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VII. Kapitel.

Lore hatte die Sommerferien teils in Schwerin, teils bei den Eltern verlebt, nur zu Michaelis war sie in Urlitz geblieben, und die Pastorin hatte ihr Nell für einige Tage eingeladen. Frau Pastor Felseck war eine stille, gütige Frau, eine echte Mutter, unter deren Obhut auch Lore sich unendlich wohl fühlte.

Es war eine Freude, zu sehen, wie das Mädchen aufgeblüht war. Als sei sie eine andere, so froh klang ihre Stimme, so hell glänzten ihre Augen. Ihre Schülerin hatte sich eng an sie angeschlossen, und die drei Jüngsten hingen an ihr wie die Kletten. Selbst die beiden ältesten Knaben, die in Schwerin das Gymnasium besuchten, drängten sich dazu, sie in den Ferien auf dem See zu rudern oder mit ihr und Gretchen umher zu streifen. Wie groß ward erst das Vergnügen, als die fröhliche Nell dazu kam und auch Onkel Siegfried, der den Jungens besonders interessant war, weil er zu den Heiden wollte.

Eines Tages ruderte er mit seinen jungen Neffen die Mädchen und Gretchen über den Pinnower See nach dem gegenüberliegenden Buchenwalde. Sie landeten bei dem Steinernen Tisch, ein kreisrunder, von einzeln stehenden Eichen und Buchen beschatteter Platz, von dem aus man den See in seiner ganzen Ausdehnung, mit seinen Inseln, seinen hier und da am Ufer liegenden Dörfern, dem dicht bewachsenen Petersberg und den weiten Forst von Rabensteinfeld, überblicken konnte.

»Welche himmlische Ruhe,« sagte Lore.

»Wir wollen weiter,« drängte Franz.

»Ja, Bewegung und Leben sind schöner als Ruhe,« rief Hermann.

»Das sage ich auch, Jungens,« pflichtete Nell ihnen bei und stürmte mit den beiden eilig voran, bis es ihr einfiel, daß das zarte Gretchen nicht so schnell folgen konnte. So blieben sie stehen, bis die Nachzügler herankamen. Die Knaben nahmen Gretchen in ihre Mitte, so folgte Nell mit Siegfried Felseck.

»Mich wundert, Fräulein Wartenberg, daß Sie in Schwerin bleiben und nicht lieber ins Leben hinausstreben, um etwas von der Welt zu sehen,« begann er die Unterhaltung.

»Das möchte ich auch sehr gern, aber erstens bleibe ich gern bei meinem Vater und zweitens habe ich lieber eine ganze Schar um mich, als nur zwei oder drei Schülerinnen. Ich freue mich auf meine volle Klasse. Wie will ich sie lieb haben, jedem einzelnen nahe zu kommen suchen, um auf Herz und Charakter der kleinen Menschlein einzuwirken. Wie schön und lohnend muß es sein, die Kinderseelen zu studieren und ihnen das Gepräge zu geben.«

»Wie würden Sie sich zur Lehrerin der armen Kinder eignen, die sich in Kudulur unter der Obhut einer Tante von mir befinden. Mit welcher Liebe würden Sie für die unglücklichen Waisen leben.«

Nell blickte ihn mit glänzenden Augen an. »Bitte, erzählen Sie mir ausführlich. Ich interessiere mich lebhaft für die Mission.«

»Meine Tante ist vor sechs Jahren als Senana-Lehrerin, nach Indien gegangen. Sie wissen ja, Fräulein Wartenberg, daß kein Mann, nicht einmal ein Arzt, die Frauengemächer betreten darf. Da ist es ein großer Segen, wenn sich hier in unserer deutschen Heimat Mädchen entschließen, zu ihnen zu gehen, um die völlig unwissenden Frauen im Lesen und Schreiben und in Handarbeit zu unterrichten. Sehr gut ist es, wenn sie auch wenigstens so viel medizinische Kenntnisse besitzen, ihnen in Krankheitsfällen mit Rat und Tat beistehen zu können. Meine Tante hat viel Gutes gewirkt, und es gab ein großes Jammern und Wehklagen unter den braunen Frauen, als sie nach Kudulur an die Waisenschule berufen ward.«

»Sind viele Kinder dort?«

»Mehr als sie aufnehmen können. Die in Indien so häufig auftretende Hungersnot schafft viele Waisen, da ist es nicht selten, daß die Schwestern morgens halb verhungerte kleine Geschöpfe vor der Pforte finden. Das gibt dann bittere Verlegenheit, wenn die Station z. B. auf sechzig Kinder eingerichtet ist und die Zahl auf hundert und darüber anwächst.«

»Aber sie werden doch aufgenommen? Das ist doch ganz undenkbar, so ein hungerndes, hilfloses Kind fortzuschicken? Sein Herzblut müßte man dafür geben können.«

»Meine Tante bringt es jedenfalls nicht fertig, wenn sie auch oft nicht aus noch ein weiß.«

»Aus was für Mitteln wird das Waisenhaus erhalten?«

»Hauptsächlich aus dem Missionsfond. Der versagt aber auch zuweilen, wenn zu große Anforderungen an ihn gestellt werden. Es hat sich aber noch immer Rat gefunden. Gottlob. Zu Weihnachten gehen von allen Seiten Geschenke ein, denen häufig kleinere oder größere Geldbeträge beigefügt sind, dann haben sich hier in unserer Heimat auch gute Menschen bereit erklärt, die Erziehung für so ein armes Geschöpf zu übernehmen und jährlich eine gewisse Summe zu zahlen. Auf diese Weise sind sie immer noch imstande gewesen, die Kleinen aufzunehmen. Das Haus müßte indessen vergrößert werden, und dazu bedarf es besonderer Opferfreudigkeit. Tante Pauline hofft aber, daß es in zwei Jahren so weit sein wird.«

»So lange soll es noch dauern? Vielleicht gar noch Kinder zurückgewiesen werden müssen? Nein, dahin darf es nicht kommen. Da müssen wir hier alle Hebel in Bewegung setzen. Ich habe viele gute Freunde und Bekannte, die müssen alle helfen,« rief sie lebhaft.

»Ich freue mich Ihres schönen Eifers, und ich danke Ihnen für Ihre Hilfsbereitschaft, Fräulein Wartenberg,« entgegnete er warm.

Sie hatten ihr Ziel, die Rutsche erreicht, und fanden Lore in Schauen versunken. Der Blick auf den Schweriner See war von hier aus besonders reizvoll. Vor ihnen lagen die Inseln Ziegelwerder und Kaninchenwerder, letztere mit einem hohen Aussichtsturm, der auf einer kleinen Anhöhe stand und die Wipfel der prachtvollen alten Eichen und Buchen noch weit überragte. Südlich stiegen die waldigen Ufer von Mues und Zippendorf auf, hier und da scharf hervorspringend und sich bis Schwerin hinziehend. Sein stolzes Schloß, dessen zahlreiche Zinnen und Türme im Sonnenglanze blinkten und gleißten, schien wie ein Märchenschloß auf seinem grünen Eiland im Wasser zu schwimmen. Ehrwürdig schloß sich dem Wunderbau die alte Stadt mit ihren ragenden Kirchtürmen an.

»Ist sie nicht schön, meine Heimat?« fragte Nell.

»Sehr schön,« entgegnete der junge Geistliche lächelnd, »unbedingt schöner als meine Heimat, und doch liebe ich das stille, im Flachland liegende Dorf. Ich wüßte mir nichts Lieberes auf Erden, und gern würde ich dermaleinst der Nachfolger meines Vaters. Aber es zieht mich hinaus in die Welt zu den armen Heiden, ihnen das Evangelium zu bringen. Ich kann nicht anders, trotz der Tränen meiner schwächlichen Mutter, ich muß der inneren Stimme folgen, die mich gehen heißt.«

»Dann ist es das Rechte, Gott selbst ruft Sie,« entgegnete Nell ernst. »Er braucht Sie da draußen, ihm Seelen zu gewinnen. Es muß etwas Großes und Herrliches darum sein, so wirken zu können.«

Lore, die schweigend zugehört hatte, sah sich unruhig nach der Freundin um. Wie leicht begeisterte sie sich und wie hatte sie immer gewünscht, auch im Großen zu wirken! Was mochte sie jetzt für Gedanken haben? Plötzlich überzog sich Lores zartes Antlitz mit heller Röte. Den Weg herauf kam ein Radler, der sein Rad vor sich herführte.

»Nell – das ist ja – beinahe glaube ich, daß es dein Bruder ist, der da heraufkommt.«

Nell fuhr herum, ein Schelmenlachen auf den eben noch so ernsten Zügen. »Natürlich ist er das, Kleines. Gott grüß dich, Großer, treibt deine brüderliche Sehnsucht dich bis hierher auf die Rutsche?«

»Natürlich, Schwesterlein. Du hattest Väterchen ja mitgeteilt, daß hierher ein Ausflug geplant sei, und da ich gerade in Rabensteinfeld zu tun hatte, richtete ich mich so ein, daß mir ein Stündchen Zeit übrig blieb. Als liebenswürdiger Bruder darf ich doch keine Gelegenheit vorübergehen lassen, mich persönlich von deinem Wohlergehen zu überzeugen.«

»Du bist wirklich rührend, alter Junge,« entgegnete Nell und klopfte ihm liebevoll auf die Schulter.

Hugo, bereits gut Freund mit den Urlitzern, ward von allen mit großer Herzlichkeit begrüßt. Sie hielten sich noch ein Stündchen an dem hübschen Plätzchen auf, dann ward gemeinsam der Rückweg angetreten, bis zu der Stelle, wo das Pfarrboot lag.

»Und Ihnen geht es gut, Fräulein Lore,« fragte der junge Arzt wie beiläufig, als er ihr hinein half. Er hatte sich fast ausschließlich mit dem zukünftigen Missionar unterhalten und scheinbar kaum beachtet, daß sie da war.

»Sehr gut, Herr Doktor, danke,« entgegnete sie kurz und wandte sich schnell von ihm ab.

Er stand noch lange am Ufer und sah dem sich entfernenden Boote nach. Dann schritt er den niederen Hang hinauf, schwang sich auf sein Stahlroß und fuhr davon.

An diesem Abend wurde in dem Mädchenstübchen der Urlitzer Pfarre nicht so lebhaft geplaudert und gelacht wie sonst. Um Lores feine Lippen lag wieder der leise Schmerzenszug, und Nell starrte, gegen ihre Gewohnheit, in den Mond.

»Wie herrlich muß es sein, so für Gottes Reich zu arbeiten,« sagte sie aus ihren Gedanken heraus.

Langsam trat Lore zu ihr hin und blickte ihr unruhig in die glänzenden Augen.

»Nell, hat er dich mit seiner Begeisterung angesteckt? Ich fürchtete es vom ersten Abend an, als er dir so viel von Indien vorschwärmte. O Nell, höre nicht auf ihn. Er legt es ja offenbar darauf an, dich zur Senanalehrerin einzufangen! Und du darfst nicht fort, dich kann ich nicht auch noch verlieren, dich nicht!« Heiße Tränen stürzten ihr über die Wangen.

»Lore, Kleines, ich denke nicht daran, beruhige dich doch.«

»Wir können hier ja auch so viel für die Mission tun, Nell,« fuhr Lore beschwörend fort, »die Pastorin schickt jede Weihnachten Sachen nach Kudulur, da kann sie viele Hilfe gebrauchen. Nicht wahr, wir wollen tüchtig mitarbeiten? Es gibt ja so unzählige arme Waisenkinder da draußen.«

Sie erhielt keine Antwort. Die Nell schaute ins Weite und sah doch nichts von dem hell im Mondlicht flimmernden See, von der in tiefem Frieden schlummernden Landschaft.

»Wie kann das Leben nur so reich sein, so unbeschreiblich groß und reich,« sagte sie wie zu sich selbst.

Da wußte die kleine Lore, daß sie, falls sich keine stärkere Kraft geltend machte, mit all ihrer warmen Liebe die Nell nicht halten würde. Die weilte mit ihrem ganzen Denken, Sein und Empfinden schon mitten unter den braunen Kindern da draußen im fernen Indien.

* * *

Die Ferien waren vergangen. Es war Herbst geworden. Nell trat ihre Stellung an und unterrichtete mit großem Eifer. Sie arbeitete sich schnell ein und fühlte sich sehr glücklich. Und doch, Väterchen merkte es täglich, daß sein fröhlicher Kamerad nicht völlig im Interesse für die Schule aufging. Da war noch etwas, das die Gedanken der Nell gefangen nahm.

Mit geheimer Unruhe beobachtete er die Tochter, aber er äußerte sich nicht, sie mußte allein zur inneren Klarheit kommen. Er wußte nur so viel, daß der junge Pastor Felseck ihr Bücher und Blätter über die Missionsarbeit in Indien schickte, stets von einigen Zeilen begleitet. Sie las dem Vater auch aus den Briefen vor, die sie seit Weihnachten aus Kudulur von Schwester Pauline erhielt, und ließ ihn teilnehmen an dem, was ihr Herzenssache geworden war.

Aber gerade dieser Briefwechsel, ihr ein immer reicherer Quell der Freude, erfüllte Väterchen mit geheimer Sorge, denn er sah, wie die Tochter mit feinen, aber starken Fäden von ihm fortgezogen wurde.

Ganz gegen seine Gewohnheit ward er, je weiter die Zeit vorschritt, ohne eine Änderung zu bringen, still und blaß. Dies entging der Nell nicht und die Liebe zu Väterchen, dem sie, das fühlte sie immer mehr, unentbehrlich war, fing an, über das Neue, das in ihr Leben getreten war, zu siegen.

Freilich ging es nicht ohne schwere innere Kämpfe ab. Es war ihr ernst gewesen mit ihrem Wunsch, sich ganz der Mission zu widmen. Die feurige Beredsamkeit Siegfried Felsecks hatte etwas Zwingendes auf sie ausgeübt, es hatte ihr auch geschmeichelt, daß ein so bedeutender Mann sie für den schweren Beruf einer Senanalehrerin für ganz besonders befähigt hielt.

Sie verstand sich oft selbst nicht. In ihrer Natur lag es so gar nicht, zu keinem Entschluß zu kommen. Hier standen sich jedoch zwei gleichstarke Mächte gegenüber: die Liebe zu Väterchen und ihrem Beruf und die Begeisterung für die Mission, die sie im Großen wirken hieß. So ward sie hin- und hergeworfen, und der Winter verging, ohne daß sie zu völliger Klarheit kam.

Als der Frühling mit Singen und Klingen ins Land zog, reiste Nell nach Güstrow zu Christas Hochzeit. Die Freundinnen sahen sich zum ersten Male wieder, und Nell begriff jetzt völlig Erich Baumgartens Wahl, so überaus lieblich wie Christa sich entwickelt hatte. Sie konnte sich nur immer von neuem wundern, was die ernste, tiefe Liebe aus der kleinen Egoistin gemacht hatte.

»Sieh, Nell,« sagte sie, »ich habe Erich jetzt ganz anders lieb als früher. Da kam ich immer zuerst, da wollte ich unter allen Umständen die Hauptperson sein, und alles sollte nach meinem Kopfe gehen, fiel dann auch nur die geringste Kleinigkeit anders aus, so ward ich verdrießlich und fühlte mich totunglücklich. Jetzt denke ich zuerst an ihn, immer nur an ihn, und da habe ich ganz verlernt, enttäuscht und verdrossen zu werden. Jetzt habe ich nur das Verlangen, ihm Sonnenschein zu geben – mit Gottes Hilfe – es lebt sich so schön im Sonnenschein. Das habe ich bei Onkel und Tante gesehen, und das habt ihr mich gelehrt, du und dein Väterchen. Meinst du nicht, Nell, daß ich dabei auch mein Lebensglück finden werde?«

Nell konnte ihr nur stumm die Hand drücken.

Sie hatte sich etwas vor einem Wiedersehen mit dem Forstassessor gefürchtet, fühlte sich nun aber froh und leicht, als sie ihm völlig ruhig gegenübertreten konnte. Ihr Herz schlug auch nicht ein bißchen schneller, und sie vermochte aus voller Seele für sein und Christas Glück zu beten, als das Brautpaar vor dem Altar kniete.

Die jungen Leute reisten ins Salzkammergut, die Stätten aufzusuchen, wo sie sich kennen gelernt hatten. Dann folgte Christa dem Gatten nach Doberan, einer kleinen, nahe an der Ostsee, reizend zwischen prächtigen Waldungen gelegenen Stadt, wo er bis zu seiner Ernennung zum Oberförster voraussichtlich beim Forstamt beschäftigt bleiben würde.

Die kleine Frau, entzückt von der hübschen Wohnung, der anmutigen Lage des Städtchens, der Nähe der See, schrieb begeisterte Briefe an Nell und lud sie dringend ein, sie so schnell wie möglich zu besuchen, um die unglaublichen Herrlichkeiten ihres Heims und ihrer jetzigen Heimat selbst in Augenschein zu nehmen und zu bewundern.

So fuhr denn Nell eines Sonntags hin und kam frohen Herzens wieder. Sie konnte ruhig sein um das Glück der beiden. Sicher würde Christa noch manchen Kampf mit dem eigenen Ich, wie er ja keinem erspart bleibt, auszufechten haben, aber sie hatte streiten gelernt und wußte jetzt, woher ihr immer Kraft und Hilfe kommen würde.

* * *

Es war ein herrlicher Junitag, als Nell mittags in großer Eile nach Hause kam.

»Habt ihr auch schon auf mich gewartet?« fragte sie, als das Mädchen sie sofort zu Tisch rief. »Das sollte mir leid tun, sie waren aber zu herzig, meine Kleinen. Die vier Mädelchen, die hier in der Gegend wohnen und mich stets nach Hause bringen, konnten sich wieder mal nicht von mir trennen. Na, und mir ging's genau ebenso. Ich bin so glücklich in ihrer Liebe und über das Vertrauen, das sie zu mir haben. Alles erzählen sie mir, was ihre kleinen Herzen erfreut und bedrückt. Dadurch gewinne ich Einblick in die verschiedenen Häuslichkeiten und kann auf die Kinderseelen gerade da einzuwirken suchen, wo es bei ihnen zu Hause fehlt. Ich habe sie ja erst seit Ostern, aber sie hängen schon genau so an mir, wie die aus dem vorigen Jahrgang. Nun muß ich noch jedes einzelne kennen lernen. Es ist ja die schönste und dankbarste Aufgabe in meinem Beruf, auch den verschlossenen Seelchen nachzugehen. Morgen ist Sonnabend, da werde ich mir meine ganze kleine Bande zum Kaffee einladen.«

»Die ganze Klasse in die eben rein gemachte Wohnung?« fragte Tante Marie erschrocken. »Nein, mein liebes Kind, dem widersetze ich mich auf das entschiedenste.«

Der Nell stieg das schnelle Blut heiß in die Wangen, schon öffnete sie die Lippen zu einer heftigen Antwort, da sagte Väterchen schnell:

»Tante Marie hat vollkommen recht, Tochter, die Kinder würden sich hier auch nur beengt fühlen, geh lieber mit ihnen ins Werderholz, ich will dir die nötigen Groschen zu je einer Tasse Milch stiften.«

»Und ich will dir gern einen tüchtigen Topfkuchen backen oder auch zwei,« erbot sich Fräulein Taubert, »nur bleibe mir mit ihnen aus der Wohnung.«

Nell saß da, eine tiefe Falte zwischen den Brauen. »Ich kann es ja auch ganz lassen,« entgegnete sie kurz.

»Wie du willst,« erwiderte Tante Marie, »es wäre aber schade. Du würdest dich und die Kinder um eine große Freude bringen.«

Väterchen äußerte sich nicht. Nell las aber aus seinen lächelnden Augen ein Wort, das lautete: »Trotzkopf.« Ja, ja, er hatte tausendmal recht. Und sie mit ihrem raschen Temperament, mit ihren vielen Fehlern vermaß sich, nicht nur eine tüchtige Lehrerin zu sein, nein, sie hatte sogar die Hände nach einer viel ernsteren Arbeit ausstrecken wollen, weit da draußen in der fernen Welt unter einer heißen Sonne!

Hastig sprang sie auf, als Tante Marie die kleine Tafel aufhob, und ging stumm auf ihre Stube.

Ein Lächeln um die Lippen, mit offenem, freien Blick, trat sie, als sie aus der Nachmittagsschule kam, zu Tante Marie und Väterchen, die bereits beim Kaffee saßen.

»Da habt ihr euern Trotzkopf, gezähmt und sanftmütig,« rief sie heiter, »verzeiht, daß er wieder mal in die Erscheinung trat. Der Jubel, als ich meine kleinen Trabanten einlud! Fast erdrückt haben sie mich mit ihren Freudenbezeugungen! Selbst die Scheuesten hatten ein süßes, schüchternes Lächeln. Tante Marie, ich nehme deine Güte in betreff des in Aussicht gestellten Topfkuchens mit Wonne an.«

»Und meine Groschen, Tochter?«

»Desgleichen, Väterchen, und mit vielem Dank. Meine Kinder können sich nicht mehr auf morgen freuen, als ich.«

Das ward ein fröhliches Leben am nächsten Nachmittage dort unter Nells Eichen. Ein Lachen und Kreischen, ein Singen und Jubeln erfüllte den stillen Wald, daß die Vorübergehenden stehen blieben und lächelnd einen Augenblick dem munteren Treiben zusahen. Ja, das war echte Kinderlust, und der Nell Augen glänzten ebenso hell wie die der Kleinen.

Zur Abkühlung sammelte sie dann ihre kleine Schar um sich und begann ihnen von den braunen Waisenkindern im fernen Indien zu erzählen. Mäuschenstill lauschten die Kinder, sie hingen förmlich an den Lippen ihrer jungen Lehrerin. Als Nell in Begeisterung geriet und davon sprach, daß auch von hier aus Lehrerinnen hingingen, die Kinder zu unterrichten und ihnen vom lieben Heiland zu erzählen, schmiegte sich ein Kleines an sie und rief stürmisch: »Aber du sollst nicht hingehen, Fräulein, du mußt bei uns bleiben. Wer soll uns lieb haben, wenn du von uns gehst?«

»Ja – ja – du sollst bei uns bleiben,« rief es nun im Chor, und die Kinder drängten näher heran, sie purzelten übereinander, um recht dicht an ihr geliebtes Fräulein zu kommen.

Nell sagte kein Wort. Stumm sah sie in die hellen und dunklen Augen, die alle bittend, ängstlich, neugierig, erwartungsvoll und flehend auf sie gerichtet waren. Sie fühlte sich von weichen Armen umschlungen, bei den Händen ergriffen, ja, eins streichelte ihr das Gesicht und bat mit süßem Stimmchen: »Nicht, Fräulein, du bleibst bei uns? Sag ja, bitte, bitte.«

Da umfaßte Nell das Kind und küßte das glühende Gesichtchen.

»Ja, ich bleibe bei euch,« rief sie mit befreiendem Atemzuge, »und wenn ihr mögt, dürft ihr mir arbeiten helfen für die armen Waisenkinder. Wollt ihr?«

Ein freudiges: »Ja – ja – ja –« dann sprang die Nell auf, um mit ihrer Schar den Heimweg anzutreten.

»Es war herrlich!« rief sie daheim dem Vater zu, der in seinem Zimmer saß und arbeitete. »Viel schöner noch, als ich erwartet hatte. Was alles kann man den Kindern sein, wenn man ihnen Liebe und Sonnenschein gibt! Wie dankbar sind ihre kleinen Seelen und dabei weich wie Wachs. Eine scheue Kleine flüsterte mir unten vor der Türe noch schnell zu: »Ich habe dich lieb, Fräulein.« O Väterchen, was das mir war! Ich konnte ja aus dem stillen, scheinbar verstockten Kinde nicht klug werden. Nun habe ich den Schlüssel zu dem kleinen Herzen gefunden, er heißt: Liebe.«

»Ja, Tochter, dir ist viele Gewalt über die Kinderseelen gegeben. Du könntest ihnen viel sein.«

»Ich könnte? Nein, ich will es, Väterchen. Du weißt, was seit vorigen Herbst in mir vorgegangen ist, wie ich gekämpft habe zwischen Neigung und Pflicht. Ich glaubte mich berufen, die braunen Kinder ans Herz nehmen zu müssen und konnte mich doch nicht von dir und meinen Kleinen losreißen, nun aber weiß ich, daß auch sie mich nötig haben. Also heißt es, auf dem Posten ausharren, auf den Gott mich gestellt hat. Und meine Kleinen will ich lehren, ihre armen Schwestern da draußen zu lieben, so werde ich auch hier für die Mission arbeiten, wenn auch nur in engen Grenzen.«

Ein wehmütiges Lächeln lag um Väterchens Lippen, als er in der Tochter begeistertes Antlitz schaute, er glaubte noch nicht recht, daß sie bereits endgültig zum Entschluß gekommen war. Nell aber hörte noch im Traum ein ängstliches Kinderstimmchen fragen: »Wer soll uns lieb haben, wenn du von uns gehst?«

* * *

Im Pfarrgarten zu Urlitz wanderte Lore in Gedanken versunken auf und nieder. Sie schaute gar nicht fröhlich drein, die kleine Lore, obgleich es ein herrlicher Sonnentag war und die Rosen um sie her blühten und dufteten in einer Pracht, wie noch nie zuvor. Davon sah sie nichts. Sie hatte Sorgen.

Die großen Ferien nahten, und wenn nicht bald eine Einladung aus Schwerin kam, so blieb ihr nichts übrig, als für die ganze Zeit nach Hause zu gehen. Was das hieß, wußte sie allein. Ob die Nell gar nicht daran dachte? Aber die hatte jetzt andere Dinge im Kopf: ihre Schule, die indischen Waisenmädchen und wer weiß, was sonst noch alles. An die kleine Lore im Urlitzer Pfarrhaus zu denken, hatte sie keine Zeit mehr.

Oder sollte es Absicht sein? Ebenso wie es augenscheinlich auch Absicht war, daß Nells Bruder bei seinen gelegentlichen Besuchen wieder fortging, ohne sie zu sehen? Hätte er sonst nicht nach ihr gefragt? Ob sie es zu deutlich gezeigt hatte, wie teuer er ihr war? Und ob auch Nell und ihr Väterchen sich von ihr zurückziehen wollten, weil er sich nichts aus ihr machte? Wie sollte er auch! Es gab so viele Mädchen, hübscher und begehrenswerter als die scheue, armselige Lore Behm.

Sie hatte das längst begriffen und sich grenzenlos geschämt bei der Vorstellung, daß auch nur ein Mensch das Geheimnis ihres Herzens könne erraten haben. Und so war es gekommen, daß sie, sobald sie nur eine Ahnung von der Anwesenheit des jungen Arztes hatte, in ihr Stübchen flüchtete und erst wieder erschien, wenn sie ihn fort wußte.

Es war lange, lange her, seit die beiden harmlos und unbefangen miteinander verkehrt hatten, denn Pfingsten, als Lore zuletzt in Schwerin gewesen war, hatte Hugo sehr viel zu tun gehabt, und seine Stimmung war bei seinen kurzen Besuchen nie besonders gewesen. Er hatte es auch, genau wie Ostern, Werner überlassen, die jungen Mädchen zu unterhalten und auf ihren Ausflügen zu begleiten. Nein, er machte sich nichts aus ihr, nicht das geringste, das war sonnenklar. Helle Tränen perlten ihr über die, unter ihrem Kummer wieder schmal gewordenen Wangen. Energisch aber trocknete sie das nasse Gesicht. Nein, sie wollte nicht weinen, auch nicht länger grübeln, sondern sich beschäftigen, um den Gedanken zu entfliehen. Gretchen saß bei ihren Aufgaben und brauchte sie nicht, so wollte sie zur Pastorin gehen und ihre Hilfe anbieten. Die ward gern angenommen, und bald darauf begab Lore sich in den großen Gemüsegarten, eine Wirtschaftsschürze über ihr helles Kleid gebunden, am Arm einen Korb. Sie wollte Stangenbohnen pflücken, die nicht weit von der Schlehdornhecke standen. Einen schnellen Blick ließ sie noch über die Hecke schweifen, ehe sie in das grüne Gerank schlüpfte. Nur ein paar spielende Kinder, einige Enten, die nach dem kleinen, grün bewachsenen Teich unter lautem Geschnatter hinunterwatschelten, sonst nichts zu sehen auf der breiten Dorfstraße. Tiefe, feierliche Stille unter dem Sonnenglast.

Lore pflückte emsig, nach erhaltener Weisung aber nur die jungen, zarten Bohnen, ganz bei der Sache war sie indessen doch nicht, denn nicht das leiseste Geräusch auf der Dorfstraße entging ihr. Eine helle Röte flutete plötzlich über ihr Antlitz. Ein Rad sauste die Straße herunter – und ein Radler – das konnte er sein, an den sie unausgesetzt denken mußte, dessen Bild im Wachen und Träumen vor ihr stand.

Vorsichtig steckte sie das Näschen zwischen der Blätterwirrnis hindurch und spähte mit sehnsüchtigen Augen auf den weißen Weg. Jetzt – jetzt bog er um die Ecke. Ihr Herz tat ein paar schnelle Schläge, die Röte ihrer Wangen vertiefte sich, hastig fuhr das vorwitzige Näschen zurück. Er war's – er war's …

Eine Freude sondergleichen erfüllte sie, um gleich darauf tiefer Niedergeschlagenheit zu weichen. Wenn er wirklich im Pfarrhaus vorsprach, was hatte sie davon? Er würde weiterfahren, ohne nach ihr gefragt zu haben. Und das war gut so. Sie wollte auch nicht nach Schwerin, sondern sich noch heute abend bei den Eltern anmelden. Dann war die Sache entschieden, und die ewige Aufregung hörte auf.

Ein tiefer Seufzer folgte diesem Entschluß.

Da ertönte im Garten ein schneller Schritt. Lore erschrak heftig und verkroch sich schnell dorthin, wo die Bohnen am dichtesten standen. In heißer Angst verharrte sie regungslos. Er kam näher und näher, so sicher, als ob der jemand genau wisse, was er wolle.

Die kleine, schmächtige Lore schmiegte sich förmlich in sich zusammen, um nur ja nicht gesehen zu werden. Sie hatte jedoch ihr helles Kleid vergessen, das durch die Ranken hindurchschimmerte und die Bohnenreihe verriet, in der sie beschäftigt war.

Der Atem setzte ihr aus, als plötzlich zwei Hände die grüne Wildnis rücksichtslos auseinander rissen, und Hugo Wartenberg zu ihr eindrang. Hilflos lehnte sie sich gegen die nächste Stange und sah ihm mit großen, bangen Augen entgegen.

»Sie – Sie reißen ja die Ranken ganz auseinander,« stammelte sie verwirrt.

»Lore – warum verstecken Sie sich vor mir?« fragte er ungestüm.

»Ich soll hier Bohnen pflücken –«

»Weiß ich, Frau Pastor hat mir's verraten. Sie wollten sich aber nicht finden lassen. Sie weichen mir aus, wo und wann Sie können. Das geht nun schon lange so, und ich will endlich den Grund wissen, denn früher waren wir doch gut Freund. Bin ich Ihnen bei näherer Bekanntschaft so unsympathisch geworden? Oder spielt da noch etwas anderes mit?«

Lore war jäh erblaßt, stumm schüttelte sie den Kopf und hob scheu die dunklen Augen zu ihm auf, um sie sofort wieder zu senken.

Der kurze Augenblick aber hatte genügt, ihm ihr Herz zu enthüllen. Jubelnd zog er sie in die Arme.

»Lore – kleine Lore – ich habe dich ja so lieb – so lieb – – –«

Der Wind fuhr in das blühende Geranke, und die jungen Bohnen schlugen leise gegeneinander, als ob sie kicherten, die Stockrosen aber, die längs der Hecke standen und wußten, wie es in der Welt herging, gaben ihrer Entrüstung Ausdruck und erklärten es gegen alles Herkommen, zwischen Stangenbohnen ein Gelöbnis für das ganze Leben zu schließen, »aber freilich,« murrte die am höchsten aufgeschossene, »das junge Volk von heute weiß nichts mehr von Duft und Poesie. Dem ist so elendes Gemüse, das in den Kochtopf wandert, gerade recht, wo wir doch da sind in all unserer Pracht.«

So schalten die rosa Blüten, aber die Stangenbohnen streckten sich stolz, und das grüne Gerank drängte sich dichter zusammen, den neidischen Stockrosen den Anblick der beiden glückseligen Menschenkinder zu entziehen.

* * *

Am Sonntag Mittag ruderte Pastor Felseck Lore über den Pinnower See, wo der junge Arzt sie in Empfang nahm, um sie den Seinen zu bringen. Väterchen und Tante Marie wußten um die Verlobung, Nell aber sollte überrascht werden. Sie war völlig ahnungslos, hatte sich nur gewundert, als Tante Marie schon am Sonnabend Vorbereitungen zum sonntäglichen Mittagessen traf, aber keine Bemerkung darüber gemacht, denn um Wirtschaftsangelegenheiten kümmerte sie sich schon lange nicht mehr.

Sie machte nach der Kirche noch schnell einen Besuch bei einer erkrankten Schülerin und ging sehr frohen Herzens heim: Die Kleine war in Besserung, und deren Mutter hatte ihr gesagt, wie groß der Einfluß sei, den sie auf das trotzige Kind habe, wie viel leichter sie jetzt mit dem Mädchen zu Hause fertig würde und wie viel netter und geduldiger sie mit den jüngeren Geschwistern sei, denn als Älteste müsse sie ihr schon ein bißchen zur Hand gehen.

Wie schwer dies für das junge Kind war, wußte Nell, und sie hatte jede Gelegenheit benützt, ihren Schülerinnen, die sämtlich in kleineren Verhältnissen lebten, die häuslichen Pflichten, die sie alle mehr oder weniger zu erfüllen hatten, ans Herz zu legen und sie immer aufs neue zur Liebe und Geduld ermahnt.

Ja, Liebe und Geduld – sie seufzte leise, als sie durch die Straßen schritt. An Liebe gebrach es ihr nicht, jedes einzelne ihrer Kleinen hätte sie besonders ans Herz nehmen mögen, aber Geduld – diese köstliche Tugend fehlte ihr noch sehr! Wie oft stieg ihr das schnelle Blut heiß ins Gesicht, wenn ihr Verständnislosigkeit und Trotz entgegen traten, sobald jedoch die Kinderaugen so vertrauensvoll zu ihr aufsahen, zwang sie ihre Ungeduld und Heftigkeit nieder und zeigte den Kleinen eine freundliche, gleichmäßige Ruhe. Was sie das kostete und wie sie darum ringen mußte, wußte sie allein. Aber sie kam vorwärts, und das machte die Nell demütig und glücklich. Sie war auf dem Wege, sprechen zu lernen: »Was ich bin und habe, Herr, das bin ich nur durch deine Gnade.« Immer tiefer wuchs sie in ihren Beruf hinein, mit keinem Menschen hätte sie tauschen mögen.

Angeregt erzählte sie Väterchen von ihrem Besuch. »Ich muß die Kinder noch öfter um mich sammeln,« sagte sie, »vielleicht gestattet es Tante, wenn ich sie nicht alle auf einmal, sondern in Abteilungen einlade, ich möchte es so sehr gern.«

»Ich werde dir Filzpantoffeln für die kleine Gesellschaft stiften, Tochter, am Ende hat Tante dann nichts dagegen.«

Nell lachte, und während dieses frohen Lachens öffnete sich die Tür, und Hugo führte seine kleine Braut herein.

Nell machte große Augen. »Lore –« da stand das Paar schon vor dem Vater, und Hugo sagte: »Hier bring ich dir meine Lore, Vater –« und Väterchen nahm das bewegte junge Geschöpf als sein liebes Kind an sein liebewarmes Herz.

Jetzt hatte Nell die erste Überraschung überwunden, ungestüm zog sie Lore in die Arme.

»Nun bist du meine Schwester, Vögelchen, hast du daran schon gedacht?« fragte sie.

Lore drückte ihr nur die Hand, das Glück war so groß, daß es sie vorläufig noch stumm machte, desto lebhafter war die Nell.

»Du bist doch ein einzig guter Bruder, Großer,« sagte sie neckend, »verlobst dich gar, um nur ja meine Wünsche zu respektieren.«

»Nicht wahr, Schwesterlein? Ich bilde mir auch nicht wenig darauf ein, so liebenswürdig und entgegenkommend zu sein. Meine Kleine weiß übrigens alles,« fügte er hinzu und beugte sich vor, Lore lächelnd in die glänzenden Augen zu sehen, »sie ist auch gewillt, all das zu werden, was ich von meiner zukünftigen Frau erwarte. Nur beeilen muß sie sich, denn zum Herbst führe ich sie heim.«

Helle Röte flog Lore über das zarte Antlitz, ein Schelmenlächeln umspielte ihre roten Lippen. »Ob ich so gelehrig bin, in der kurzen Zeit eine völlig andere zu werden? Denke nur Nell, wie traurig: ich entspreche doch eigentlich nicht im geringsten dem Ideal, das er sich von seiner Zukünftigen gemacht hatte, daß er mich dennoch –«

»Ja – dennoch –« unterbrach Hugo sie und schloß sie so fest in die Arme, als fürchte er, seine kleine Braut könne ihm genommen werden.

Ja, sie waren sehr glücklich, und als die Mädchen allein waren, vertraute Lore der Nell an, sie könne es nicht fassen, wie ihr, gerade ihr ein so großes, unermessenes Glück beschieden sei.

»Und du, Nell?« fragte sie und sah der Freundin forschend in die Augen, »wo wirst du dein Lebensglück finden?«

»In meinem Beruf,« lautete die frohe Antwort.

»Und Indien?« forschte Lore ängstlich.

»Der Heimatboden hält mich, Lore. Ich kann nicht fort von Väterchen, von euch, von meinen Kleinen. Ich fühle, daß ich euch allen etwas sein kann, und wo der Mensch seine Pflichten hat, da soll er bleiben.«

»O Nell, nun erst kann ich glücklich sein,« rief Lore in hellem Jubel.

Beide begannen Zukunftspläne zu schmieden, und später ging Nell mit dem jungen Paare auf die Wohnungssuche, die sie endlich in einem der schönsten Teile der Stadt fanden. Zwar lag sie zwei Treppen hoch, bot dafür aber eine herrliche Aussicht. Es war ein Eckhaus, und Lore dünkte ihr künftiges kleines Reich mit dem Blick auf den Pfaffenteich und den ganz nahen Ziegelsee das wahre Paradies. Von dem lauschigen Erker des Mittelzimmers, das das ihre werden sollte, vermochte sie sich kaum zu trennen.

Und dann das Einkaufen der Aussteuer! Der Vater hatte ihr eine ansehnliche Summe zur Verfügung gestellt! Dies Glück! Jedes einzelne Stück schloß die junge Braut ins Herz. Alle freuten sich mit ihr, ja, Väterchen gewann seine ganze Heiterkeit zurück und ward noch einmal wieder jung mit seinen Kindern, zumal er sah, daß sein Liebling, die Nell, wieder aus frohen, hellen Augen blickte. Sie hatte sich zwar nicht gegen ihn ausgesprochen, er hoffte aber, daß nun alle Kämpfe hinter ihr lagen.

Ein Jahr später stand Siegfried Felseck abschiednehmend, kurz vor seiner Reise nach dem fernen Indien, vor der Nell.

»Ich hatte gehofft,« sagte er bewegt, »daß Sie mit mir gehen, oder mir wenigstens über kurz oder lang folgen würden. Muß ich jede Hoffnung aufgeben?«

»Es wird mir schwer, aber ich kann nicht anders, Herr Pastor. Meine Gedanken werden viel mit Ihnen sein, und Sie können überzeugt sein, daß hier in der Heimat warme Herzen für die Mission schlagen und fleißige Hände sich für sie regen werden.«

»Dafür sind wir auch sehr dankbar. Und ich darf Ihnen öfter schreiben, Fräulein Wartenberg? Sie an meiner Arbeit teilnehmen lassen?«

»Wenn Sie das wollten! Es würde mich sehr glücklich machen.«

Er schien sich nicht trennen zu können, hielt ihre Hand noch immer in der seinen.

»Ich habe mich vorläufig auf vier bis fünf Jahre verpflichtet, darf ich bei meiner Rückkehr wieder zu Ihnen kommen?« fragte er.

»Ja – ja – ich würde mich sehr freuen,« rief sie lebhaft.

Da beugte er sich schnell nieder und küßte ihre Hand. »Leben Sie wohl, Fräulein Wartenberg, Gott behüte Sie.«

»Gott gehe mit Ihnen. Er segne Ihr Wirken,« entgegnete sie bewegt.

Lange noch stand sie und sah ihm nach, auch dann noch, als seine hohe Gestalt längst verschwunden war.

Da trat Väterchen zu ihr. Schnell zerdrückte sie eine Träne und streckte ihm beide Hände hin.

»Es ist entschieden, Väterchen. Ich bleibe bei dir.«

»Tochter – darf ich das Opfer annehmen?«

»Es ist keines mehr, Väterchen. Ich würde da draußen keine Ruhe um dich haben, das weiß ich bestimmt. Und dann – er hatte noch anderes gehofft und das – ich konnte nicht, Väterchen, noch nicht.«

Bewegt zog Väterchen sein großes Mädchen in die Arme. »So bleibst du bei mir, kleiner Kamerad, bis du dereinst freudigen Herzens Ja sagen kannst. Die Jahre aber, die uns Gott noch gemeinsam schenkt, wollen wir einander zur Freude und zum Segen leben, Tochter.«

»Väterchen!«

In inniger Liebe sahen sich beide an.

»Ich gehöre dir mehr denn je, du guter, lieber Vater. Hilf du mir weiter zum inneren Wachsen und Reifen, damit ich ein tüchtiger, harmonischer Mensch werde. O, das Leben in engen Grenzen ist auch reich, wenn man es nur richtig erfaßt.«

»Und im Sonnenschein lebt, Tochter, in dem Sonnenschein echter, warmer Menschenliebe, der Segen und Frieden in sich schließt und wahres Glück bringt.«

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