund und forschende Augen. Er schüttelte, ein wenig traurig, wie es schien, den Kopf.
»Mein Mann wird Ihnen schon durchhelfen. Unterdessen können Sie für die ersten Tage nichts besseres tun, als bei Herrn Giuliani abzusteigen. Continental Hotel nennt es sich. Privat. Recht ruhig. Mein Mann wird Sie hinführen.«
»Ein guter Gedanke«, sagte der dünne, dunkelhaarige Mann, dessen Blick plötzlich hart geworden war.
»Haben Sie Herrn Verloc schon früher gekannt? Vielleicht in Frankreich?«
»Ich habe von ihm gehört«, gab der Besucher zu, in der langsamen, überlegten Sprechweise, der man doch die höfliche Absicht anmerkte.
Es gab eine Pause. Dann sprach er wieder, doch weit weniger gesucht.
»Ihr Mann ist doch nicht etwa auf die Straße hinausgegangen, um mich zu erwarten?«
»Auf die Straße«, wiederholte Frau Verloc überrascht. »Wie denn? Das Haus hat keinen anderen Ausgang.«
Sie blieb noch einen Augenblick sitzen und erhob sich dann, um durch die Glastür zu spähen. Plötzlich öffnete sie sie und verschwand im Wohnzimmer.
Herr Verloc hatte inzwischen nichts weiter getan als seinen Überrock angelegt. Warum er aber darnach über den Tisch gebeugt stehenblieb, auf beide Arme gestützt, als fühlte er sich schwindlig oder krank, das konnte sie nicht verstehen. »Adolf«, rief sie halblaut; und als er sich aufgerichtet hatte:
»Kennst du den Menschen?«
»Ich habe von ihm gehört«, wisperte Herr Verloc unbehaglich und schoß einen wilden Blick nach der Türe. Frau Verlocs klare, gleichmütige Augen blitzten vor Abscheu.
»Einer von Karl Yundts Freunden! – Ekliger alter Mann!«
»Nein, nein«, wehrte Herr Verloc ab und langte emsig nach seinem Hut. Als er ihn aber unter dem Sofa herausgefischt hatte, hielt er ihn vor sich hin, als wüßte er keinen Hut zu gebrauchen.
»Nun – er wartet auf dich«, meinte Frau Verloc schließlich. »Ich sage, Adolf, es ist doch keiner von den Gesandschaftsleuten, die dir in letzter Zeit zu schaffen gemacht haben?«
»Zu schaffen gemacht – Gesandtschaftsleute«, wiederholte Herr Verloc mit erschrecktem Auffahren. »Wer hat dir etwas von Gesandtschaftsleuten gesagt?«
»Du selbst.«
»Ich, ich! Habe vor dir von Gesandtschaftsleuten gesprochen!«
Herr Verloc schien über alles Maß hinaus bestürzt und erschreckt. Sein Weib erklärte:
»Du hast in letzter Zeit immer im Schlaf gesprochen, Adolf.«
»Was – was habe ich gesagt? Was weißt du?«
»Nicht viel. Es war meistens Unsinn. Ich konnte nur erraten, daß dich irgend etwas bedrückte.«
Herr Verloc stülpte sich den Hut auf den Kopf. Dunkle Zornesröte schoß ihm ins Gesicht.
»Unsinn – wie? Gesandtschaftsleute! Ich könnte ihnen, einem nach dem andern, das Herz aus der Brust reißen. Die sollen nur aufpassen! Ich habe eine Zunge im Kopf.«
Er schritt schnaubend zwischen Tisch und Sofa auf und nieder, wobei sein offner Überrock an allen Ecken hängen blieb. Die Zornesröte verzog sich und ließ sein Gesicht ganz weiß, mit bebenden Nüstern zurück. Frau Verloc, ihrem Leitspruch getreu, führte diese Erscheinungen auf die Erkältung zurück.
»Nun gut,« sagte sie, »schaff dir den Mann, wer immer es auch sei, so schnell wie möglich vom Halse und komm nach Hause, zu mir. Du brauchst ein oder zwei Tage Pflege.«
Herr Verloc zwang sich zur Ruhe und hatte, mit dem Ausdruck der Entschlossenheit auf dem bleichen Gesicht, schon die Tür geöffnet, als seine Frau ihn flüsternd zurückrief:
»Adolf, Adolf.« Er kam überrascht zurück. »Wie ist es mit dem Geld, das du abgehoben hast?« sagte sie, »hast du es in der Tasche? Solltest du nicht lieber –« Herr Verloc blickte stumpfsinnig in die Fläche der Hand, die seine Frau ihm entgegenstreckte, bevor er mit den Brauen zuckte.
»Geld! Natürlich! Ja! Ich wußte nicht, was du meintest.«
Er zog aus der Brusttasche eine neue, schweinslederne Brieftasche. Frau Verloc nahm sie ohne ein Wort in Empfang und blieb stille stehen, bis die Ladenglocke, die hinter Herrn Verloc und seinem Besucher dreingeklappert hatte, zur Ruhe gekommen war. Erst dann sah sie den Betrag nach, indem sie die Noten herauszog. Nach dieser Untersuchung blickte sie sich gedankenvoll um, als mißtraute sie der freundlichen Stille des Hauses. Ihr eheliches Heim schien ihr mit einemmal so einsam und unsicher, als läge es mitten in einem Wald. Kein Behältnis, das ihr in all der behäbigen, dauerhaften Einrichtung einfiel, schien für den Begriff, den sie sich von einem Einbrecher machte, anders als nichtig und geradezu herausfordernd. Ihre Vorstellungskraft begabte diesen Einbrecher mit unmenschlichen Fähigkeiten und wunderbarem Scharfblick. An die Ladenkasse war gar nicht zu denken. An die würde sich ein Dieb zuerst heranmachen. Frau Verloc hakte schnell ihr Kleid über der Brust auf und schob die Brieftasche ins Mieder. Als sie so ihres Gatten Kapital in Sicherheit gebracht hatte, freute sie sich, als die Ladenglocke die Ankunft eines neuen Besuchers anzeigte. Mit dem geraden, selbstsicheren Blick und dem marmornen Ausdruck, die sie für Zufallskunden in Bereitschaft hatte, trat sie hinter den Ladentisch.
Ein Mann stand mitten im Laden und sah sich mit schnellem, kaltem, umfassendem Blick um. Seine Augen liefen über die Wände, prüften die Decke, den Fußboden – alles in einem Augenblick. Die Enden eines langen, blonden Schnurrbarts fielen bis über den Unterkiefer. Er lächelte das Lächeln eines alten, wenn auch entfernten Bekannten, und Frau Verloc erinnerte sich, ihn vorher gesehen zu haben. Kein Kunde. Sie milderte ihren »Kundenblick« zu bloßer Gleichgültigkeit und sah ihn über den Ladentisch weg an.
Er seinerseits trat näher, zwar vertraulich, doch bescheiden.
»Ihr Mann zu Hause?« fragte er in leichtem, unbefangenen Tone.
»Nein, er ist ausgegangen.«
»Das tut mir leid; ich bin gekommen, um ihn um eine kleine private Auskunft zu bitten.«
Das war die volle Wahrheit. Hauptinspektor Heat war schon zu Hause gewesen und hatte sogar schon daran gedacht, seine Pantoffeln anzuziehen, da er ja, wie er sich sagte, tatsächlich aus der ganzen Sache hinausgebissen worden war. Er gab sich einigen höhnischen und auch ein paar ärgerlichen Gedanken hin und fand die Beschäftigung so unbefriedigend, daß er sich entschloß, außerhalb des Hauses Erleichterung zu suchen. Nichts konnte ihn hindern, Herrn Verloc, sozusagen im Vorbeigehn, einen freundschaftlichen Besuch zu machen. Er ging ganz für sich, als Privatmann, aus, wenn er dabei auch seine beruflichen Pläne verfolgte, die alle auf Herrn Verlocs Heim zielten. Hauptinspektor Heat achtete so genau auf seinen eigenen Privatcharakter, daß er sich besondere Mühe nahm, alle Schutzleute zu umgehen, die in der Nachbarschaft der Brett Street Dienst taten. Diese Vorsicht war für einen Mann in seiner Stellung weit wichtiger, als für einen unbekannten Kommissar. Der Privatmann Heat trat in die Gasse in einer Gangart ein, die man bei einem Mitglied der Verbrechergilde als »schleichen« bezeichnet hätte. Den Tuchfetzen, den er in Greenwich aufgehoben hatte, trug er in der Tasche. Nicht als ob er die leiseste Absicht gehabt hätte, ihn in seiner Privateigenschaft vorzuzeigen. Im Gegenteil, er wünschte ja gerade zu erfahren, was Herr Verloc freiwillig aussagen würde. Er hoffte, durch Herrn Verlocs Aussagen Michaelis belastet zu sehen. Es war in der Hauptsache eine überlegte berufliche Hoffnung, doch nicht ohne moralische Beimengung. Denn Hauptinspektor Heat war ein Diener der Gerechtigkeit. Nun fühlte er sich enttäuscht, da er Herrn Verloc nicht zu Hause traf.
»Ich wollte gerne ein wenig warten, wenn ich wüßte, daß er nicht lange ausbleibt.«
Frau Verloc ließ sich zu keinerlei Zusicherungen herbei.
»Die Auskunft, die ich brauche, ist ganz privat«, wiederholte er. »Verstehen Sie, was ich meine? Könnten Sie mir nicht sagen, wohin er gegangen ist?«
Frau Verloc schüttelte den Kopf.
»Kann's nicht sagen.«
Sie wandte sich, um einige Pappschachteln auf dem Bord hinter dem Ladentisch umzustellen. Hauptinspektor Heat sah sie eine Weile gedankenvoll an.
»Ich denke mir, Sie wissen, wer ich bin«, sagte er.
Frau Verloc sah über die Schulter zurück. Hauptinspektor Heat war verwundert über ihre Kälte.
»Los! Sie wissen gut, daß ich von der Polizei bin«, sagte er scharf.
»Das geht mich ganz wenig an«, bemerkte Frau Verloc und wandte sich wieder ihren Pappschachteln zu.
»Mein Name ist Heat. Hauptinspektor Heat von der Abteilung für besondere Verbrechen.«
Frau Verloc brachte eine kleine Pappschachtel säuberlich an ihren Platz, drehte sich dann um und sah ihn an, wie er mit schweren Gliedern und müßig hängenden Händen dastand. Ein kurzes Schweigen herrschte.
»Ihr Mann ist also vor einer Viertelstunde ausgegangen und hat nicht gesagt, wann er wiederkommt?«
»Er ist nicht alleine ausgegangen«, ließ Frau Verloc nachlässig fallen.
»Ein Freund?«
Frau Verloc griff nach ihrer Frisur. Die war tadellos in Ordnung.
»Ein Fremder, der uns aufgesucht hatte.«
»Aha, so. Was für eine Art Mann war das? Macht es Ihnen etwas aus, es mir zu sagen?«
Es machte Frau Verloc nichts aus. Und als Inspektor Heat von einem dunkelhaarigen, mageren Mann hörte, mit langem Gesicht und aufgedrehtem Schnurrbart, da gab er Anzeichen von Verwirrung und rief aus:
»Hol' mich die Pest, wenn ich mir's nicht gedacht habe. Er hat wirklich keine Zeit verloren!«
Im Innersten seines Herzens war er geradezu angewidert von der unamtlichen Aufführung seines unmittelbaren Vorgesetzten. Aber er war kein Don Quichotte. Er gab jeden Gedanken daran auf, Herrn Verlocs Rückkehr zu erwarten. Zu welchem Zweck sie miteinander weggegangen waren, wußte er nicht, doch hielt er es für möglich, daß sie miteinander zurückkehren würden. Der Fall wird nicht richtig geführt, dachte er bitter; es wird dran herumgestümpert.
»Ich fürchte, ich werde Ihren Mann doch nicht erwarten können.«
Frau Verloc nahm diese Bemerkung ganz achtlos hin. Ihre Sorglosigkeit hatte Hauptinspektor Heat die ganze Zeit über gewundert. Gerade jetzt reizte sie seine Neugier. Hauptinspektor Heat hing im Winde und ließ sich von seinen Passionen schaukeln, wie nur je ein Privatmann.
»Ich denke mir,« sagte er und sah sie fest an, »daß Sie mir bei einigem guten Willen sehr genau sagen könnten, was vorgeht.«
Frau Verloc zwang ihr klares, träges Auge, den Blick zu erwidern und murmelte:
»Vorgeht? Was geht denn vor?«
»Nun, die Sache, über die ich mit Ihrem Mann ein wenig reden wollte.«
An jenem Tage hatte Frau Verloc, wie gewöhnlich, in die Morgenzeitung hineingesehen. Sie hatte sich aber nicht aus dem Hause gerührt. Die Zeitungsjungen verirrten sich nie in die Brett Street. Es war keine Gasse für ihr Geschäft, und der Widerhall ihrer Schreie pflanzte sich nur von den bevölkerten Verkehrsstraßen her fort und erstarb zwischen den schmutzigen Ziegelmauern, ohne die Ladenschwelle zu erreichen. Ihr Gatte hatte kein Abendblatt nach Hause gebracht, jedenfalls hatte sie keines gesehen. Frau Verloc wußte durchaus nichts von einer Sache, und das sagte sie auch, mit betonter Verwunderung in ihrer ruhigen Stimme.
Hauptinspektor Heat glaubte nicht einen Augenblick an soviel Unkenntnis. Kurz und ohne Höflichkeit stellte er die nackte Tatsache fest.
Frau Verloc wandte ihre Augen ab.
»Das nenne ich dumm«, sagte sie langsam. Und dann, nach einer Pause: »Wir sind keine geknechteten Sklaven hier.«
Der Hauptinspektor wartete gespannt. Es kam nichts weiter.
»Und Ihr Gatte hat gar nichts erwähnt, als er heimkam?«
Frau Verloc drehte zum Zeichen der Verneinung einfach ihr Gesicht von rechts nach links. Ein langweiliges, drückendes Schweigen herrschte im Laden. Hauptinspektor Heat fühlte sich über jedes Maß gereizt.
»Da war noch ein anderer kleiner Umstand,« begann er sachlich, »den ich mit Ihrem Mann besprechen wollte. Uns ist etwas in die Hand geraten, ein – ein – so glauben wir wenigstens – gestohlener Überrock.«
Frau Verloc, deren Gedanken an diesem Abend auf Diebe gerichtet waren, griff sich leicht an die Brust.
»Wir haben keinen Überrock verloren«, sagte sie ruhig.
»Das ist lustig«, fuhr der Privatmann Heat fort. »Ich sehe, Sie haben da eine Menge Merktinte –«
Er nahm eine kleine Flasche und hielt sie gegen die Gasflamme in der Mitte des Ladens.
»Purpurrot, nicht wahr?« meinte er, während er sie wieder hinsetzte. »Wie gesagt, recht merkwürdig. Denn an der Innenseite des Überrocks ist ein kleiner Streifen eingenäht, auf dem mit Merktinte Ihre Adresse steht.«
Frau Verloc bog sich mit einem unterdrückten Ausruf über den Ladentisch.
»Dann gehört er meinem Bruder.«
»Wer ist Ihr Bruder? Kann ich ihn sehen?« fragte der Inspektor schroff. Frau Verloc lehnte sich ein wenig vor.
»Nein. Er ist nicht hier. Ich habe den Streifen selbst beschrieben.«
»Wo ist Ihr Bruder jetzt?«
»Er ist weg, auf Sommerfrische – bei einem Freunde.«
»Der Überrock kommt vom Land. Und wie heißt der Freund?«
»Michaelis«, bekannte Frau Verloc in erschrecktem Flüsterton.
Der Inspektor pfiff durch die Zähne. Seine Augen klappten zu.
»Ganz recht. Großartig. Und Ihr Bruder also, wie ist denn der – ein stämmiger, dunkelhaariger Bursche, nicht wahr?«
»O nein,« rief Frau Verloc lebhaft, »das muß der Dieb sein. Stevie ist schlank und blond.«
»Gut«, sagte der Hauptinspektor beifällig. Und während Frau Verloc, zwischen Schreck und Staunen hin und her gerissen, ihn anstarrte, forschte er weiter. Warum war die Adresse so in den Rock genäht worden? Und er hörte, daß die verstümmelten Überreste, die er an diesem Morgen mit größtem Widerwillen untersucht hatte, einem nervösen, zerstreuten, etwas »eigenen« Jungen angehört und ferner, daß die Frau, die nun zu ihm sprach, für diesen Jungen seit seiner ersten Kindheit gesorgt hatte.
»Leicht erregbar?« meinte er.
»O ja, das ist er. Aber wie konnte er seinen Rock verlieren?«
Hauptinspektor Heat zog plötzlich ein rotes Extrablatt heraus, das er vor weniger als einer halben Stunde gekauft hatte. Er war Pferdeliebhaber. Durch seinen Beruf zu Zweifel und Mißtrauen gegen seine Mitbürger gezwungen, gab Hauptinspektor Heat der Glaubensseligkeit, die in jeder Menschenbrust wohnt, freien Lauf, indem er blindlings dem Sportpropheten gerade dieser Abendzeitung vertraute. Nun warf er das Extrablatt auf den Ladentisch, griff dann nochmals in die Tasche, zog den Tuchfetzen heraus, den ihn das Schicksal mitten in einem Haufen von Dingen hatte finden lassen, die in Gosse und Müllhaufen zusammengelesen schienen, und bot ihn Frau Verloc zur Prüfung an.
»Das erkennen Sie wohl?«
Sie nahm ihn mechanisch in beide Hände. Ihre Augen schienen beim Hinsehen größer zu werden.
»Ja«, flüsterte sie, hob den Kopf ein wenig und taumelte zurück.
»Warum ist es so herausgefetzt?«
Der Inspektor riß ihr über den Tisch weg das Stückchen aus der Hand, und sie ließ sich schwer in den Stuhl fallen. Er dachte: die Feststellung ist einwandfrei, und im gleichen Augenblick ging ihm auch die ganze verblüffende Wahrheit auf: Verloc war »der zweite Mann«.
»Frau Verloc,« sagte er, »ich bin überzeugt, daß Sie mehr von der Bombengeschichte wissen, als Sie selbst sich träumen lassen.«
Frau Verloc saß still, verblüfft, in endloses Staunen versunken. Wo war die Brücke? Dabei erstarrte sie so durch und durch, daß sie unfähig war, beim Klang der Glocke auch nur den Kopf zu wenden, während der Privatforscher Heat auf dem Absatz herumfuhr. Herr Verloc hatte die Türe geschlossen, und einen Augenblick lang sahen die beiden Männer einander an.
Herr Verloc trat, ohne seine Frau anzusehen, auf den Inspektor zu, der sich förmlich erlöst vorkam, als er ihn allein zurückkehren sah.
»Sie hier«, murmelte Herr Verloc dumpf. »Hinter wem sind Sie her?«
»Hinter niemand«, gab der Inspektor leise zurück. »Hören Sie, ich möchte gerne ein oder zwei Worte mit Ihnen sprechen.«
Herr Verloc, immer noch bleich, hatte doch eine Art Entschlossenheit mit heimgebracht. Immer noch sah er seine Frau nicht an; er sagte:
»Also kommen Sie hier herein!« Dabei ging er voraus ins Wohnzimmer.
Die Tür war kaum geschlossen, als Frau Verloc vom Stuhl aufsprang und hinstürzte, als wollte sie sie wieder aufreißen; statt dessen kniete sie nieder und legte das Ohr an das Schlüsselloch. Die beiden Männer mußten unmittelbar hinter der Tür stehen geblieben sein, denn sie hörte deutlich des Inspektors Stimme, wenn sie auch nicht sehen konnte, wie er den Finger nachdrücklich ihrem Mann auf die Brust legte.
»Sie sind der zweite Mann, Verloc. Zwei Männer wurden beobachtet, wie sie den Park betraten.«
Und Herr Verlocs Stimme antwortete: »Nun gut. Nehmen Sie mich mit. Was hindert Sie? Sie haben das Recht dazu.«
»O nein. Ich weiß recht gut, wem Sie sich anvertraut haben. Der soll nun die kleine Sache allein zu Ende bringen. Aber geben Sie sich keinem Irrtum hin: ich war es, der Sie aufgespürt hat.«
Dann hörte sie nur flüstern. Inspektor Heat mußte Herrn Verloc wohl den Fetzen von Stevies Überrock gezeigt haben, denn Stevies Schwester, Wärterin und Gönnerin hörte ihren Gatten ein wenig lauter sagen:
»Ich hätte nie gedacht, daß sie auf den Streich verfallen würde.«
Wieder hörte Frau Verloc eine Zeitlang nur ein Gemurmel, dessen Unverständlichkeit ihr weniger gespenstisch dünkte, als die furchtbaren Andeutungen in geformten Worten. Dann erhob Inspektor Heat auf der anderen Seite der Tür die Stimme:
»Sie müssen verrückt gewesen sein.«
Und Herrn Verlocs Stimme gab, wie in unterdrückter Wut, zurück:
»Ich war verrückt, seit einem Monat oder so; aber jetzt nicht mehr. Das ist vorbei. Nun soll alles herauskommen, mag draus werden, was will.«
Nach einem kurzen Schweigen murmelte Heat, der Privatmann: »Was kommt heraus?«
»Alles«, rief Herrn Verlocs Stimme und sank bis zur Unhörbarkeit herab.
Darauf erhob sie sich wieder.
»Sie kennen mich nun seit einer Reihe von Jahren und haben mich als brauchbar erprobt. Sie wissen, daß ich ein gerader Mann war. Jawohl, gerade.«
Diese Berufung auf langjährige Bekanntschaft mußte dem Hauptinspektor überaus peinlich sein.
Seine Stimme bekam einen warnenden Klang.
»Verlassen Sie sich nicht allzusehr darauf, was Ihnen versprochen wurde. Wäre ich Sie, dann würde ich Fersengeld geben. Ich glaube nicht, daß wir Ihnen nachlaufen würden.«
Man hörte Herrn Verloc kurz auflachen.
»O ja, Sie glauben wohl, die andern werden mich für Sie beseitigen – nicht wahr? Nein, nein; jetzt schütteln Sie mich nicht ab. Ich war ein gerader Mann gegen alle diese Leute, und jetzt muß alles herauskommen.«
»Dann lassen Sie es halt herauskommen«, stimmte der Inspektor gleichgültig zu. »Aber sagen Sie mir nun, wie Sie davonkamen?«
»Ich ging in Richtung auf Chesterfield Walk,« hörte Frau Verloc ihren Mann sagen, »als ich den Krach hörte; da begann ich zu rennen. Nebel. Ich sah niemand, bis ich durch George Street durch war. Ich glaube nicht, daß ich bis dahin jemand traf.«
»So einfach«, wunderte sich der Inspektor. »Der Krach erschreckte Sie, was?«
»Ja, er kam zu schnell«, gab Herrn Verlocs dumpfe, heisere Stimme zu.
Frau Verloc drückte ihr Ohr an das Schlüsselloch. Ihre Lippen waren blau, ihre Hände kalt wie Eis, und sie hatte das Gefühl, als stände ihr bleiches Gesicht, in dem die Augen zwei schwarze Löcher schienen, ganz in Flammen.
Die Stimmen auf der anderen Seite der Türe wurden ganz gedämpft. Sie erfaßte nur dann und wann ein Wort, manchmal von ihrem Mann, manchmal vom Inspektor. So hörte sie diesen sagen:
»Wir glauben, daß er über eine Baumwurzel gestolpert sein muß.«
Daraufhin setzte ein heiseres, rasches Flüstern ein, das eine Zeitlang anhielt, und dann sagte der Inspektor, als beantwortete er eine Frage, mit größtem Nachdruck:
»Natürlich. In kleine Stücke zerrissen: Glieder, Kies, Kleider, Knochen, Fetzen – alles durcheinander. Ich sage Ihnen, sie mußten eine Schaufel nehmen, um ihn zusammenzubringen.«
Frau Verloc sprang plötzlich auf die Füße, hielt sich die Ohren zu und wankte zwischen Ladentisch und Bord der Wand entlang bis zum Stuhl. Ihre irren Augen fielen auf das Sportblatt, daß der Hauptinspektor liegen gelassen hatte, und während sie gegen den Ladentisch taumelte, griff sie darnach, ließ sich in den Stuhl fallen, riß das rosenrote Blatt quer durch bei dem Versuch, es zu öffnen, und warf es dann zu Boden. Jenseits der Tür sagte Hauptinspektor Heat zu Herrn Verloc, dem Geheimagenten:
»So werden Sie als ganze Verteidigung einfach ein volles Geständnis ablegen?«
»Jawohl. Ich will die ganze Geschichte erzählen.«
»Sie werden nicht so viel Glauben finden, wie Sie wohl denken.«
Der Hauptinspektor blieb in Gedanken versunken. Die Angelegenheit nahm eine Wendung, die notwendig so manches ans Licht bringen und weite Wissensgebiete brachlegen mußte, die, von einem fähigen Menschen bebaut, für den Einzelnen wie für die Gesellschaft von größtem Wert sein konnten. Es war traurige, traurige Stümperei. Michaelis würde unbehelligt bleiben; des Professors geheime Arbeit würde ans Licht kommen; das ganze Überwachungssystem würde leiden; dazu endloses Gewäsch in den Zeitungen, von denen er in plötzlicher Erleuchtung einsah, daß sie von Narren für Tolle geschrieben wurden. Innerlich stimmte er den Worten bei, die Herr Verloc als Antwort auf seine letzte Bemerkung fallen ließ.
»Vielleicht nicht. Aber es wird doch mit manchem ein Ende gemacht werden. Ich war ein gerader Mann und will nun auch hierin gerade bleiben –«
»Wenn man Sie läßt«, warf der Inspektor höhnisch ein. »Man wird Ihnen allerhand vorpredigen, bevor man Sie auf die Anklagebank setzt, natürlich, und schließlich kann es Ihnen doch geschehen, daß das Urteil ganz anders ausfällt, als Sie erwartet haben. Ich würde dem Herrn, der eben mit Ihnen gesprochen hat, nicht allzusehr vertrauen.«
Herr Verloc hörte stirnrunzelnd zu.
»Mein Rat ist, daß Sie sich davonmachen sollen, solange Sie es noch können. Ich habe keinen Befehl. Es gibt einige unter ihnen,« fuhr Inspektor Heat fort und betonte das Wort »ihnen«, »die glauben, daß Sie schon in der andern Welt sind.«
»Wirklich!« entfuhr es Herrn Verloc.
Obwohl er seit seiner Rückkehr aus Greenwich die meiste Zeit im Gastzimmer einer Winkelkneipe sitzend zugebracht hatte, war er auf eine so erfreuliche Neuigkeit nicht gefaßt.
»Das ist die Meinung über Sie.« Der Hauptinspektor nickte ihm zu. »Verschwinden Sie. Machen Sie sich davon.«
»Wohin?« brummte Herr Verloc. Er hob den Kopf und flüsterte weich, mit einem Blick auf die geschlossene Tür zum Laden: »Ich wollte nur, daß Sie mich heute abend mitnähmen. Ich ginge gerne mit.«
»Das glaube ich wohl«, stimmte der Inspektor spöttisch bei, mit einem Blick in gleicher Richtung.
Auf Herrn Verlocs Stirn brach leichter Schweiß aus. Er dämpfte angesichts der Unbeweglichkeit des Inspektors seine heisere Stimme zu vertrauensvollem Flüstertone.
»Der Junge war halb blöde, nicht verantwortlich. Jeder Gerichtshof hätte das ohne weiteres anerkannt. Reif für die Irrenanstalt. Und das wäre das Schlimmste gewesen, was ihm hätte geschehen können, wenn –«
Der Hauptinspektor, die Hand am Türgriff, zischelte Herrn Verloc ins Gesicht:
»Vielleicht war er halb blöde, aber Sie müssen ganz verrückt gewesen sein. Wie konnten Sie so den Kopf verlieren?«
Herr Verloc dachte an Herrn Vladimir und wählte seine Worte nicht.
»Ein hyperboreisches Schwein«, zischte er heftig. »Ein – wie Sie sagen würden – ein Gentleman.«
Der Hauptinspektor nickte mit ruhigem Blick kurz seine Zustimmung und öffnete die Tür. Frau Verloc hinter dem Ladentisch mochte seinen Aufbruch, von dem aufdringlichen Glockengerassel begleitet, vielleicht hören, sah ihn aber nicht. Sie saß reglos auf ihrem Platz hinter dem Ladentisch. Sie saß krampfhaft aufrecht im Stuhl – zwei schmutzige Fetzen roten Papiers lagen zu ihren Füßen. Sie hielt die Handflächen gegen das Gesicht gepreßt, die Fingerspitzen in die Stirnhaut verkrallt, als wäre diese Haut eine Maske, die sie nächstens wütend abreißen wollte. Die völlige Unbeweglichkeit ihrer Haltung drückte den Aufruhr von Wut und Verzweiflung, die ganze gebändigte Wut tragischer Leidenschaft besser aus, als es möglich gewesen wäre, wenn sie geschrien oder den Kopf gegen die Wand gehämmert hätte. Hauptinspektor Heat durchquerte den Laden in seinem geschäftig schwingenden Schritt und warf ihr nur einen flüchtigen Blick zu. Als die heisere Glocke an ihrem Stahlband zu zittern aufgehört hatte, rührte sich nichts mehr in Frau Verlocs Umgebung, als ginge ein Bann von ihrer Starrheit aus. Sogar die Schmetterlingsbrenner an dem T‑förmigen Gasarm brannten lautlos. In diesem Laden voll anrüchiger Waren, mit den dunkelbraun gestrichenen Regalen, die das Licht zu verschlingen schienen, blitzte nur der goldne Reif des Eherings an Frau Verlocs linker Hand, aufdringlich, wie ein kostbares Geschmeide, das in den Müllkasten geraten ist.