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». . . jede Verklärung macht das Leben ärmer. Es verschönern, heißt ihm seine Vielgestaltigkeit nehmen, heißt: es zerstören. Überlassen Sie das den Moralisten, mein Junge; wohl wird die Geschichte von den Menschen gemacht, sie machen sie aber nicht in ihren Köpfen, die Gedanken, die in ihrem Bewußtsein auftauchen, spielen im Lauf der Ereignisse nur eine untergeordnete Rolle. Die Geschichte wird beherrscht und gelenkt durch Werkzeug und Arbeit – durch die Macht der wirtschaftlichen Verhältnisse. Der Kapitalismus hat den Sozialismus erzeugt, und die Gesetze, die der Kapitalismus zum Schutz des Eigentums erlassen hat, sind die Ursache des Anarchismus. Niemand kann sagen, welche Formen die Gesellschaft in der Zukunft annehmen wird. Warum also sich in Wahrsagereien verlieren, die doch bestenfalls nur die Meinung des Wahrsagers dartun und keinen tatsächlichen Wert haben können? Überlassen Sie diesen Zeitvertreib den Moralisten, mein Junge.«
Michaelis, der Bewährungsfristapostel, sprach mit gleichmäßiger Stimme, die nur etwas keuchend klang, als ob sie sich mühsam durch die Fettpolster auf seiner Brust durcharbeiten müßte. Er war aus einem höchst hygienischen Gefängnis gekommen, rund wie ein Kessel, mit ungeheurem Bauch und verquollenen Wangen von bleicher, halb durchsichtiger Färbung, als hätten fünfzehn Jahre lang die Diener einer beleidigten Gesellschaft ihren Ehrgeiz hineingesetzt, ihn in einem dumpfen und lichtlosen Keller mit nahrhaften Speisen zu mästen; und seither war es ihm nicht gelungen, auch nur eine Unze von seinem Gewicht zu verlieren.
Man erzählte sich, daß eine sehr reiche alte Dame ihn drei Badezeiten hintereinander zur Kur nach Marienbad geschickt hatte – wo er sich einmal in die öffentliche Aufmerksamkeit mit einem gekrönten Haupt teilen durfte. Doch hatte ihm die Polizei damals befohlen, innerhalb zwölf Stunden abzureisen. Seine Marter wurde noch verschärft, indem man ihm den weiteren Zutritt zu den heilkräftigen Wassern verbot; nun aber hatte er entsagt.
Seinen Ellenbogen, der keine Spur eines Gelenkes zeigte, sondern nur wie eine Biegung im Glied eines Strohmanns wirkte, hatte er über eine Sessellehne gelegt und beugte sich über seine kurzen und ungeheuren Schenkel leicht vor, um ins Feuer zu spucken.
»Jawohl, ich hatte Zeit, die Dinge ein wenig durchzudenken«, fügte er gleichmütig hinzu. »Die Gesellschaft hat mir Zeit genug zu Betrachtungen gegeben.«
Auf der anderen Seite des Kamins, in dem roßhaargepolsterten Lehnstuhl, in dem zu sitzen sonst Frau Verlocs Vorrecht war, kicherte nun Karl Yundt böse aus verzerrtem, zahnlosem Munde. Der Terrorist, wie er sich selbst nannte, war alt und kahl, mit einem schmächtigen, schneeweißen Ziegenbart, der lose von seinem Kinn baumelte. Ein ungewöhnlicher Ausdruck verhaltener Bosheit lebte noch in seinen erloschenen Augen. Als er sich mühsam erhob und dabei seine häutige Greifhand, durch Gichtknoten entstellt, vorschleuderte, da erinnerte diese Bewegung an die Anstrengung eines sterbenden Mörders, der den Rest seiner Kraft zu einem letzten Dolchstoß zusammennimmt. Er stützte sich auf einen dicken Stock, der in seiner anderen Hand zitterte.
»Ich habe immer geträumt«, bellte er, »von einer Schar von Männern, eiskalt entschlossen, keine Bedenken in der Wahl der Mittel gelten zu lassen; stark genug, sich selbst die Zerstörer zu nennen, und frei von der entsagenden Schwarzseherei, an der die Welt verfault. Kein Mitleid für irgend etwas auf Erden, sich selbst mit eingeschlossen, und den Tod von Rechts wegen in den Dienst der Menschheit gestellt – das hätte ich gern sehen mögen.«
Sein kleiner, kahler Kopf bebte und brachte den Zipfel des Geißbarts in lächerliche Schwingungen. Seine Auslassung wäre für einen Fremden wohl völlig unverständlich gewesen. Seine abgelebte Leidenschaft, die in ihrer kraftlosen Wut an die Erregung eines alten Wüstlings gemahnte, gewann nicht durch die trockene Kehle und die zahnlosen Kiefer, die seine Zungenspitze zu fangen schienen. Herr Verloc, der in der Ecke des Sofas an der anderen Zimmerwand lehnte, ließ zweimal ein herzhaftes Beifallsknurren hören.
Der alte Terrorist drehte langsam seinen häutigen Hals von Seite zu Seite.
»Und es ist mir nie gelungen, jemals auch nur drei solche Männer zusammen zu bringen. Soviel für deine verfaulte Schwarzseherei«, zischte er zu Michaelis hin, der seine dicken Beine, die wie Kissen aussahen, auseinander schlug und zum Zeichen der Verzweiflung seine Füße heftig unter den Stuhl schob.
Er, ein Schwarzseher! Unsinn! Er schrie auf, daß der Vorwurf Niedertracht sei. Schwarzseherei lag ihm so fern, daß er schon das Ende allen persönlichen Eigentums logisch und unvermeidlich herankommen sah, einfach nur durch das Weitergreifen seiner eigenen Verwerflichkeit. Die Besitzer irgendeines Eigentums hatten nicht nur mit dem erwachenden Proletariat zu rechnen, sondern sich auch untereinander zu bekämpfen. Jawohl. Streit und Kampf waren die Vorbedingungen für persönlichen Besitz. Das war Schicksal! Oh, er brauchte keine seelische Aufregung, um sich seinen Glauben zu erhalten, keine tönenden Reden, keine Wut, keine Gesichte von wehenden, blutroten Fahnen, oder rednerisch geschliffene Sonnen der Rache, die mit düsterem Schein über einer todgeweihten Gesellschaft aufgingen. Er nicht! Kalte Vernunft, so prahlte er, war die Grundlage seines Glücksglaubens, jawohl, Glücksglaubens!
Er unterbrach sein hartes Schnauben, schnappte ein paarmal nach Luft und fuhr dann fort:
»Glaubst du nicht, daß ich ohne diesen Glücksglauben in fünfzehn Jahren irgendein Mittel gefunden hätte, mir die Gurgel abzuschneiden? Und schließlich gab es ja auch immer noch die Wände, gegen die ich meinen Kopf rennen konnte.«
Die Kurzatmigkeit nahm seiner Stimme alles Feuer und allen Nachdruck. Seine großen, blassen Backen hingen wie gefüllte Taschen, bewegungslos, ohne ein Zittern; aber aus seinen blauen Augen, die spähend zwinkerten, leuchtete der gleiche selbstbewußte Scharfsinn, fast verrückt in seiner Unveränderlichkeit, wie sie ihn auch gezeigt haben mochten, während der unverbesserliche Optimist die Nächte über sinnend in seiner Zelle gesessen war. Karl Yundt stand immer noch vor ihm, den einen Flügel seines schäbigen Havelocks ritterlich über die Schulter geworfen; gerade vor dem Kamin streckte Genosse Ossipon, gewesener Mediziner und Verfasser der meisten Z. P.-Flugblätter, seine kräftigen Beine aus, die Schuhsohlen der Glut zugewandt; ein Büschel blonden Kraushaars krönte sein rotes, sommersprossiges Gesicht, das mit der platten Nase und den vorstehenden Lippen in der Form des rohen Negertypus gegossen schien. Über den breiten Backenknochen schmachteten seine mandelförmigen Augen; er trug ein graues Flanellhemd, und die losen Enden eines schwarzseidenen Halstuchs hingen über seine hochgeschlossene Jacke; den Kopf weit zurück auf die Sessellehne gelegt, den Hals tief entblößt, führte er von Zeit zu Zeit eine Zigarette Übersetzungsfehler in einer langen Holzspitze zum Mund und blies Rauchkringel zur Decke hinauf.
Michaelis baute seinen Gedanken weiter – den Gedanken seiner Haftjahre, den Gedanken, der ihm den Kerker erträglich gemacht hatte und in ihm wie eine Offenbarung gewachsen war. Er sprach vor sich hin, gleichgültig für die Zu- oder Abneigung seiner Hörer, gleichgültig sogar für ihre Gegenwart, einfach aus der Gewohnheit heraus, hoffnungsfroh zwischen den vier weißgekalkten Wänden seiner Zelle laut vor sich hinzudenken, in das tote Schweigen des riesigen Ziegelblocks hinein, der düster und häßlich neben einem Flusse aufragte, wie ein Grabmal für die Schiffbrüchigen der Gesellschaft.
Er taugte nicht zum Wortstreit, aber nicht etwa deswegen, weil irgendein Beweismittel seinen Glauben hätte erschüttern können, sondern darum, weil der bloße Klang einer anderen Stimme ihn schmerzlich verwirrte und seine Gedanken sofort durcheinander brachte – diese Gedanken, die so lange, in einer geistigen Einsamkeit, ärger als die einer wasserlosen Wüste, keine lebendige Stimme bekämpft, beurteilt oder gebilligt hatte.
Nun unterbrach ihn niemand mehr, und wieder legte er sein Glaubensbekenntnis ab, das ihn unwiderstehlich wie eine Offenbarung erfüllte: die Erklärung des Weltsinnes aus der dinglichen Seite des Lebens; die wirtschaftlichen Verhältnisse der Welt, verantwortlich für die Vergangenheit und Träger der Zukunft; zugleich auch die Quelle aller Geschichte, aller Gedanken, maßgebend für die geistige Entwicklung der Menschheit, und Triebfeder aller Leidenschaften. –
Ein mißtöniges Lachen des Genossen Ossipon schnitt den Redestrom kurz ab, die Zunge des Apostels stockte, und in seine milde glühenden Augen trat der Ausdruck verwunderter Unsicherheit. Er ließ einen Augenblick lang die Lider sinken, als wollte er seine Gedanken sammeln. Schweigen trat ein; inzwischen hatten aber die zwei Gasflammen über dem Tisch und die Glut im Kamin das kleine Wohnzimmer hinter Herrn Verlocs Laden schrecklich überheizt. Herr Verloc erhob sich widerstrebend und schwerfällig vom Sofa, öffnete die Tür zur Küche, um mehr Luft einzulassen und entdeckte dabei den harmlosen Stevie, der gut und brav an dem Fichtentisch saß und Kreise, Kreise, Kreise zeichnete; unzählige Kreise, konzentrisch, exzentrisch; einen Wirbel von Kreisen, alle von gleicher Größe, die durch das Gewirr ihrer Verschneidungen an ein kosmisches Chaos gemahnten, an den Versuch einer wahnsinnigen Kunst, das Unfaßbare darzustellen. Der Künstler wandte den Kopf nicht; in der leidenschaftlichen Hingabe an sein Beginnen bebte sein Rücken, und sein dünner Hals, der aus der tiefen Höhlung an der Schädelbasis hervorwuchs, schien abbrechen zu wollen.
Herr Verloc grunzte, unliebsam überrascht, und kehrte zu dem Sofa zurück. Alexander Ossipon erhob sich, ganz schlank unter der niedrigen Decke, in seinem abgetragenen blauen Tuchanzug, reckte sich nach dem langen Stillsitzen und schlenderte in die Küche (zwei Stufen tiefer), um Stevie über die Schulter zu sehen. Er kam zurück und orakelte: »Sehr gut. Sehr charakteristisch, ganz typisch.«
»Was ist sehr gut?« knurrte Herr Verloc, der sich wieder im Sofa zurecht gesetzt hatte. Der andere setzte seine Meinung nachlässig auseinander, mit deutlicher Herablassung und einer Kopfbewegung nach der Küche hin.
»Typisch für diese Form der Entartung – die Zeichnungen, meine ich.«
»Wollen Sie sagen, daß der Junge entartet ist?« murmelte Herr Verloc.
Genosse Alexander Ossipon – mit dem Spitznamen »der Doktor«, gewesener Mediziner ohne akademischen Grad; darnach Wanderlehrer in Arbeitervereinen über die soziale Zukunft der Hygiene; Verfasser einer halbwissenschaftlichen Abhandlung (in Gestalt eines billigen Schmökers, der von der Polizei sofort beschlagnahmt worden war), betitelt »Die fressenden Laster der Bürgerklasse«; Delegierter für literarische Propaganda des mehr oder weniger geheimnisvollen Roten Komitees, zusammen mit Karl Yundt und Michaelis, – Ossipon also wandte dem geheimen Vertrauten von mindestens zwei Gesandtschaften jenen Blick voll unerträglichen und unerschütterlichen Dünkels zu, den nur die Beschäftigung mit der Wissenschaft in das Auge eines Sterblichen zu bringen vermag.
»So wäre er wissenschaftlich zu bezeichnen. Er zeigt sogar alle typischen Merkmale seines Falles. Man braucht nur seine Ohrläppchen anzusehen. Wenn Sie Lombroso lesen –«
Herr Verloc saß mürrisch und breit auf dem Sofa und fuhr fort, über die Reihe seiner Westenknöpfe hinunterzusehen; in seine Wangen aber stieg ein leichtes Rot. In letzter Zeit hatte selbst die entfernteste Erwähnung des Wortes »Wissenschaft« (ein Wort, das an sich gewiß harmlos und von dehnbarer Bedeutung ist) die merkwürdige Folge, daß ihm sofort, mit fast unnatürlicher Schärfe das lebhafte Bild des Herrn Vladimir vor Augen trat und ausgesprochen feindliche Gefühle in ihm weckte. Und dieses Phänomen, das billigerweise auf wissenschaftliche Würdigung Anspruch machen konnte, versetzte Herrn Verloc in einen Zustand zwischen Furcht und Verzweiflung, mit der Neigung, sich in heftigem Fluchen Luft zu machen. Er sagte aber nichts. Nur Karl Yundt ließ sich hören, unversöhnlich bis zum letzten Atemzug.
»Lombroso ist ein Esel!«
Genosse Ossipon ertrug diese erschütternde Lästerung mit furchtbar leerem Blick. Dem anderen lagen die erloschenen, glanzlosen Augen tief dunkel im Schatten der großen, knochigen Stirne; er murmelte und schnappte nach jedem zweiten Wort mit den Lippen nach der Zungenspitze, als wollte er sie ärgerlich zerkauen:
»Ist Ihnen jemals ein solcher Schwachkopf vorgekommen? Für ihn ist der Gefangene der Verbrecher; ganz einfach, nicht wahr? Was aber ist es mit denen, die ihn eingesperrt – hineingezwungen haben? Jawohl, hineingezwungen haben! Und was ist Verbrechen? Weiß er das, dieser Trottel, der seinen Weg in dieser Welt voll gesegneter Narren gemacht hat, indem er auf Ohren und Zähne von ein paar unglücklichen Teufeln sah! Zähne und Ohren kennzeichnen den Verbrecher? Wirklich? Und was ist es mit dem Gesetz, das ihn noch weit besser kennzeichnet – das nette Brandeisen, das die Überfütterten erfunden haben, um sich gegen die Hungrigen zu schützen? Rotglühend auf ihr elendes Fell gebracht – wie? Riechen Sie nicht, hören Sie nicht von hier aus, wie der dicke Qualm von Menschenfleisch aufzischt? So werden Verbrecher gemacht, damit deine Lombrosos ihren Blödsinn darüber schreiben können.«
Sein Stockgriff zitterte mit seinen Beinen um die Wette, während der Rumpf, in die Flügel des Havelocks gehüllt, in seiner bekannten kühnen Haltung verblieb. Er schien die von der Gesellschaft erfundenen Foltern zu wittern, ihrem Geräusch angestrengt zu lauschen. Seine ganze Haltung strömte eine eigenartig zwingende Stimmung aus. Der jetzt kaum noch lebendige Veteran aus vielen Dynamitkriegen war seinerzeit ein großer Charakterdarsteller gewesen, auf Rednerbühnen, in Geheimversammlungen und in Einzelunterredungen. Der berüchtigte Terrorist hatte übrigens Zeit seines Lebens persönlich nie auch nur den kleinen Finger gegen den Aufbau der Gesellschaft gerührt. Er war kein Mann der Tat; es fehlte ihm sogar die wildbachartige Beredsamkeit, die die Massen in das brausende Gischten der Begeisterung mit fortreißt. Mit gutem Bedacht hatte er für sich die mehr heimtückische Rolle gewählt, die finsteren Triebe zu wecken, die unter dem blinden Neid und der verzweifelten Eigenliebe der Unwissenheit lauern, unter dem Kummer und Leid der Armut, unter all den Zerrbildern gerechten Zorns, Mitleids und Aufruhrs. Der Schatten seiner üblen Gabe hing ihm noch an, wie der Geruch eines tödlichen Giftes einem alten Gefäß, das nun leer ist, nutzlos und reif dafür, auf den Müllhaufen zu wandern, mit anderen Dingen, die ihre Zeit gedient haben.
Michaelis, der Bewährungsfristapostel, lächelte matt, mit geschlossenen Lippen; sein teigiges Mondgesicht senkte sich in trüber Zustimmung. Er war selbst Gefangener gewesen. Sein eigenes Fell hatte unter dem Brandmal aufgezischt, murmelte er; doch Genosse Ossipon, mit dem Spitznamen »der Doktor«, hatte inzwischen die Erschütterung überwunden.
»Sie verstehen nicht«, begann er verächtlich, brach aber kurz ab, eingeschüchtert durch die tote Schwärze der Augenhöhlen in dem Gesicht, das sich langsam mit leerem Blick ihm zuwandte, als folgte es nur dem Klange. Er gab das Gespräch mit einem leichten Achselzucken auf.
Stevie, der es gewöhnt war, herumzugehen, ohne beachtet zu werden, war vom Küchentisch aufgestanden und wollte seine Zeichnung mit ins Bett nehmen. Er war gerade rechtzeitig in die Wohnzimmertür getreten, um Karl Yundts bilderreichen Wortschwall mit aller Wucht zu empfangen. Das Blatt mit den vielen Kreisen flatterte ihm aus den Fingern, und er starrte den alten Terroristen an, als wäre er von seinem krankhaften Abscheu gegen körperliche Qualen auf den Fleck gebannt worden. Stevie wußte sehr gut, daß rotglühendes Eisen auf der Haut bitter weh tut. In seinen Augen stand Schreck und Empörung: es mußte furchtbar weh tun. Sein Mund klappte auf.
Michaelis hatte unverwandt ins Feuer gestarrt und dabei das Gefühl von Einsamkeit erlangt, das bei ihm zur Entwicklung einer Gedankenreihe notwendig war. Nun begann er, rosenrote Zukunftsbilder zu malen. Er sah den Kapitalismus schon in der Wiege dem Untergang geweiht, da er von Geburt an von dem Grundsatz des Wettstreits vergiftet war. Die großen Kapitalisten verschlangen die kleinen, sammelten alle Macht und Anlagen zur Erzeugung in ihren Händen, vervollkommneten jede Erfahrung und bereiteten mit allem irrsinnigen Vergrößerungsdrang nur den gesetzlichen Erbantritt des leidenden Proletariats vor. Michaelis sprach das große Wort »Geduld« aus – und sein klarer blauer Blick, zu der niedrigen Decke von Herrn Verlocs Wohnzimmer erhoben, strahlte von inbrünstiger, engelhafter Hoffnung. Stevie unter der Türe schien beruhigt in seinen Stumpfsinn zurückgesunken.
Das Gesicht des Genossen Ossipon zuckte vor Erregung.
»Dann ist es also sinnlos, etwas zu tun, vollständig sinnlos –«
»Das sage ich nicht«, wehrte Michaelis milde ab. Diesmal stand ihm die Wahrheit so klar vor Augen, daß auch der Klang der fremden Stimme nicht daran rütteln konnte. Er blickte weiter in die Glut. Es war notwendig, die Zukunft vorzubereiten, und er war bereit, zuzugeben, daß der große Wechsel sich vielleicht in einem Aufruhr vollziehen würde. Doch übersah er nicht, daß die Revolutionspropaganda eine heikle Arbeit war, die größte Gewissenhaftigkeit verlangte. Sie sollte die Herren der Welt heranziehen und keine geringere Sorgfalt erfordern als die Erziehung von Königen. Ihm schien größte Vorsicht, sogar Ängstlichkeit in der Zielsetzung geboten, angesichts unserer völligen Unkenntnis der Wirkungen, die jede wirtschaftliche Veränderung auf das Glück, die Gesittung, das Gewissen und die Geschichte haben kann. Denn die Geschichte wird mit Werkzeugen, nicht mit Gedanken gemacht; und alles ändert sich mit den wirtschaftlichen Verhältnissen – Kunst, Philosophie, Liebe, Tugend, sogar die Wahrheit selbst!
Die Glut im Kamin fiel mit leisem Knistern zusammen; und Michaelis, der Einsiedler, der in der Wüste eines Kerkers mit Gesichten begnadet worden war, stand eifrig auf. Rund wie ein aufgepumpter Ballon öffnete er seine kurzen, dicken Arme, als wollte er in hoffnungslosem Überschwang ein aus eigener Kraft geschaffenes Weltall an seine Brust drücken. Er schnappte vor Begeisterung nach Luft.
»Die Zukunft ist so gewiß wie die Vergangenheit – Sklaverei, Adelsherrschaft, Individualismus, Kollektivismus. Das ist die Feststellung eines Gesetzes, keine leere Wahrsagung.«
Die Art, wie Genosse Ossipon verächtlich die Lippen aufwarf, unterstrich noch seine negerhafte Gesichtsbildung.
»Unsinn,« sagte er verhältnismäßig ruhig, »hier gibt es weder Gesetz, noch Gewißheit. Die lehrhafte Propaganda soll der Teufel holen. Was die Leute wissen, ist gleichgültig, und wäre ihr Wissen noch so genau. Das einzige, was für uns in Betracht kommt, ist der Grad von Erregung in den Massen. Ohne Erregung gibt es keine Tat.«
Er unterbrach sich und fügte dann mit bescheidener Festigkeit hinzu:
»Ich spreche nun wissenschaftlich mit dir – wissenschaftlich – – wie? Was sagst du, Verloc?«
»Nichts«, grunzte Herr Verloc vom Sofa her, der beim Klang des verabscheuten Wortes ein inniges »verflucht« vor sich hin gemurmelt hatte.
Nun ließ sich das häßliche Geifern des alten, zahnlosen Terroristen hören.
»Wißt ihr, wie ich die jetzigen wirtschaftlichen Verhältnisse nennen möchte? – Kannibalisch! Das sind sie! Die Herrschenden nähren sich vom zuckenden Fleisch und dem warmen Blut des Volkes – das tun sie!«
Stevie schlang den furchtbaren Ausspruch mit hörbarem Gurgeln in sich hinein und sank, als wäre es ein schnell wirkendes Gift gewesen, kraftlos in sitzende Stellung auf den Stufen zur Küche nieder.
Michaelis gab kein Anzeichen, daß er etwas gehört hatte. Seine Lippen schienen aufeinandergeleimt. Seine Backen hingen regungslos. Er spähte unruhig nach seinem runden steifen Hut und setzte ihn auf seinen runden Kopf. Sein runder unförmlicher Leib schien zwischen den Stühlen unter dem scharfen Ellenbogen von Karl Yundt wegzuschweben. Der alte Terrorist rückte mit unsicherer klauenartiger Hand einen großen, schwarzen Schlapphut zurecht, der die Höhlen und Runzeln seines verwüsteten Gesichts beschattete. Er setzte sich langsam in Bewegung und stieß bei jedem Schritt den Stock auf den Boden. Es war recht mühsam, ihn zum Hause hinaus zu bringen, da er immer wieder, wie in Gedanken, stehen blieb und keine Anstalten machte, weiterzugehen, bevor ihn nicht Michaelis vorwärtsdrängte. Der freundliche Apostel hielt ihn brüderlich liebevoll am Arm gefaßt. Hinter ihnen drein schob sich gähnend, die Hand in den Hosentaschen, der kraftvolle Ossipon. Eine blaue Mütze mit wachsledernem Schirm, weit zurück auf sein blondes Kraushaar gesetzt, gab ihm das Aussehen eines norwegischen Seemannes, der nach einer furchtbaren Bierreise mit sich und der Welt zerfallen ist. Herr Verloc begleitete seine Gäste bis zur Haustüre und verabschiedete sich barhäuptig; sein schwerer Überrock hing offen, die Augen hielt er niedergeschlagen.
Er schloß die Türe hinter ihnen mit verhaltener Wut, drehte den Schlüssel um und schob den Riegel vor. Er war unzufrieden mit seinen Freunden. Im Licht von Herrn Vladimirs Philosophie des Bombenwerfens gesehen, erschienen sie hoffnungslos untüchtig. Da Herr Verloc bisher in der Revolutionspolitik lediglich die Rolle des Beobachters gespielt hatte, so konnte er nicht plötzlich, weder in seinem eigenen Hause, noch in größeren Versammlungen, von sich aus zur Tat drängen. Er mußte vorsichtig sein. Von der gerechten Empörung erfüllt, wie sie ein Mann von über Vierzig empfinden kann, der sich in seinem Teuersten bedroht sieht – seiner Ruhe und Sicherheit – fragte er sich verachtungsvoll, was anders wohl von einem solchen Kleeblatt zu erwarten gewesen wäre, von diesem Karl Yundt, diesem Michaelis – diesem Ossipon.
Im Begriff, die Gasflamme im Laden abzudrehen, versank Herr Verloc in abgrundtiefe, sittliche Betrachtungen. Mit der Einsicht eines geläuterten Charakters fällte er sein Urteil. Eine faule Bande – dieser Karl Yundt, der sich von einem triefäugigen alten Weibe ernähren ließ, einem Weibe, das er vor Jahren einmal einem Freunde abspenstig gemacht und seither öfter als einmal abzuschütteln versucht hatte. Zum Glück für Yundt hatte sie sich's einmal ums andere in den Kopf gesetzt, zu ihm zurückzukehren, sonst wäre jetzt wohl niemand da, der ihm am Gitter von Green Park aus dem Autobus half, wenn er an einem schönen Morgen dort spazieren kriechen wollte. Wenn die unbändig schnatterhafte alte Hexe starb, dann mußte das wacklige Gespenst mit ihr verschwinden – dann war es mit dem kühnen Karl Yundt vorbei. Auch die Hoffnungsfreudigkeit von Michaelis gab Herrn Verloc Anlaß zu sittlicher Entrüstung; denn der wieder hatte sich an seine reiche, alte Dame gehängt, die sich kürzlich dazu verstiegen hatte, ihn auf ihr Landhaus hinauszuschicken. Der alte Sträfling konnte sich Tag für Tag in köstlicher Untätigkeit auf schattigen Wiesen wälzen. Ossipon nun gar, der Gauner, brauchte sich gewiß um nichts zu sorgen, solange es noch dumme Mädel mit Sparkassenbüchern auf der Welt gab. Herr Verloc, der im Grunde mit seinen Genossen doch so gleichgeartet war, machte innerlich auf Grund kleiner Eigenheiten feine Unterscheidungen. Er machte sie mit einer Art Selbstgefälligkeit, denn das Gefühl für bürgerlichen Wohlanstand war sehr stark in ihm, wenn auch überwuchert von seiner Abneigung gegen jede Art von ehrlicher Arbeit – ein Fehler in der Veranlagung, den er mit vielen revolutionären Reformern einer gegebenen gesellschaftlichen Ordnung gemein hatte. Denn natürlich empört man sich ja nicht gegen die vorteilhaften Möglichkeiten dieser Ordnung, sondern gegen den Preis, der dafür bezahlt werden muß, in Form von sittlicher Selbstbeschränkung und Arbeit. Die Mehrzahl sind Feinde von Zucht und schwerer Arbeit. Es gibt auch andere, für deren Gerechtigkeitssinn der geforderte Preis unverhältnismäßig übertrieben erscheint, verabscheuungswürdig, erpresserisch, blutsaugerisch, unerträglich. Das sind die Fanatiker. Den Rest der Rebellen treibt die Eitelkeit, die Mutter aller edlen und verwerflichen Hirngespinste, die Begleiterin von Dichtern, Reformern, Scharlatanen, Propheten und Brandstiftern.
Eine volle Minute lang verlor sich Herr Verloc in den Abgründen dieser Erwägungen, ohne ihre letzten Tiefen ergründen zu können. Vielleicht war er dazu nicht fähig. Keinesfalls hatte er die Zeit dazu. Er schreckte auf bei der plötzlichen Erinnerung an Herrn Vladimir, noch einen seiner Bekannten, den er kraft feinster seelischer Verwandtschaft einwandfrei beurteilen konnte. Er hielt ihn für gefährlich. Ein Schatten von Neid fiel über seine Gedanken. Der Müßiggang war schon recht für die Kerle, die Herrn Vladimir nicht kannten und Weiber hatten, auf die sie sich stützen konnten; er aber, der für eine Frau zu sorgen hatte – – Hier fiel Herrn Verloc durch eine einfache Gedankenverknüpfung die Notwendigkeit ein, früher oder später an diesem Abend zu Bett zu gehen. Warum denn nicht jetzt – sofort? Er seufzte. Die Notwendigkeit war nicht so durchaus erfreulich, wie sie es für einen Mann seines Alters und seiner Gemütsart hätte sein sollen. Er fürchtete den Dämon der Schlaflosigkeit, der, wie er fühlte, von ihm Besitz ergriffen hatte. Er hob den Arm und drehte die flackernde Gasflamme über seinem Kopf ab.
Ein breiter Lichtstreifen fiel durch die Wohnzimmertüre in den Raum hinter dem Ladentisch und ermöglichte es Herrn Verloc, einen Blick auf die Zahl der Silbermünzen in der Ladenkasse zu werfen. Es waren nur wenige, und zum ersten Mal, seit er seinen Laden eröffnet hatte, versuchte er, ihn geschäftlich einzuschätzen. Diese Einschätzung fiel ungünstig aus. Ihn hatte keine geschäftliche Erwägung zum Handel geführt, vielmehr war bei der Wahl dieses Geschäftszweiges seine innerliche Neigung zu dunklen Machenschaften maßgebend gewesen, mit denen leicht Geld zu verdienen ist. Dann führte ihn dieser Handel auch nicht aus seinem Kreise heraus – aus dem Kreise derer, die von der Polizei beobachtet werden. Im Gegenteil, er wies ihm einen offenen, anerkannten Platz in diesem Kreise an, und da Herr Verloc geheime Beziehungen hatte, die ihn mit der Polizei vertraut machten und ihn der Notwendigkeit überhoben, auf sie aufzupassen, so bot diese Lage ausgesprochene Vorteile. Die Mittel zum Lebensunterhalt allerdings waren daraus allein nicht zu ziehen.
Er zog die Kassenschublade heraus und bemerkte, im Begriff, den Laden zu verlassen, daß Stevie immer noch unten war.
Was in aller Welt tut er noch hier, dachte sich Herr Verloc. Was sollen die Mätzchen? Er sah seinen Schwager zweifelnd an, ließ aber keine Frage laut werden. Herrn Verlocs Unterhaltung mit Stevie beschränkte sich auf ein gelegentliches Murmeln in den Morgenstunden, nach dem Frühstück, »meine Schuhe«, und auch das war eher die allgemeine Verlautbarung eines Bedürfnisses, als ein unmittelbarer Auftrag oder Wunsch. Herr Verloc bemerkte mit einiger Überraschung, daß er nicht wußte, was er zu Stevie sagen sollte. Er stand mitten im Wohnzimmer und sah schweigend in die Küche hinunter. Er wußte auch nicht, was geschehen würde, wenn er etwas sagte. Und dies erschien Herrn Verloc ganz besonders merkwürdig, angesichts der Tatsache, die ihm nun plötzlich zum Bewußtsein kam: daß er für diesen Burschen auch mit zu sorgen haben sollte. An diese Seite von Stevies Dasein hatte er bisher noch keinen Augenblick gedacht.
Er wußte also tatsächlich nicht, wie er den Jungen anreden sollte. Er sah ihm zu, wie er in der Küche gestikulierte und murmelte. Stevie rannte um den Tisch wie ein gereiztes Tier. Der Versuch eines »Willst du nicht lieber zu Bett gehn?« blieb ohne alle Wirkung; und Herr Verloc ließ die starre Betrachtung von seines Schwagers Gehaben sein und durchquerte müde, die Kassenschublade in der Hand, das Wohnzimmer. Da die Ursache der allgemeinen Müdigkeit, die er beim Stiegensteigen fühlte, rein geistiger Art war, so fühlte er sich dadurch erschreckt. Er würde doch wohl nicht krank werden? Er blieb in dem dunklen Vorraum stehen, um seine Gefühle genau zu prüfen. Dabei störte ihn aber ein leises und beständiges Schnarchen, das die Dunkelheit durchdrang. Der Laut kam aus dem Zimmer seiner Schwiegermutter. Noch eine, für die gesorgt werden mußte, dachte er – und ging mit diesem Gedanken in sein Schlafzimmer.
Frau Verloc war eingeschlafen, während die Lampe auf ihrem Nachttisch (Gas war im ersten Stock nicht gelegt) hell brannte. Das Licht fiel unter dem Schirm hervor grell auf das weiße Kissen, das von dem Gewicht ihres Kopfes tief eingedrückt wurde. Sie lag mit geschlossenen Augen und hatte das Haar für die Nacht in viele Zöpfe aufgesteckt. Nun fuhr sie auf, als ihr Name ihr Ohr traf, und sah ihren Gatten über sich gebeugt stehen.
»Winnie, Winnie!«
Zunächst rührte sie sich nicht, lag ganz ruhig und sah nach der Kassenlade in Herrn Verlocs Händen. Als sie aber begriffen hatte, daß ihr Bruder »unten herumturne«, schwang sie sich mit einer jähen Bewegung auf den Bettrand. Mit den bloßen Füßen, die aussahen, als wären sie durch den Boden eines schmucklosen Kalikosacks, mit Ringen an Hals und Handgelenken eng zugebunden, durchgesteckt, tastete sie auf dem Boden nach den Pantoffeln, während sie ihrem Mann ins Gesicht sah.
»Ich weiß nicht, wie ich ihn bändigen soll,« erklärte Herr Verloc verdrießlich, »und es geht doch auch nicht, daß er unten bleibt, mit all den brennenden Lichtern.«
Sie sagte nichts, glitt rasch durch das Zimmer, und die Tür schloß sich hinter ihrer weißen Gestalt.
Herr Verloc setzte die Kassenlade auf seinen Nachttisch und begann mit dem Auskleiden, indem er seinen Überrock auf einen weit wegstehenden Stuhl warf. Jacke und Weste folgten. Er ging in Socken durch das Zimmer, und seine stämmige Gestalt mit den Händen, die unruhig an der Kehle herumzerrten, tauchte immer wieder in der langen, schmalen Spiegeltüre des Kleiderkastens auf. Endlich schleuderte er die Hosenträger von den Schultern, riß dann ungestüm die Rolladen hoch und legte die Stirn gegen die kalte Scheibe. Diese dünne Glasplatte trennte ihn nun von der ungeheuren Anhäufung von Ziegeln, Schiefer und Steinen, Dingen, die an sich nicht schätzenswert und dem Menschen abhold sind und sich da draußen in naßkaltem, schmutzigem Dunkel ausbreiteten.
Herr Verloc empfand die Feindseligkeit der lauernden Außenwelt mit einer Stärke, die an körperliche Angst grenzte. Es gibt keine Beschäftigung, die einem Manne weniger Rückhalt bietet als die eines geheimen Polizeiagenten. Es ist, wie wenn das Pferd tot unter einem zusammenfällt, inmitten einer unbewohnten, wasserlosen Wüste. Der Vergleich drängte sich Herrn Verloc auf, weil er zu seiner Zeit mehr als ein Militärpferd geritten und nun das Gefühl eines bevorstehenden Sturzes hatte. Die Zukunft war so schwarz, wie die Fensterscheibe, gegen die er seine Stirn lehnte, und plötzlich tauchte das Gesicht des Herrn Vladimir, glattrasiert und witzig, in rosigem Schimmer auf, wie ein rotes Siegel auf dem schicksalhaften Dunkel. Diese leuchtende Erscheinung war so furchtbar körperlich, daß Herr Verloc vom Fenster wegsprang und den Rollladen rasselnd fallen ließ. Sprachlos bestürzt über die Wiederholung solcher Gesichte, merkte er noch, daß sein Weib wieder ins Zimmer trat und sich mit sozusagen geschäftlicher Ruhe wieder zu Bett legte, was in ihm das Gefühl wachrief, in der Welt hoffnungslos allein zu stehen. Frau Verloc äußerte ihre Überraschung darüber, ihn noch wach zu finden.
»Ich fühle mich nicht recht wohl«, stammelte er und fuhr sich mit den Händen über die feuchten Brauen.
»Schwindlig?«
»Ja, gar nicht gut.«
Frau Verloc ließ mit aller Sanftmut der erfahrenen Gattin eine vertrauliche Vermutung über den Grund laut werden und riet zu den üblichen Gegenmitteln; ihr Mann aber stand starr in der Mitte des Zimmers und schüttelte trübe den gesenkten Kopf.
»Du wirst dich erkälten, wenn du da stehen bleibst,« sagte sie.
Herr Verloc gab sich einen Ruck, zog sich vollends aus und ging zu Bett. Tief unten in der ruhigen Gasse näherten sich gemessene Schritte dem Hause und verklangen wieder, fest und ohne Eile, als ob der, der da vorbeiging, sich vorgenommen hätte, in einer endlosen Nacht die Ewigkeit von Gaslampe zu Gaslampe zu durchmessen; und das schläfrige Ticken der alten Uhr im Stiegenhause war im Schlafzimmer deutlich zu hören.
Frau Verloc, die auf dem Rücken lag und nach der Decke sah, machte eine Bemerkung.
»Sehr kleine Einnahme heute.«
Herr Verloc, in der gleichen Lage, räusperte sich wie zu einer wichtigen Feststellung, fragte aber dann nur:
»Hast du das Gas unten abgedreht?«
»Ja, das tat ich,« gab Frau Verloc zurück. »Der arme Junge ist heute abend recht aufgeregt«, murmelte sie nach einer Pause, die drei Pendelschläge der alten Uhr lang gedauert hatte.
Herr Verloc kümmerte sich durchaus nicht um Stevies Aufregung, doch fühlte er sich elend wach und fürchtete sich vor der Finsternis und Stille, die dem Auslöschen der Lampe folgen mußten. Diese Furcht veranlaßte ihn zu der Bemerkung, daß Stevie seine Aufforderung, zu Bett zu gehen, nicht beachtet habe. Frau Verloc ging in die Falle und begann langatmige Erklärungen darüber, daß das nicht »Ungezogenheit«, sondern einfach »Aufregung« gewesen sei. Sie versicherte, daß es in ganz London keinen jungen Mann dieses Alters gäbe, der williger und gelehriger wäre als Stephan, auch keinen, der so zärtlich und gefällig und sogar so nützlich war, solange ihm nicht die Leute seinen armen Kopf verdrehten. Frau Verloc wandte sich ihrem zurücksinkenden Gatten zu, erhob sich selbst auf dem Ellenbogen und beugte sich über ihn, in dem ängstlichen Eifer, ihn davon zu überzeugen, daß Stevie ein nützliches Mitglied der Familie sei. Die Wärme dieses schirmenden Mitgefühls, das schon in den Tagen ihrer Kindheit durch den Anblick der Leiden eines anderen Kindes krankhaft übersteigert worden war, brachte eine leise Röte in ihre bleichen Wangen und Glanz in ihre großen Augen unter den dunklen Lidern. Frau Verloc sah verjüngt aus; sie sah so jung aus, wie die Winnie früherer Tage, und sehr viel lebhafter, als die Winnie der Belgravia-Pension es sich gestattet hätte, den Junggesellenmietern zu erscheinen. Herrn Verlocs Ängste hatten ihn gehindert, in den Worten seiner Frau irgendwelchen Sinn zu suchen. Für ihn war es, als käme ihre Stimme von der anderen Seite einer sehr dicken Mauer herüber. Erst ihr Anblick brachte ihn zur Besinnung.
Er schätzte diese Frau, und das Bewußtsein dieser Wertschätzung, durch irgend etwas wie Gefühlserregung aufgerührt, steigerte noch sein inneres Angstgefühl. Als ihre Stimme verstummte, machte er eine Bewegung der Verlegenheit und sagte:
»Ich habe mich schon die letzten Tage her nicht recht wohl gefühlt.«
Das war vielleicht als die Eröffnung einer richtigen Beichte gedacht; Frau Verloc aber legte ihr Haupt wieder auf das Kissen, starrte zur Decke und fuhr fort:
»Der Junge hört zu viel von dem, was da unten gesprochen wird. Hätte ich gewußt, daß die anderen heute abend kommen wollten, so hätte ich ihn mit mir zugleich zu Bett gehen lassen. Er war ganz außer sich über irgendeinen aufgeschnappten Satz von gegessenem Menschenfleisch und getrunkenem Blut. Was hat es für einen Wert, so zu reden?«
»Frage Karl Yundt,« knurrte er wütig.
Frau Verloc erklärte Karl Yundt mit größter Entschiedenheit für »einen ekelhaften alten Mann«, machte dagegen kein Geheimnis aus ihrer Zuneigung für Michaelis; über den athletischen Ossipon, in dessen Gegenwart sie hinter äußerlicher Zurückhaltung stets ein inneres Unbehagen verbarg, sagte sie gar nichts und fuhr fort, von ihrem Bruder zu sprechen, der durch so lange Jahre der Gegenstand ihrer Sorgen und Ängste gewesen war.
»Das, was hier gesprochen wird, taugt nicht für ihn. Er nimmt alles für bare Münze. Er versteht es ja nicht besser, und dann steigert er sich in seine Anfälle hinein.«
Herr Verloc schwieg dazu.
»Er stierte mich an, als kennte er mich nicht mehr, als ich hinunter kam. Sein Herz schlug wie ein Hammer. Er kann ja nichts dafür, daß er so erregbar ist. Ich weckte Mutter auf und bat sie, bei ihm sitzen zu bleiben, bis er eingeschlafen wäre. Es ist nicht sein Fehler. Wenn man ihn sich selbst überläßt, fällt er wirklich niemandem lästig.«
Herr Verloc schwieg dazu.
»Ich wünschte, er wäre nie zur Schule gegangen«, hob Frau Verloc unversehens wieder an. »Jetzt holt er sich immer die Zeitungen aus dem Fenster zum Lesen. Er wird ganz rot im Gesicht, während er sie durchstudiert. Wir verkaufen ja kein Dutzend davon in einem Monat. Sie nehmen im Ladenfenster nur Platz weg, und Herr Ossipon bringt jede Woche einen Stoß der Z. P.-Flugblätter, die zu einem halben Penny das Stück verkauft werden sollen. Ich wollte keinen halben Penny für den ganzen Pack geben. Es ist lauter Unsinn – das ist es. Und das Zeug ist nicht zu verkaufen. Neulich erwischte Stevie eins von den Blättern, und da stand eine Geschichte von einem russischen Offizier darin, der einem Rekruten das Ohr halb abriß und straflos blieb. Das Vieh! An dem Nachmittag konnte ich mit Stevie gar nichts anfangen. Die Geschichte war ja darnach, um einem das Blut in Wallung zu bringen. Aber wozu braucht man solche Sachen zu drucken? Wir sind ja keine russischen Sklaven hier, Gott sei Dank. Es geht doch uns nichts an – oder?«
Herr Verloc antwortete nicht.
»Ich mußte dem Jungen das Vorlegemesser wegnehmen,« fuhr Frau Verloc, nun schon ein wenig schläfrig, fort, »er schrie, strampelte und schluchzte. Er verträgt es nicht, von irgendeiner Grausamkeit zu hören. Er hätte den Offizier sicherlich wie ein Schwein abgestochen, wenn er ihn gerade in die Finger bekommen hätte. Es ist ja auch wahr! Manche Leute verdienen keine Gnade.«
Frau Verloc verstummte, und der Ausdruck ihrer bewegungslosen Augen wurde während der langen Pause mehr und mehr beschaulich und verschleiert. »Geht es dir nun besser, mein Lieber?«, fragte sie noch leise, wie von weither. »Kann ich jetzt das Licht ausdrehen?«
Die trostlose Überzeugung, daß es keinen Schlaf für ihn gäbe, lähmte zugleich mit der Angst vor der Dunkelheit Herrn Verlocs Zunge und Glieder. Er nahm sich mit Gewalt zusammen.
»Ja, lösche aus«, sagte er tonlos.