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In der nächsten Zeit war andauernd gutes Wetter. Golden ging jeden Morgen die Sonne auf und überflutete allabendlich die Berge mit glutrotem Schein. Täglich unternahmen die drei Herren mit den Damen kleinere oder größere Partien, und allen gefiel es so gut in Gmunden, daß niemand an eine Weiterreise dachte. Christa hatte von der gütigen Großmama ein reizendes rosa Kleid aus leichter Seide bekommen und Nell bestürmt, den Korso mitzufahren. Anfangs hatte sie abgelehnt, aber Christa hatte nicht nachgelassen und sich schließlich an den Postdirektor gewandt.
»Die Kleine hat ja recht, Nell,« redete er der Tochter zu, »allein kann sie nicht in ihrem Kahn sitzen, und wen soll sie mitnehmen als dich, da ihr Vater streikt? Gibt es nicht irgend einen billigen Stoff zum Kleide? Oder muß es durchaus Seide sein?«
»Nein, gewiß nicht, aber immerhin Stoff und Schneiderlohn – noch dazu hier –« sie hielt inne – »Väterchen – ich habe mir ja mit Mutters Hilfe schon öfter mal eine Waschbluse gemacht. Ob ich's versuche?«
»Warum nicht, Mädelchen? Bist ja so geschickt mit der Nadel.«
»Ich geh gleich mal, die Sache mit Christa besprechen.«
Im Laufschritt kam sie in Bellevue an, und Christa schrie auf vor Entzücken, als sie Nells Idee hörte.
»Aber kannst du es denn selbst fertig bringen, ist das nicht schrecklich schwer?« fragte sie zweifelnd.
»O, das ist nicht so schlimm, wenn man ein bißchen Geschick dazu hat. Komm mit, Christel, einkaufen gehen.«
»Ei ja, das macht Spaß. Ich weiß einen feinen Laden, in dem man ausgezeichnet bedient wird.«
»Und ordentlich Geld los wird,« vollendete Nell lachend. »Nein, wir gehen in ein Nebengäßchen und suchen uns ein kleines, bescheidenes Geschäft, da kauft man billiger.«
Sie schritten die Hauptstraße entlang und bogen dann in eine schmale Gasse.
»Richtig, da ist's,« rief Nell, »ich habe das Lädchen entdeckt, als ich neulich mit Väterchen, um den Weg abzuschneiden, hier durchging.«
»Wie furchtbar komisch. Was willst du dir hier in aller Welt einhandeln?« flüsterte Christa, als sie durch die niedrige Tür eintraten.
Nell forderte frischweg leichten rosa Tarlatan. Auf Christas erschrockenes »Aber –« beugte sie sich zu ihr hin. »Werde ich dir in Tarlatan nicht fein genug, so sag's schnell, dann spare ich die Ausgabe.«
»Nein, nein, ich meinte nur,« stotterte Christa verwirrt. Daß die Nell auch gar so energisch war, immer nur: entweder – oder, wirklich riesig unbequem.
Bei der Wahl ging der Mädchen Geschmack sehr auseinander. Nell wollte einen starkfädigen, Christa einen extra feinen Stoff. »Der wird ja wie eine Tonne um dich herumstehen,« gab die eine zu bedenken, »und der feine wie eine Trauerfahne an mir herabhängen,« erklärte die andere. Endlich einigten sie sich für ein mittelfeines Gewebe.
»Ich werde unsere Wirtin bitten, mir ihre Nähmaschine zu leihen,« sagte Nell auf dem Rückwege, »auf deine Hilfe darf ich doch rechnen, Christa?«
»Ich verstehe gar nichts davon,« erklärte Christa schnell und fühlte sich ordentlich erleichtert, als sie von der Wirtin erfuhren, daß sie keine Maschine besäße.
»Was fange ich dann aber an?« rief die Nell erschrocken.
»Gehen's halt zum Näh-Vronerl, im Kirchgäßle drunt, die macht's Ihna,« riet die rundliche Wirtin.
»Zu so einer kannst du doch nicht gehen!« rief Christa, sobald sie draußen standen.
»Was bleibt mir übrig? Gute Schneiderinnen nehmen sicher nichts mehr an, und was sollte das auch kosten! Hätte ich mich doch erst nach der Maschine erkundigt. Aber nun ist der Stoff gekauft, also: auf zum Näh-Vronerl.«
In einem schmalen Hause fanden sie zwei Treppen hoch in einem kleinen Stübchen ein ältliches Mädchen, mit so freundlichen Augen und so bescheidenem Wesen, daß beide angenehm überrascht waren. Sie erklärte sich bereit, das Kleid am bestimmten Tage abzuliefern und forderte einen annehmbaren Preis. Sehr befriedigt verließen die Mädchen sie.
»Hast du bemerkt, daß sie nicht ordentlich gehen kann?« fragte Nell.
»Nein, aber sie hat mir gut gefallen.«
Frau Reisch, die Wirtin zum Goldenen Hirschen, erzählte ihnen auf ihre Frage, daß die Näherin schon seit Jahren kranke Füße habe und nur selten zur Straße käme. »Das arme Hascherl,« sagte die Frau mitleidig, »ich tu an ihr, was ich kann, aber die schöne Gotteswelt kann ich ihr halt nit ins Stüberl tragen, und auf die Sonn' und die Berg' und die Blümerl ist sie grad' arg schlimm. Sonne hat's ja, und ein klein's Bröckerl vom Kalvarienberg schaut's vom Fenster aus, aber Blümerl, die da so schön wachsen, die hat's nit.«
Die Nell ging, nachdem sich Christa von ihr verabschiedet hatte, auf ihr Zimmer und sogleich an den Tisch, auf dem ein Glas mit Enzianen stand. Nachdenklich betrachtete sie die tiefblauen Blüten, die Erich Baumgarten ihr vom Traunstein mitgebracht hatte. Einige wenige ließ sie im Glase, die wollte sie pressen, die andern nahm sie und eilte zum Näh-Vronerl zurück. Das Mädchen wollte sich schleunigst erheben, die Nell stand aber schon vor ihr.
»Sitzen geblieben, Vronerl,« bat sie und legte ihr die blauen Glocken in den Schoß. »Die sind vom Traunstein. Ich habe sie schon vor zwei Tagen bekommen, aber sie haben sich großartig gehalten.«
Leise, mit glücklichem Lächeln, strich das alte Mädchen über die Blüten. »Himmelsblumen sind's,« sagte sie, »weil's von da droben kommen, wo's dem lieben Gott so viel näher sind. Und die sollen mein sein, Fräulein?«
»Freilich, Vronerl. Erst habe ich die Freude gehabt, nun sollen sie bei Ihnen weiter blühen.«
»Vergelt's Gott tausendmal! Ich hab's gleich gesehen, daß Sie ein herzig's Menschenkind sind.«
Fröhlich sprang Nell die erste schmale Treppe hinab, vor der zweiten machte sie indessen halt, weil leichte Schritte heraufkamen. Ein Tirolerhut mit Adlerfeder tauchte auf, helles Haar – ein zartrosiges Antlitz – »Christa –«
»Nell – was wolltest du hier?«
»Dasselbe was du willst. O Christelchen – du bringst ihr auch deine Enzianen?«
»Das hast du auch getan! Natürlich! Mir muß ja jede Freude verdorben werden. Dann kann ich ja wieder umkehren.«
»Christa! Liebes, kleines Dummerchen! Als ob ein Mensch zu viel Freude haben könnte. Komm!« Energisch schob sie Christa die Stufen zur zweiten Treppe hinan und öffnete ohne Umstände des Vronerl Tür, dann lief sie hinunter auf die Straße. Hier schritt sie auf und nieder, die Freundin zu erwarten.
Nach kurzer Zeit erschien Christa, glückstrahlend. »Nell – es war einzig schön. Sie hat sich furchtbar gefreut. Aber zu ulkig, daß wir beide auf denselben Gedanken verfallen sind.«
»Christelchen, das Vronerl kann sich nicht mehr freuen als ich.«
»Über dich, Schatzkind. Nun weiß ich bestimmt, daß du ein Herz für andere hast.«
»Das hast du nicht mal geglaubt? Höre mal, Nell, ich würde es übelnehmen, wenn ich nicht gerade so riesig vergnügt wäre. Meinst du, daß du allein edel, hilfreich und gut sein willst, du große, selbstherrliche Nell?«
»O – bin ich das? Selbstherrlich – wie häßlich! Das will ich durchaus nicht sein, und dir bitte ich tausendmal alles, alles ab, was ich im stillen gegen dich hatte, du liebes, kleines Christelchen!«
»Nell – ich will dir's nur gestehen – es ist mir sehr, sehr schwer geworden, mich von den Blumen zu trennen. Aber nun bin ich so froh, Vronerls Freude war zu schön. Und nun will ich immer edel und hilfreich und gut sein. O – da kommt er!« Sie errötete heiß, Erich Baumgarten bog um die nächste Ecke und kam schnell auf sie zu. »Nell, mir ist, als könnte er uns ansehen, daß wir seine süßen Blumen verschenkt haben.«
»Das soll er sofort erfahren,« entgegnete die Nell und erzählte dem Assessor, der die Mädchen freudig begrüßte, wohin seine Enzianen gewandert seien.
»Nehmen Sie es auch übel, Herr Assessor?« fragte Christa ängstlich.
»Im Gegenteil, Fräulein Christa, ich freue mich herzlich. Einen besseren Zweck als den, ein armes krankes Menschenkind zu beglücken, konnten sie nicht erfüllen.« Er sah mit so strahlendem Lächeln in Christas Blauaugen, daß die sich verwirrt senkten. Dann verabschiedete er sich und ging weiter.
Christa drückte der Nell die Hand. »Ich bin unbeschreiblich glücklich, Nell, du auch?«
»Ja, Christelchen.«
Sie sprachen nicht mehr, und die Nell kehrte, nachdem sie sich getrennt hatten, sehr nachdenklich in den Goldenen Hirschen zurück.
* * *
Wenige Tage später traf der Landgerichtsrat gute Freunde aus der Heimat, die ihn und Christa zu einer Fahrt nach Traunkirchen einluden. Erich Baumgarten hatte mit anderen Herren eine Hochtour verabredet, so waren Väterchen und Nell auf sich angewiesen.
»Da machen wir eine Tagestour, Väterchen, und laufen uns einmal ordentlich aus,« schlug die Nell vor.
»Sehr einverstanden, Tochter.«
Franzl im Holz, ein anmutig, tief im Walde gelegenes Bauernhaus, wo Erfrischungen zu haben waren, hatten sie als erstes Ziel ins Auge gefaßt. Nach stundenlangem Marsch ward es erreicht.
»Was meinst du zu einem warmen Frühstück, Nell?«
»Väterchen – so üppig? Wir haben ja Proviant bei uns.«
»Stimmt, aber der Tag ist lang und hier die einzige Gelegenheit. Ich bin für Rührei und Schinken.«
»Und ich dabei, Väterchen, verspüre schon wieder einen Riesenhunger.«
So ward bestellt und beide setzten sich im Waldesschatten an einen der weißgescheuerten Tische, schauten in die sonnendurchleuchteten Wipfel und lauschten dem Singen der Vögel. Da gewahrte Väterchen einen sinnenden, ihm fremden Zug in dem lieben Gesicht der Nell.
»Worüber grübelst du, Tochter?« erkundigte er sich.
Zu seiner Überraschung stieg ihr helle Röte bis unter das krause Stirnhaar. »Ich dachte an Christa und – an die andern,« erwiderte sie zögernd.
»So. Ja, Kind, für dich wäre es vergnüglicher, in Gesellschaft zu wandern, als mit dem alten Vater allein.«
»Väterchen!« Ein warmer Blick, ein kräftiger Händedruck, aber die scherzende Entgegnung, auf die Väterchen wartete, blieb aus. Sinnend schauten die braunen Augen dem wechselnden Spiel der Sonnenstrahlen zu, wie sie über die roten Tannenstämme huschten und über die glitzernden Tautropfen auf dem hellen Moosteppich goldene Lichter warfen. Was das Mädel nur hatte? Sollte die kleine Christa sie so ausschließlich in Anspruch nehmen?
Da gewahrte die Nell des Vaters sorgenden Blick, strich sich über die Stirn, als wolle sie unliebsamen Gedanken wehren und begann munter zu plaudern. In der Tiefe ihrer Seele aber bewegte sie die Frage: was nur hatte Christa so zu ihrem Vorteil verändert? Da gab es weder schlechte Laune, noch Klagen über Müdigkeit, noch Schmollen über weite, unbequeme Wege – Christelchen war immer heiter, immer bereit zu Touren – am liebsten freilich zu Schiff oder zu Wagen. Dabei lag ein eigener Liebreiz über ihrem Wesen, und das datierte seit jener Stunde, da sie dem Vronerl die Blumen gebracht hatten. Erfüllte schon der bloße Vorsatz, fortan mehr an andere zu denken als an die eigene kleine Person, Christa mit solchem Glücksempfinden, wie es aus ihrem ganzen Wesen sprach? oder hatte es einen andern, einen tiefern Grund? Vielleicht, weil der Forstassessor sich ihr jetzt mehr – –
»Tochter – unser Frühstück kommt,« unterbrach Väterchen ihre Gedanken.
Ärgerlich über sich selbst, sprang die Nell auf. Wie wenig hatte sie sich doch in der Gewalt, daß sie Väterchen gar den Tag verdarb. So, jetzt ward kein Gedanke mehr, weder an Christa noch an den Forstassessor verschwendet, kein einziger. Fort damit und den goldenen Tag genossen.
Unter heiterem Plaudern nahmen beide das einfache Mahl ein und marschierten dann weiter. Zwei Stunden ging es über blumige Wiesen, durch lauschigen Wald langsam bergan. Kein Mensch begegnete ihnen. Hier und da schlüpfte ein Häschen aus dem Unterholz und verschwand schleunigst, ein Häher klopfte mit großer Beharrlichkeit gegen den Stamm einer hohen Tanne, sonst störte nichts den tiefen Frieden. Die Mittagshitze lag schwer über dem Walde. Unwillkürlich verlangsamten die Wanderer ihre Schritte.
»Wir müßten den See doch bald haben,« bemerkte die Nell ungeduldig und schrie im nächsten Augenblick laut auf vor Entzücken, als sie auf eine weit gestreckte Wiese traten.
»Da ist er – da drüben rechts – o Väterchen, sieh nur die Farbe! So blau ist nicht mal die Traun.«
»Nein, dies ist wirklich wunderbar. Du, Nell, ich glaube gar nicht, daß es Wasser ist.«
»Aber natürlich, was denn sonst? Und dahinter der gewaltige Traunstein –«
Eilig schritt sie voran und bemerkte nicht, daß Väterchen sein Glas, durch das er geschaut, mit leisem Lachen in die Tasche schob.
Da blieb die Nell stehen, schaute – schaute – und setzte sich in Trab. Hellauf jubelte sie, dann sank sie nieder und strich liebkosend über die ihr zunächst stehenden Enzianen, die in der Mittagsglut zu tausenden ihre leuchtenden, tiefblauen Kelche geöffnet hatten.
»Väterchen – kann man sich so etwas Schönes auch nur träumen lassen? Schau dir nur meinen Enzianensee an, ist er nicht wonnig? Meinen ganzen Rucksack pack ich mir voll von diesen himmlischen Blüten.«
»Ja, dies ist wirklich ein reizendes Fleckchen, aber Nell, die armen Dinger sind ja welk, wenn wir nach Hause kommen.«
»O, im Wasser werden sie wieder frisch,« erwiderte sie zuversichtlich, riß Mantel und Rucksack ab, schichtete ihn sorgfältig voll Blüten, schulterte ihn wieder und warf den Mantel darüber. »Hätte ich den doch zu Hause gelassen, ich sagte ja gleich, daß das unnütze Schlepperei wäre,« bemerkte sie.
»Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, Tochter.«
»Ach, heute bleibt's doch gut.«
»Wollen's hoffen. Vorläufig wünschte ich, wir kämen erst wieder in Schatten, die Sonne meint's gar zu gut.«
»Ei was – müde – so was gibt's nicht, da haben wir ihn aber wirklich – da –«
Unmittelbar unter der schroffen Wand des Traunsteins lag inmitten einer blumigen Wiese der tiefdunkle Laudachsee, in dem sich der blaue Himmel und das hochragende graue Gestein wunderbar scharf spiegelten. Dicht am Ufer stand ein kleines Jagdhaus, dessen geschlossene Fensterläden das Unbewohntsein verkündeten.
»Es ist ein Idyll,« rief Nell begeistert aus, »ein großartiges Motiv für einen Maler: See – Felsen und das kleine Häuschen in dieser tiefen Ruhe und Einsamkeit. Wie gut, daß wir hier allein sind.«
Sie setzten sich auf die Bank in den Schatten des vorspringenden Daches und genossen still die Erhabenheit der Bergwelt. Endlich brach Väterchen das Schweigen.
»Thusnelda, komm für kurze Augenblicke zu dir, meine Tochter, mein natürlicher Mensch verlangt stark nach leiblicher Stärkung.«
»Väterchen – laß ich dich hungern und dursten? Verzeih.«
Hurtig packte sie ihre Vorräte aus und ordnete sie zierlich auf einer Serviette. Brot, Schinken, Eier und Wein schmeckten köstlich nach dem Marsch, dann suchte sich Väterchen ein stilles Plätzchen unter einem Baum, um Mittagsruhe zu halten. Nun konnte die Nell ungestört bewundern, denken und träumen.
Nach einer Stunde brachen sie wieder auf. Ihr nächstes Ziel galt dem Hochgeschirr, 994 Meter über dem Meere.
»Ich möchte lieber über die Kleine Ramsau zurückgehen, Nell, da sind wir in knapp zwei Stunden unten, und über das Hochgeschirr brauchen wir mindestens vier.«
»Ist aber bei weitem schöner. Jetzt ist die Uhr zwei, schreiten wir tüchtig aus, können wir mit allem Aufenthalt hier und da bequem um sieben zu Hause sein. Das ist früh genug,« erklärte die Nell und schritt sehr energisch voran.
Durch Wälder und Wiesen, über kahle Wegstrecken ging es hinauf zur Höhe. Hier bot sich ihnen ein überraschend schöner Ausblick über den südlichen Teil des Traunsees mit dem Tal von Ebensee, nach rechts über das liebliche Traunkirchen, ihm gegenüber über den Traunstein mit seinen wild zerklüfteten Wänden, im Westen über die Salzburger Berge und im Hintergrunde auf den Dachstein mit dem mächtigen Karls-Eisfelde.
Lange weilten Vater und Tochter hier oben, namentlich war es die Nell, die sich gar nicht zum Abstieg entschließen konnte.
»Jetzt also zunächst die Schneewiese, eil dich, Tochter,« trieb der Vater, »wir haben noch Stunden vor uns und dunkel darf es uns nicht werden. Wir sind im August, die Tage nehmen schon recht ab. Siehst du das Wegezeichen, Nell?«
»Dort drüben am Baum schimmert es blau.«
»Ich halte es für grau.«
»Ursprünglich ist es aber blau gewesen, ich habe diese verblichene Farbe schon verschiedentlich auf unserem Wege gesehen.«
Die Nell hatte mit großer Bestimmtheit gesprochen und da, trotz aller Umschau, kein anderes Zeichen zu entdecken war, entschloß der Postdirektor sich, der Tochter zu folgen.
»Ein richtiger Weg scheint dies ja zu sein, nur, meine ich, führt er reichlich nach rechts hinüber.«
»Im Gebirge geht's ja immer rundum, Väterchen.«
»Freilich. Zeit haben wir ja auch. In einer halben Stunde müssen wir die Schneewiese haben, in einer weiteren die Himmelreichwiese, und von da bis Sieberrith ist's ungefähr noch ebenso weit. Aber dort wird Station gemacht, Nell.«
»Bin sehr einverstanden, Väterchen. Übrigens habe ich noch etwas Wein und Butterbrot, wenn du magst.«
»Wollen bis zum nächsten Ziele warten, Tochter.«
In lebhafter Unterhaltung schritten sie nebeneinander her, und der Postdirektor hatte seine helle Freude an den frohen Augen der Nell. Ganz anders schauten sie aus als am Morgen. Wie gut dem Kinde doch das Wandern tat!
»Nell –« sie traten auf eine Wiese, »siehst du den Weg?«
»Nein, aber wahrscheinlich ist dies die Himmelreichwiese, eine halbe Stunde sind wir gerade gelaufen.«
»Das wollen wir gleich feststellen.« Der Postdirektor zog den Führer aus der Tasche. »Also – man soll den nördlichen Teil des Traunsees, Gmunden, Schloß Ort, die Ebene mit der Traun sehen. Siehst du das alles, Nell?«
»Keine Spur! Aber laß uns diese Wiese umschreiten, vielleicht sieht man's von drüben.« Die Nell lachte, sie fand es sehr spaßhaft, die vorgeschriebene Aussicht zu suchen.
Aber so viel sie auch schauten, nichts als Bäume und wieder Bäume.
»Also ist dies nicht die richtige Wiese, und wir müssen weiter,« entschied sie.
»Nichts da, wir kehren schleunigst zum Laudachsee zurück und von dort über die kleine Ramsau nach Hause.«
»Väterchen! So weit wie wir jetzt schon sind! Es wird ja Abend, ehe wir Gmunden erreichen.«
»Besser, als hier in der Irre umherlaufen. Ich sagte ja gleich, daß es nicht das richtige Zeichen sei.«
»Väterchen – du bist ja farbenblind.«
»Weiß ich, es ist mir aber trotzdem nicht entgangen, daß die Farbenzeichen auf dem unteren Wege ganz anders aussahen, das mußt du doch auch gesehen haben.«
»Ja, das Blau war heller, leuchtender, aber blau ist doch schließlich blau, wenn es auch ein schmutzigeres Blaugrau ist,« gestand die Nell zögernd.
»Da haben wir's! Also umkehren und das richtige Zeichen suchen. Dort aus der Schneise sind wir gekommen.«
»Nein, aus jener Richtung, das weiß ich ganz bestimmt, die Wegezeichen werden es ja auch bestätigen.«
Schweigend schritten sie über den weichen Waldboden, so viel sie aber auch nach dem bewußten Blaugrau ausschauten, es zeigte sich an keinem der Bäume ein einziges Zeichen.
Bedrückt folgte die Nell dem Vater, als er ohne ein Wort umkehrte. Nun ward die nächste Schneise ein Stück zurückgegangen, doch gleichfalls ohne Resultat. Den schmalen Pfad, auf dem sie gekommen waren, mußten sie übersehen haben.
Endlich blieb der Postdirektor stehen, nahm den Hut ab und fuhr sich über die heiße Stirn.
»Heillos verirrt, Nell,« sagte er, »nun aber weder Klagen noch Vorwürfe, denn das Geschehene ist nicht zu ändern.«
»Väterchen – du bist so gut, es ist ja meine Schuld.«
»Freilich, dies kommt auf dein Konto. Aber nun laß uns ernstlich beraten, was besser ist: den Weg nach der Schneewiese suchen oder einen, der uns möglicherweise schnell hinunterführt.«
»Natürlich schnell hinunter,« rief die Nell lebhaft, »das ist gar keine Frage. Das muß ja eine Kleinigkeit sein, wir sind ja gar nicht mehr hoch.«
»Oho – der Grünberg erhebt sich 1004 Meter, Tochter! Wie viel sind wir denn groß hinuntergestiegen?«
»Ein ganzes Stück, wenn es auch allmählich ging, und dann vergiß nicht, Gmunden liegt 725 Meter hoch.«
Sie schritten zu der kleinen Wiese zurück und suchten nach einem abwärts führenden Wege.
»Hurra, hier ist ein Holzweg,« rief die Nell nach kurzer Zeit. »Wagenspuren sind freilich nicht da, augenscheinlich haben die Arbeiter die Stämme hinabgeschleift. Bleibe einen Augenblick da, Väterchen, ich will Ausschau halten.«
»Aber mit Vernunft, Nell.«
Sie hörte nicht, mit unglaublicher Geschwindigkeit stieg sie den Hang hinab und erreichte einen Felsenvorsprung, der steil aus der Tiefe aufstieg. Seitwärts lagen in wirren Haufen gefällte Baumstämme, weiter unten tiefe Einschnitte von Wagenspuren. Dorthin also mußten sie. Aber wie dahin gelangen? Sie sah sich um, prüfte, überlegte und stieg wieder hinauf.
»Wir müssen von rechts hinabzukommen suchen, vielleicht zwanzig Meter tiefer ist ein richtiger Holzweg, der muß ja hinabführen,« berichtete sie, »aber erst wollen wir uns stärken.«
Sie aßen und tranken in Hast, dann schritten sie rechts ins Gehölz. Zu ihrer unaussprechlichen Freude kamen sie auf einen schmalen, aber deutlich erkennbaren Pfad.
»Gewiß ein sogenannter Jägersteig, steil und gefährlich,« sagte Väterchen ein wenig bedenklich.
»Bringt uns aber schnell hinab, und das ist die Hauptsache,« erklärte die Nell nach einem Blick auf den Himmel. Hier im Hochwald begann es bereits zu dämmern.
Schweigend schritten sie hintereinander her, bis der Pfad plötzlich fast senkrecht hinabführte. Mühsam, sich auf ihre Picken stützend und sich die Hände reichend, gelangten sie glücklich auf ein schmales Plateau. Von drei Seiten mit Bäumen bestanden, gab es nach vorn einen freien Blick. Bestürzt standen Vater und Tochter. Da lag in beträchtlicher Tiefe der Laudachsee im leichten Schatten des Abends.
»Da sind wir ja hübsch zwei Stunden in der Dreh umhergelaufen,« brach Väterchen zornig los, »das kommt davon, wenn man einem Kindskopf den Willen tut. Dies ist aber das letztemal, daß ich dir nachgebe, das sage ich dir, Mädchen. In Zukunft tust du, was ich will.«
Der Nell stieg das Blut heiß ins Gesicht. So hatte Väterchen noch nie zu ihr gesprochen, sie sah aber ein, daß er im Rechte war.
»Ja, Väterchen,« sagte sie nur, und es klang so verzagt und kleinmütig, daß es seinen Zorn sofort entwaffnete.
»Na, na, laß nur sein, Kind,« sagte er begütigend, »ist ja schließlich nicht deine Schuld, daß dein Vater so schwach gegen dich ist. Aber nun komm schnell.«
Schweigend, tief beschämt folgte sie ihm, als er einen scharf berganführenden Pfad einschlug.
»So, da hätten wir das Hochgeschirr glücklich wieder,« rief Väterchen, »das ist mir eine wahre Erleichterung.«
Einen Ausblick gab es nicht mehr. Es dunkelte bereits, nur vom See herauf leuchteten die vielen elektrischen Lampen von Gmunden und spiegelten sich in seinen Fluten.
»Bist du müde, Nell?«
»Nein, Väterchen, aber du? Ich mache mir Sorge um dich.«
»Nicht nötig, Tochter, weißt doch, daß man mich den jungen Alten nennt, und der kann schon etwas leisten. Nimm meinen Arm und dann den besten Fuß voran. Aber erst wollen wir die Mäntel umnehmen, es wird kalt.«
Arm in Arm schritten sie, wegen der schnell zunehmenden Dunkelheit, langsam und vorsichtig bergab.
»Bist du ganz sicher, Väterchen, daß wir auf dem richtigen Wege sind?« fragte sie kleinlaut.
»Ich denke doch. So viel ich mich erinnere, führt ein Weg direkt vom See herauf. Aber sieh da – links – Nell – links – ein Licht! Sollte da ein Haus sein?«
»Es kommt näher, Väterchen – es kommt,« jubelte sie, »es ist ein Mensch – ein Mensch! Gott sei gedankt!«
»Ja, der kommt wie gerufen. Heda – guter Mann – heda –«
»Jetzt kommt er aus dem Dickicht heraus – er muß auf unserm Wege sein – aber – Väterchen – er steigt nicht herauf zu uns, er geht vorüber.«
»Heda – heda –« Beide ließen ihre Stimmen so laut wie möglich erschallen, aber langsam und unentwegt glitt der geheimnisvolle Lichtschein über den Weg und verschwand jenseits im Holz.
Vater und Tochter standen still. Sie hatten ihr Rufen eingestellt, beide von leisem Grauen erfüllt.
»Väterchen – was war das?« flüsterte die Nell und schmiegte ihre Hand in die seine.
»Ein Mensch ohne Zweifel, vielleicht ein Taubstummer, der unser Rufen nicht hörte. Was – Mädelchen – ich glaube gar, du zitterst! Nell – Thusnelda – nimm dich mal zusammen.«
Sie lachte mühsam auf. »Es war so unheimlich,« entschuldigte sie sich.
»Ei was, ganz was Natürliches muß es gewesen sein. Geister, die abends mit Laternen herumwandeln, gibt es nicht. Es wird irgend ein närrischer Kauz oder ein Unglücklicher sein. Denke nicht mehr daran, Kind. Sieh, da kommen die Sterne. Schade, daß wir gerade Neumond haben.«
Um sie abzulenken, plauderte er weiter und sie, dankbar für seine gute Absicht, ging lebhaft darauf ein. Und endlich – endlich standen sie am Laudachsee, froh, wenigstens an bekannter Stelle zu sein. Noch einsamer als im hellen Sonnenlichte lag das kleine Gewässer in der nächtlichen Stunde da, noch wilder und dräuender erhoben sich die schroffen Wände des Traunsteins, düster und geheimnisvoll zog sich seitwärts der Wald hin. Schwarz und drohend stand am nordwestlichen Horizont die Nacht und rückte langsam höher, als wolle sie mit ihren schweren Schwingen alles Himmelslicht erdrücken.
Beklommen wandte die Nell sich ab. »Laß uns gehen, Väterchen,« bat sie leise, »zur Ramsau hinunter.«
»Kind – da müßten wir in den Wald hinein, und da drinnen sieht man nicht die Hand vor Augen. Der Weg soll noch dazu sehr steinig und abschüssig sein. Das können wir nicht riskieren, wir kämen in Gefahr, uns die Glieder zu zerschlagen.«
»Ja – aber – wir müssen doch nach Hause.« Unsagbare Angst klang aus ihrer Stimme.
»Meine kleine Tochter,« Väterchen umfaßte ihr warmes Gesicht mit beiden Händen, »ich könnte es nicht verantworten, mit dir hinabzusteigen, wir müssen uns wohl oder übel entschließen, die Nacht hier zu verbringen.«
»Väterchen!«
»Nun zeige einmal, Nell, daß du das mutige, tapfere Mädchen bist, für das ich dich halte.«
»Ja – ja – ich will.« Hastig wischte sie die Tränen fort. »Es ist mir nur so schrecklich, weil es allein meine Schuld ist. Und nun gar noch eine Nacht draußen! Wenn Mutter dies ahnte! Fühlst du auch schon Schmerzen im Kreuz? Ich habe solche Angst vor dem Hexenschuß.«
Väterchen lachte so frisch und fröhlich, daß Nell plötzlich alle Angst schwinden fühlte. Sie gingen zu dem kleinen Häuschen, trugen die Bank an die windgeschützte Seite, wickelten sich in ihre Mäntel und setzten sich.
»Wie gut, daß wir sie mit haben, Väterchen.«
»Will es meinen, Nell. Hast du noch etwas zu essen und zu trinken?«
»Nicht die Probe, wir haben vorhin das letzte verzehrt. Hast du Hunger? Es tut mir so leid.«
»Schadet nicht, Tochter, es wird dir auch nicht anders gehen, wie?«
»Ich hätte durchaus nichts gegen ein Tischchen deck dich einzuwenden, natürlich mit recht guten Dingen darauf.«
»Vor allem eine warme Suppe, Nell, die würde uns gut tun.«
»Und dann Beefsteak mit Bratkartoffeln und zum Nachtisch Pudding mit Weinsauce,« vollendete sie. Beide lachten, dann rückten sie dicht aneinander.
Es war doch recht grauslich, hier eine ganze Nacht zu verbringen. Immer wieder mußte sie an das geheimnisvolle Licht denken, heimlich fürchtete sie sein Wiederaufleuchten. Allmählich aber ward sie müde. Sie mochte wohl eine Weile geschlafen haben, als sie durch ein Gefühl von Kälte wieder aufwachte.
Der Vater merkte es sofort. »Laß uns schnell auf- und ablaufen, du könntest dich erkälten. Sobald der Morgen graut, steigen wir hinab.« Er schlug seinen Mantel mit um die Tochter und ging mit ihr auf und ab, bis beide wieder leidlich warm waren.
»Wie kann eine Nacht nur so lang sein,« seufzte die Nell.
Nun saßen sie nur immer kurze Zeit, um nicht wieder kalt zu werden, und endlich – endlich graute im Osten das erste schwache Dämmerlicht. Kaum waren die Wegezeichen kenntlich, so machten sie sich auf die Wanderschaft, mit steifen, müden Gliedern zwar, aber doch froh in der Hoffnung, bald heim zu kommen.
Wäre der Weg nur besser und bequemer gewesen! Anfangs glatt und eben, führte er bald in eine mit Steinen überschüttete Runse und scharf bergab. Nell merkte, wie sauer es Väterchen fiel, so blieb sie öfter stehen, ihm Zeit zum Ausruhen zu lassen. Sie brauchten weit über zwei Stunden bis zur Kleinen Ramsau, wo sie zum Glück schon eine Magd auffanden, die ihnen Kaffee kochte. Wie der schmeckte! Die Nell meinte, einen so guten noch nicht getrunken zu haben. Väterchen sagte nicht viel, er sah blaß und müde aus.
Zwei Stunden mußten sie warten, bis der erste Dampfer von Ebensee kam und sie nach Gmunden mitnahm. Nun schnell ins Hotel, noch einen heißen Kaffee und dann in die Betten.
Nell hatte ihr Stübchen gerade betreten und hing ihren Mantel an, als aus dem Nebenzimmer ein lauter Aufschrei ertönte. Heftig erschrocken riß sie die Tür auf und stürzte hinein. Da saß Väterchen gebückt auf einem Stuhl und stöhnte zum Erbarmen.
»Klingle um Hilfe, ich kann nicht allein ins Bett,« stieß er ächzend hervor.
»Väterchen – doch nicht der Hexenschuß?«
»Ja – o und echt. Wollen froh sein, daß ich glücklich hergekommen bin. Dachte schon unterwegs immer, es würde losgehen.«
Der Wirt erschien selbst, und während er sich um den Postdirektor bemühte, lief die Nell zum Arzt.
So endete die so fröhlich begonnene Tour.
* * *
Gegen Mittag kam Christa ahnungslos und sehr vergnügt in den Goldenen Hirschen. Hier erfuhr sie sofort von dem Abenteuer und des Postdirektors Erkrankung. Bestürzt lief sie die Treppe hinauf und klopfte, als sie Nells Stübchen leer fand, leise an die Tür zum Nebenzimmer.
»Du hast ja geweint – ist es so schlimm?« forschte sie erschrocken, als die Freundin zu ihr hereintrat.
Nell schüttelte heftig den Kopf und begann stumm auf- und abzulaufen. Dabei bearbeiteten ihre Finger aufgeregt ihr Taschentuch.
»Nell – sag doch ein Wort,« flehte Christa, »ich ängstige mich halbtot.«
»Ach Christel – ich trage zu schwer daran, daß Väterchen so viel aushalten muß – durch meine Schuld.«
»Durch deine Schuld? Wieso denn?«
Abgebrochen, in kurzen Worten berichtete die Nell. »Siehst du – das bin ich – deine große, kraftvolle Nell, die sich dir zehntausendfach überlegen fühlte, und nichts weiter ist als ein eingebildetes, anmaßendes, selbstsüchtiges Geschöpf. Mit Freuden wollte ich die härteste Strafe auf mich nehmen, wäre nur Väterchen gesund. Und dabei ist er so lieb gegen mich!« Ihr zuckten die Lippen, und nur gewaltsam hielt sie die Tränen zurück.
»Nell, arme, liebe Nell,« Christa umfaßte sie, »es tut mir so furchtbar leid, aber so häßlich darfst du nicht von dir reden. Papa spricht immer so lobend von dir, er sagte noch gestern, er wünschte, ich hätte etwas nur von deiner Willenskraft und Frische. Freut dich das nicht, Nell?«
»Ach Christel, ich mache mir Sorge um Väterchen. Es ist nicht allein der Hexenschuß, er hustet bereits, und der Arzt fürchtet einen Katarrh.«
»O – und ich wollte euch auffordern, morgen mit uns und Wendts nach den Langbathseen zu fahren, der Assessor kommt auch mit. Wir haben ihn gestern abend noch gesehen. Du – er hat mir entzückende Alpenrosen mitgebracht – ganz süß sind sie – für dich hatte er auch welche.«
Die Nell antwortete nicht, ihr Blick flog über die Freundin hinweg aus dem Fenster ins Weite.
»Es soll eine wundervolle Tour sein, sagen Wendts,« fuhr Christa fort, »man fährt mit dem Dampfer bis Ebensee, von da mit einem Stellwagen und kommt abends spät zurück. Nicht wahr, Nell, wenn dein Vater morgen etwas besser ist, kommst du doch mit?«
»Ich – fortgehen – meinen Vater allein lassen? Das kann dein Ernst nicht sein, Christa.«
»Aber wenn es ihm besser geht?«
»Nein. Auf keinen Fall.«
Das klang kurz und entschieden genug, aber Christelchen verlegte sich aufs Bitten. »Ach Nell, du kannst es doch wenigstens überlegen. Dein Vater erlaubt es dir gern, und Frau Reisch ist eine so nette Frau, die würde gewiß aufpassen, daß er nichts entbehrt. Sieh mich doch nicht so entrüstet an, ich möchte dich doch so schrecklich gern mit haben. Du kannst dir nicht denken, wie langweilig es gestern ohne dich war. Und wenn dein Väterchen morgen –«
»Nein,« unterbrach die Nell sie schroff, »du kannst nicht verlangen, daß ich meinem Vergnügen nachgehe und meinen Vater fremden Menschen überlasse. Würdest du das tun?«
»O, Papa würde froh sein, wenn er mich gut angebracht wüßte. Was sollte ich auch dabei tun, wenn er krank wäre?«
»Du bist doch noch das reine Kind, Christa – aber da ruft Väterchen, ich habe keine Zeit mehr, gehab dich wohl.« Ihr flüchtig zunickend, eilte sie ins Nebenzimmer.
»Wünschest du etwas, Väterchen?«
»Wenn du mir etwas Warmes zu trinken verschaffen könntest, Kind. Ich habe starken Hustenreiz und möchte dem so wenig wie möglich nachgeben, wegen der Schmerzen im Rücken.«
»Gleich, Väterchen, ich bin sofort wieder da.« Sie lief hinaus und traf an der Treppe mit Christa zusammen. »Christelchen – magst du für mich in die Apotheke laufen und mir Emser Pastillen und Brusttee holen? Hier hast du Geld. Tust du's auch gern?«
»Mit Vergnügen, Nell. Ich bin sofort wieder da.« Sie lief aus der Haustür, die Nell in die Küche, um sogleich mit einem Glas Zuckerwasser zurückzukehren.
»Jetzt kannst du alles haben, was du willst, Väterchen,« verkündete sie, »Frau Reisch schickt mir eine Spiritusmaschine herauf, dann koche ich dir Tee und wärme ihn, so oft du willst. Hast du sehr viele Schmerzen?«
»Danke, es geht. Eine nächtliche Tour machen wir nicht wieder, was, Nell?«
»Ach – Väterchen!«
»Na – Mädel – gar Tränen? Höre mal, das verbitte ich mir, Tochter, ich will ein frohes Gesicht sehen. Weißt ja, daß ich Sonne innen und außen liebe.«
Sie zwang ein Lächeln auf die Lippen. »Ich will ja – alles – alles, so wie du willst, Väterchen.«
»Aha – windelweich, Nell?« Er lachte leise, verzog aber schmerzlich das Gesicht. »Lachen darf ich heute nicht, bitte darauf Rücksicht zu nehmen, Tochter. Da klopft's.«
»Wer war's?« fragte er, als Nell nach kurzer Zeit wiederkehrte.
»Christa, Väterchen. Sie ist für mich zur Apotheke gelaufen und hat für dich diese entzückende Fuchsie mitgebracht. Einen recht schönen Gruß soll ich dir bestellen und viele gute Wünsche für gute Besserung.«
»Danke. Es lohnt wirklich, krank zu sein, wenn man so von jungen Damen verwöhnt wird. Stell mir das Bäumchen so, daß ich es sehen kann. Sie ist gut von Herzen, die Kleine, und sehr lieblich. Wollte sie dich vorhin abholen? Sie haben doch sicher etwas vor?«
»Für heute nicht, morgen wollen sie nach den Langbathseen, natürlich habe ich abgesagt.«
»Das war sehr voreilig, Tochter, denn ich –«
»Bitte, Väterchen, rege dich nicht auf. Nach dieser Nacht fühle ich mich wirklich nicht so frisch, um morgen in der Frühe schon wieder aufzubrechen.«
»Auch nicht, wenn ich gesund wäre und Lust hätte?«
»Ach Väterchen, laß mich bei dir bleiben, ich bitte dich von Herzen. Ich hätte doch nichts von der Partie.«
»Nun denn – da klopft's schon wieder!«
Als Nell auf den Flur trat, stand Erich Baumgarten vor ihr mit einem Sträußchen Alpenrosen, die er ihr überreichte.
»Ich habe mit Bedauern gehört – es ist doch nichts Ernstes –« unterbrach er sich erschrocken, nach einem Blick in ihr Gesicht.
»Nein, Gottlob! Aber mein Vater hat viele Schmerzen, und ein Katarrh ist im Anzuge.«
»Um den machen Sie sich keine Sorge, Fräulein Wartenberg, der verschwindet in diesem gesegneten Klima so schnell wie er kommt.«
»Meinen Sie wirklich, Herr Assessor?«
»Ganz gewiß, ich spreche aus Erfahrung. Sie sollen mal sehen, morgen ist Ihr Herr Vater schon etwas wohler und dann – nicht wahr, dann kommen Sie mit? Es wäre zu schade, wenn Sie gerade die Langbathseen versäumten.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«
»Wollen wir mit der Entscheidung nicht bis zum Abend warten? Darf ich noch einmal nachfragen?« bat er.
»Ich könnte Ihnen keine andere Antwort geben, Herr Assessor, aber für eine Nachfrage nach meines Vaters Befinden bin ich allezeit dankbar. Entschuldigen Sie nur, daß ich Sie nicht ins Zimmer nötigen kann.«
Der Kranke lag in leichtem Schlummer, als sie zurückkam und ihre Alpenrosen in einer kleinen Vase neben den Fuchsientopf stellte.
Von diesen Blumen preßte sie keine zum Andenken.
Des Postdirektors Befinden hatte sich bis zum Abend nicht gebessert, so konnte von ihrer Teilnahme an der Partie nicht die Rede sein. Das sahen alle ein, und jeder einzelne sprach ihr sein herzliches Bedauern aus. In der Nacht fand sie wenig Schlaf. Der Kranke hustete viel und stöhnte vor Schmerzen. Sie gab ihm oft zu trinken, um den Hustenreiz zu mildern, das war aber auch alles, was sie tun konnte.
Gegen Morgen ward er ruhiger und schlief ein. Da hätte die Nell auch schlafen können, wenn die Sorge sie nicht wach gehalten hätte. Als die Uhr sechs schlug, schlich sie mit ihrem Fernglas an das Fenster und paßte auf. Kaum zehn Minuten später ging der »Vulkan« in den See hinaus. Dem Mädchen klopfte das Herz, als sie mit ihrem Glase das Verdeck absuchte. Richtig – da saß der Landgerichtsrat mit seinen Bekannten, Christa und dem Forstassessor. Ob die wohl an sie dachten und noch einmal herübersahen? Aber nein, Erich Baumgarten hatte sich etwas vorgebeugt und erzählte jedenfalls eine sehr heitere Begebenheit, denn Christelchens hübsches Gesicht war eitel Sonnenschein.
So heftig, daß sie unruhig nach der offenen Türe hinhorchte, rauschten die Vorhänge unter ihrer Hand zusammen, das Fernglas flog auf den Tisch und sie ging ins Bett.
Der Tag verging ihr noch stiller als der vorige, aber Väterchen hatte etwas weniger Schmerzen, und der Katarrh nahm einen günstigen Verlauf, Grund genug, froh und dankbar zu sein. Und doch konnte sich die Nell nicht so recht von Herzen dazu aufschwingen, obgleich sie sich redliche Mühe gab. Der Kranke fühlte sich sehr matt und schlief viel, erst gegen Abend ward er frischer, begann mit der Tochter zu scherzen und schickte sie zu einem Spaziergang hinunter.
Nell schritt an der Traun entlang, setzte sich dort auf eine Bank und verfiel in Gedanken. Den ganzen Tag hatte sie Christel und den Assessor vor sich, so wie sie die beiden früh am Morgen gesehen hatte. Ob sie sich gut waren? So recht von Herzen gut?
Sie sprang auf und schritt so hastig aus, daß sie Herzklopfen bekam. Konnte die kleine selbstsüchtige Christel überhaupt einen Menschen glücklich machen? Wenn aber – durch ihn beeinflußt – ihre guten Eigenschaften geweckt und gefördert wurden? Liebreizend war das Christelchen, viel, viel anziehender als sie, die selbstherrliche Nell. Die Brauen zusammengezogen, stand sie auf der Traunbrücke und starrte in die blauen Fluten, ohne sonderlich viel davon zu gewahren. Erst als sich zwei Buben neben sie stellten und anfingen zu schwatzen und zu lachen, kam sie zu sich und schaute um sich.
Wie schön, wie wunderschön war doch die Welt! Und Väterchen in Besserung! Und sie schritt hier mit schwerem Herzen einher? Was war ihr nur? Warum nur machte sie sich so viele Gedanken um Christel? War es nicht besser, alles dem anheimzustellen, der die Geschicke der Menschen lenkt und stets alles zum Besten hinausführt? Tiefaufatmend setzte sie ihren Weg fort und eilte ins Hotel zurück.
»Da bist du ja,« rief Väterchen ihr vergnügt entgegen, »und frisch, mit blanken Augen, Gottlob! Weißt du wohl, Tochter, daß ich mir um dich mehr Sorge gemacht habe als um mich? Habe recht gut bemerkt, daß dir die Heiterkeit nicht von Herzen kam. Aber nun darfst du vergnügt sein, Nell, ich fühle mich heute abend viel wohler, und morgen kann ich wieder aufstehen.«
»O Väterchen, wie freue ich mich!«
»Was wird dies noch für eine schöne Zeit für mich werden,« fuhr er gut gelaunt fort, »mein großes Mädchen ist ja das reine Lamm geworden, sagt immer nur: wie du wünschest, Väterchen, oder – ganz wie du meinst. Da werde ich mich zum Despoten ausbilden, ohne daß sie ein einziges Veto einlegt.«
»Hast auch große Anlage dazu, Väterchen,« erwiderte die Nell und stimmte in sein Lachen ein.
»Ich kann dich nun auch über das geheimnisvolle Licht aufklären, Kind, der Wirt sagte mir vorhin, es sei wahrscheinlich ein Schwachsinniger gewesen, der in der Ramsau wohnt und oft nachts in die Wälder steigt, heilsame Kräuter zu suchen. Was ist's?« fragte er, als sie aufstand und das Zimmer verließ.
Sie kam sehr bald zurück, eine Depesche in der Hand. »Von Christel,« erklärte sie und las: »Großalm. Von den Langbathseen hierhergegangen. Großartig. Morgen abend zurück. Tausend Grüße. Gute Besserung. Christa. Gerstinger. Baumgarten.«
* * *
In Gmunden herrschte an einem Sonntage besonders reges Leben. Tausende von Fremden durchwogten schon seit dem frühen Morgen die reichen mit Fahnen und Girlanden geschmückten Straßen. Um drei Uhr sollte der Korso stattfinden. Vor der Esplanade, auf der das größte Gedränge herrschte, war im See eine breite Straße für die Schiffe und Boote bezeichnet. Am Ufer hatte man Tribünen errichtet, und wer dort nicht Platz fand, konnte von großen Salzschiffen, zwei Dampfern und verschiedenen Booten aus, der Fahrt zusehen.
Mit dem Glockenschlage drei begann die Kurkapelle zu spielen, das Zeichen zum Beginn der Fahrt. Nun kam Bewegung in die vielen Fahrzeuge, die hinter der Traunbrücke warteten. Den Zug eröffnete ein Traundampfer, reich mit Girlanden, Fahnen und Wimpeln geschmückt, eine Musikkapelle an Bord, die lustige Weisen spielte. Dann folgte ein Boot mit gelben Rosen, vier Damen in gleichen Farben und Blumen. Hinter ihm ein größeres Fahrzeug, mit einem Laubendach aus Weinranken, an denen dunkelblaue Trauben verlockend herabhingen. Um das Boot zog sich eine Girlande von Rebstöcken, von denen Winzer und Winzerinnen Trauben schnitten.
In bunter Reihenfolge zogen nun kleinere und größere Fahrzeuge vorüber, alle reizvoll und eigenartig geschmückt. Mit besonderem Jubel wurden zwei Salzschiffe begrüßt. Auf dem ersten war sehr naturgetreu eine Sennerei dargestellt, mit Almhütte und Sennerinnen, sogar die Kühe fehlten nicht. An einem Tische saßen junge Burschen und sangen Lieder, die sie auf der Zither begleiteten. Auf dem zweiten, das viel später erschien, vier der bekanntesten Märchen, jedes in einer besonderen Blumenlaube.
Unmittelbar hinter diesem Schiffe folgte eine weiße Barke mit einem Baldachin von rosa und dunkelroten Rosen, unter dem zwei junge Mädchen in rosa Kleidern saßen, Rosen in den Haaren, an den Schultern und im Gürtel, Nell und Christa, beide reizend in ihrer Jugend und Lebenslust.
»Siehst du sie, Nell?« fragte Christa und ließ die Blicke über die Tribüne schweifen.
Da flog ihr eine dunkle Rose in den Schoß, eine zweite Nell zu Füßen.
»Dort sind sie – Nell – dort oben – sieh doch – sieh –« lieblich errötend neigte Christa sich vor, hinaufzugrüßen zu den drei Herren, von denen der jüngste eifrig bemüht war, ihnen Rosen zuzuwerfen. »Schade, sie fallen ins Wasser, ein Glück, daß wenigstens die eine zu mir gekommen ist. O – dieser Duft, es ist die schönste von allen! Nell, wie kommst du dir vor?«
»So etwas wie eine verzauberte Prinzessin, Christelchen.«
»Ich auch! Ich glaube, so selig bin ich in meinem ganzen Leben noch nicht gewesen und du – Nell? Du bist gar nicht so recht bei der Sache, überhaupt bist du viel ernster als zuerst, und dein Vater ist doch wieder gesund und – Nell – ich muß es dir sagen: du siehst einfach bildhübsch aus.«
»Du auch, Schatzkind.«
Sie lachten beide und drückten sich verstohlen die Hände.
»Du, unsere Herren fanden das gewiß auch,« flüsterte Christel, »Papa strahlte ordentlich vor Stolz. Du – er hat mich sehr, sehr lieb, jetzt habe ich das so recht gemerkt. Das macht mich so froh, ich kann's dir gar nicht sagen. Er ist auch viel vergnügter geworden.«
»Weil du es bist, Christelchen.«
»Ja, ich will auch gar nicht wieder verdrießlich werden, es ist wirklich schöner, wenn man vergnügt ist. Wie sagte dein Väterchen neulich?
In Sonnenschein leben und Sonnenschein geben,
Bringt reichsten Segen ins eigene Leben.«
»Ja,« Nells Augen leuchteten freudig auf, »das hat Väterchen uns gelehrt, als wir noch kleine Kinder waren, und es ist uns dreien so in Fleisch und Blut übergegangen, daß es unser Geleitwort fürs Leben geworden ist. O –« überrascht streckte sie die Hände aus, denn es wurden ihr aus einem vorüberfahrenden Kahn Blumen zugeworfen.
Hinter der Rosenbarke erschien eine sogenannte Plätten – ein großes, roh zusammengezimmertes Fahrzeug mit geradem Boden, ähnlich wie ein Fährboot. Auf ihm war sehr geschickt der schön bewaldete felsige Kegel des Johannisberges bei Traunkirchen mit seinem uralten Kirchlein nachgebildet. Zu dem Geläut der Glocke sangen junge Burschen und Mädel vierstimmig.
Viele hübsche und besondere Ideen waren noch in den verschiedenartigsten Fahrzeugen zum Ausdruck gebracht, und die allgemeine Anerkennung gab sich immer wieder lebhaft durch laute Zurufe und Werfen von Blumen kund. Auch aus den Booten flogen duftende Geschosse in die ihnen begegnenden. Zwei Stunden währte die Fahrt, dann wurde zur Preisverteilung geschritten. Der erste Preis fiel dem Salzschiff mit den Märchen zu, der zweite der Plätten mit dem Johanniskirchlein.
»Eigentlich dachte ich, wir würden auch einen Preis bekommen,« flüsterte Christa der Freundin zu, als noch verschiedene kleinere Preise zur Verteilung kamen, »unsere Barke ist doch entzückend, und wir sind einfach reizend, nicht wahr, du?«
»Es gibt doch noch schönere Mägdelein, Christel, damit mußt du dich trösten,« entgegnete die Nell lachend.
Die Herren standen bereit, sie in Empfang zu nehmen, als die Barke landete.
»Wir haben keinen Preis bekommen, Papa,« rief Christa.
»Habe ich auch durchaus nicht erwartet, Töchterchen.«
»Was wollten Sie auch mit einer Plätten oder mit fünfzig Gulden anfangen?« fragte der Assessor neckend.
»Solch altes häßliches Schiff hätte ich verschenkt und das Geld – was meinst du, Nell?«
»Ich würde mir einen Wagen nehmen und mit dem Näh-Vronerl hinausfahren, dahin, wo es Wiesen mit unzähligen Blumen und Berge und Sonnenschein, viel Sonnenschein gibt.«
»Ja, das wäre schön,« rief Christel lebhaft und tauschte mit dem Vater einen Blick, dann gingen alle in den Bellevue-Garten, Kaffee trinken. Nachdem sie hier eine Stunde gesessen hatten, zog sich ein jeder zurück, um noch zu ruhen, ehe das Fest, das mit einem Balle endete, alle wieder im Kurhause vereinte.
Nell stach in ihrem einfachen Tarlatankleide durchaus nicht gegen die anderen Damen ab, im Gegenteil, in ihrer frischen Anmut fiel sie allgemein auf, mehr noch als Christelchen in all ihrem Liebreiz. Beiden fehlte es nicht an Tänzern.
»Es ist herrlich, nicht wahr, Nell?« fragte Christa, als sie in einer Pause auf- und niederschritten, »am besten aber tanzt doch der Assessor, findest du nicht auch?«
»Das ist mir wirklich nicht aufgefallen, aber sieh, da winkt Väterchen.«
»Eine kleine Erfrischung gefällig?« erkundigte sich der Postdirektor, »bitte mir zu folgen, wir haben eine nette Ecke erwischt.«
Fröhlich plaudernd saßen nun die Fünf, denn der Assessor hatte sich schnell dazu gefunden.
»Schade, daß unser hübsches Beisammensein bald ein Ende hat,« bemerkte der Landgerichtsrat, »in vier Tagen müssen wir heimwärts ziehen. Ich hoffe aber auf ein Wiedersehen.«
»Ja, Papa, Nell hat mir versprochen, uns Michaelis zu besuchen.«
»Wenn meine Arbeit es mir erlaubt, Christelchen. Im letzten halben Jahr muß ich besonders fleißig sein.«
»Und um das zu können, Fräulein Wartenberg, müssen Sie zu Michaelis unbedingt ausspannen,« mischte sich der Assessor in das Gespräch. »Luft und Bewegung sind Ihnen durchaus notwendig. Ich reise wahrscheinlich zu meinem Onkel, und wenn dann die Herrschaften Ausflüge in die Mecklenburger Schweiz unternehmen und ich mich anschließen dürfte?«
Christa errötete heiß. »O –« sagte sie nur und sah den Papa an.
Der lächelte verbindlich. »Es sollte uns sehr angenehm sein, Herr Forstassessor. Dann müssen wir aber wieder alle beisammen sein,« fuhr er lebhaft fort, »Herr Postdirektor, machen Sie uns das Vergnügen, bringen Sie uns Ihre liebe Tochter und schenken Sie uns einige Tage.«
»Sehr liebenswürdig, Herr Landgerichtsrat, was aber würde Ihre Frau Mutter zu solcher Einquartierung sagen?«
»O, Großmama würde sich sehr freuen,« rief Christa, ehe ihr Vater antworten konnte, »die mag schrecklich gern Besuch haben. Bitte, bitte, lieber Herr Postdirektor, Sie bringen uns die Nell?«
»Wollen mal sehen, Fräulein Christa, dann muß Ihr Herr Papa aber versprechen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.«
»Gern, Herr Postdirektor,« verhieß der Landgerichtsrat.
Heitere Walzerklänge lockten vom Saale herüber.
»Gnädiges Fräulein, unser Walzer,« rief Erich Baumgarten und führte Christa in den Saal. Nell folgte ihnen bald mit einem jungen Marineoffizier.
Gegen zwölf geboten die Väter dem Vergnügen Einhalt. Christa schmollte, sie hatte noch lange nicht genug, aber die Nell war sehr zufrieden.
Es war eine sternklare Nacht. Das erste Mondviertel spiegelte sich in den stillen Fluten des Sees; bläuliche Schatten ruhten über den Bergen.
»Wie schön und friedlich,« bemerkte der Postdirektor, »ich glaube aber, Verständnis für den Frieden in der Natur hat nur, wer ihn in der eigenen Brust trägt.«
»Da hast du recht, Väterchen, der Friede kommt uns nicht aus der Natur, den erringen wir nur im Kampf.«
Väterchen stutzte über den ernsten Ton. »Nell?« Er ergriff ihre Hand. Kräftig erwiderte sie seinen Druck, schweigend schritten sie weiter.
Am nächsten Tage ward nichts Besonderes unternommen. Der Forstassessor fuhr mit dem Dampfer nach Ebensee. Er wollte von dort aus über den Hohen Pfad zum Almensee und zur Grünen Au, um sich am übernächsten Tage in dem dortigen Gasthause mit den Freunden zu treffen. Die Herren wollten in das liebliche Almtal fahren und zu der Mädchen Freude das Näh-Vronerl mitnehmen.
Früh morgens ward zu der vierstündigen Fahrt aufgebrochen. Die Sonne schien, der Tau glitzerte im Moose auf den Hängen, rechts am Wege rauschte die eilig dahinschießende Alm durch das enge Tal. Zwischen den Mädchen saß Vronerl mit gefalteten Händen und glänzenden Augen. Sie sprach kaum ein Wort, aber nichts entging ihr. Es war ein Feiertag für das alte Mädchen, wie sie noch keinen erlebt hatte. Nach zwei Stunden ward gerastet, um die Pferde nicht zu übermüden. Als es dann weiter ging, und der Weg steiler ward, stiegen die Herren ab.
»Da tu ich mit,« rief die Nell und sprang eilig ab, »Christel, und du?«
»Ich werde mich hüten und laufen, wenn ich fahren kann, nicht wahr, Vronerl, so dumm sind wir nicht?«
»Ja – wenn's die Pferd' aber doch nit schaffen können?«
»Da können's ruhig drum sein,« entgegnete lachend der Kutscher, der nebenher ging, »so ein Kleines wie Sie sind und das Fräulein, das fühlen's nit.«
So blieben die beiden sitzen, Nell aber, froh, dem Wagen entronnen zu sein, überholte die beiden Herren und schritt voran. In tiefen Zügen atmete sie die würzige Luft ein und freute sich des Alleinseins. Wie angewurzelt blieb sie aber plötzlich stehen. Um die nächste Wegbiegung kam ihr Erich Baumgarten entgegen.
Fröhlich schwenkte er den Hut. »Fräulein Wartenberg! Sie allein. – Sind Sie ausgerückt?«
Sie schüttelten sich die Hände. Nell hatte eine leichte Befangenheit schnell überwunden.
»Ja, bei der ersten Gelegenheit. Ich war froh, laufen zu können. Wir kehren wohl um? Die Herren müssen gleich hier sein, der Wagen fährt langsam wegen der Steigung. Wie kommt es aber, daß Sie schon hier sind, Herr Assessor?«
»Ich bin früh aufgebrochen, um Sie einzuholen. War das schön am Almsee! Ich habe lebhaft an Sie gedacht, auch auf dem langen Marsch heute morgen. Sie sind ein so guter Wanderkamerad, Fräulein Wartenberg.«
»Das sagt mein Vater auch,« entgegnete sie heiter, »aber nun hat's bald ein Ende, dann ruft die Arbeit. Die ist dann aber auch wieder schön.«
»Und Michaelis nehmen wir unsere fröhlichen Wanderungen wieder auf. Nicht wahr, Sie kommen nach Güstrow, Fräulein Wartenberg? Es schien mir neulich, als ob Sie nicht so rechte Lust hätten.«
»O doch, es würde mich sehr reizen, unser Heimatland näher kennen zu lernen, ich weiß aber nicht, ob es nicht vernünftiger wäre, tüchtig zu arbeiten, ich habe ja jetzt fünf lange Wochen gebummelt. Und da haben wir unsere Herren.«
Es fand eine heitere Begrüßung statt, dann kam der Wagen. Nell sah, wie helle Röte Christas liebliches Antlitz höher färbte, wie ihre Augen freudig aufleuchteten, als sie des Assessors ansichtig ward, der schnell zu ihr hineilte. Da zufällig gerade die Höhe des Weges erreicht war, stiegen alle ein, und die Pferde setzten sich in Trab.
Nach einer knappen Stunde war das Ziel, die Grünau, erreicht. Auf weitem Wiesenplan lag vereinzelt ein größeres Anwesen, das Gäste aufnahm, weiterhin rechts erstreckte sich ein Dorf, durchflossen von der Alm und von hohen Bergen umrahmt.
»Hier möchte ich nicht in Sommerfrische sein, es ist so still und so einsam,« erklärte Christa, als der Assessor ihr die Hand zum Aussteigen reichte.
»Ach ist das schön hier, da möchte man sein Leben lang sitzen und staunen und sich freuen,« rief das Vronerl.
Christa lachte. »Ich freue mich doch, heute abend wieder nach Gmunden zurückzukommen, ich würde mich auf die Dauer hier bedrückt fühlen.«
Alle fühlten das Bedürfnis, sich Bewegung zu machen, so gingen sie, nachdem das Mittagessen bestellt war, mit Ausnahme des Vronerl, die auf der Wiese blieb und Blumen pflückte, durch das Dorf in die hübschen Anlagen an dem Grünberg und auf eine nahe, mit einer Ruine gekrönte Anhöhe.
Nach eingenommenem Mittagessen zogen sich die beiden älteren Herren ein Stündchen zurück, die Jugend aber ging mit Vronerl auf die Wiese. Mit stillem Lächeln lauschte sie den Plänen der drei, die sich erst um ein Wiedersehen in Güstrow, dann um die Zukunft der Nell drehten. Mit welcher Begeisterung sie von ihrem Beruf sprach, mit welcher Liebe von den Kleinen, die sie alle, alle in ihr Herz schließen wollte. Vronerls Augen hingen bewundernd an ihr und doch seufzte sie leise. Sie wußte, wie schwer es ist, gute Vorsätze in die Tat umzusetzen, und wie hart das Leben den Menschen oft mitspielt. Und gerade diesem jungen Mädchen hätte sie das höchste Glück gegönnt.
Als könne die Nell ihre Gedanken lesen, so siegessicher nickte sie ihr zu. »Ich werd's schon zwingen, Vronerl,« rief sie fröhlich, »ich gehe mit Liebe und Vertrauen an meine Aufgabe, da kann mir's nicht fehlen.«
»Wenn der Herrgott seinen Segen dazu gibt, nein, dann kann's dem Fräulein nit fehlen,« entgegnete das Vronerl.
»Ach, ich bin froh, daß ich nicht Lehrerin zu werden brauche,« rief Christa aus Herzensgrunde.
»Du gehörst zu den glücklichen Menschenkindern, die man lieb hat und verwöhnt, Christelchen,« entgegnete die Nell, ergriff einen von Vronerls Vergißmeinnichtkränzen und drückte ihn der Freundin in das helle Haar. Errötend wollte Christa ihr wehren, aber Nell hielt ihr die Hände fest. »Laß, bitte, es macht mir Freude und hier draußen dürfen wir einmal Kinder sein, nicht wahr, Herr Assessor?«
»Ich bin ganz Ihrer Ansicht, Fräulein Wartenberg,« versicherte er eifrig, »und der Kranz ist wie geschaffen für Fräulein Christa.«
»Du mußt auch einen aufsetzen, Nell.«
»Für eine künftige Lehrerin schickt sich das nicht,« erklärte sie lachend und sprang auf, »wir sollen zum Kaffee kommen, meine Herrschaften.«
Später wanderte die kleine Gesellschaft noch eine kurze Strecke durch das herrliche Almtal, dann ward der Rückweg angetreten.
Christa saß, ihren Hut im Schoße, den Kranz noch immer auf dem Kopfe, neben der Freundin. Beide sprachen nicht viel, der Assessor, der auf dem Bock saß, wußte genug zu erzählen. Stets, wenn Christelchen aufsah, begegnete sie seinem Blick und schließlich wagte sie gar nicht mehr die Augen aufzuschlagen. Gar so eigen sah er sie an. Allmählich ward es dunkel, ein Stern nach dem andern erschien am Himmel, und die Mondsichel trat hinter den Bergen hervor. Wunderbar feierlich ward es der kleinen Christa.
»Wie kann man nur so glücklich, so selig sein und doch so traurig und bange, Nell?« flüsterte sie.
»Liebe, kleine Christa,« entgegnete Nell und drückte ihr liebevoll die Hand.
Zwei Tage später schlug die Scheidestunde. Der Postdirektor und Nell begleiteten die Freunde zum Bahnhof. Die Mädchen umarmten sich immer wieder, Christa konnte sich gar nicht trennen.
»Du mußt mir ganz fest versprechen, Nell, Michaelis zu uns zu kommen.«
»Wenn ich irgend kann, Schatzkind.«
»Ja, Fräulein Nell, geben Sie uns Ihr Wort,« bat auch der Landgerichtsrat, »ich fürchte, meine Kleine wird bittere Sehnsucht nach Ihnen bekommen. Herr Postdirektor, ich habe Ihr Versprechen, Sie bringen uns Ihr Fräulein Tochter.«
»Werde mein möglichstes tun, Herr Landgerichtsrat.«
»Nicht wahr, Sie werden kommen?« bat auch der Assessor, und reichte dem jungen Mädchen nochmals die Hand zum Abschiede.
»Wenn ich es vor mir selbst verantworten kann, ja, dann komme ich.«
»Herr Assessor – Sie müssen einsteigen – schnell – schnell –« mahnte Christa ängstlich vom Fenster aus.
Eilig sprang er ihr nach, im letzten Augenblick, der Zug setzte sich schon in Bewegung.
»Lebt wohl – lebt wohl – auf Wiedersehen!«
Unter Tränen schwenkte Christa ihr Tuch, über ihrem Kopfe erschien Erich Baumgartens gebräuntes Antlitz.
»Auf Wiedersehen!«
»Auf frohes Wiedersehen!«
Vater und Tochter blickten dem Zuge nach, bis er ihren Blicken entschwand. Die Nell wandte sich zuerst.
»Komm, Väterchen,« sagte sie und schob ihren Arm in den seinen, »laß uns gehen.«
Er sah sie an, und sie mochte wohl Sorge in seinem Blick lesen, denn sie nickte ihm zu und lächelte.
»Wird die Reise dir eine schmerzliche Erinnerung bleiben, Kind?«
»Nein, Väterchen, du kannst ruhig sein. Ich gönne Christa ihr Glück von Herzen. Sie ist ein Menschenkind, das geleitet und gehütet werden muß und, ich glaube, sie wird in die richtigen Hände kommen. Ich habe beide beobachtet und ich bin fest überzeugt, daß er sie mit Güte und Liebe, aber auch mit ruhiger Entschiedenheit lenken wird. Und das braucht sie. Möge sie ein reiches Glück finden. Ich –« sie atmete tief auf – »ich habe dich, Mutter, die Brüder und meinen Beruf. Und Väterchen, die Reise ist von großem Nutzen für mich gewesen. Ich habe mich selbst in all meinen Fehlern erkannt, und ich will mit Gottes Hilfe ehrlich gegen sie zu Felde ziehen.«
»Recht so, Tochter,« pflichtete Väterchen ihr bei, »kämpfen sollen wir, so lange wir leben, denn ohne Kampf wird der Sieg nicht unser.«