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II. Kapitel.

»Väterchen« – Nell klopfte an seine Tür, »es regnet! Hast du's schon gesehen oder schläfst du noch?«

»Wenn du nichts dagegen hast, Tochter, so schlafe ich noch.«

Ein fröhliches Lachen als Antwort. »Verzeih, Väterchen, wünsche weiter gut zu ruhen.«

»Danke ergebenst.«

Leise huschte Nell über den Flur zurück in ihr Stübchen und trat ans Fenster.

Grau in grau die noch gestern so lichte Welt. Nichts zu sehen von den Bergen. Dichte Nebelschwaden umzogen sie und gaben selbst die grünen Vorberge nicht frei.

Nach einer Stunde etwa trat Väterchen ein. »Da hast du mich, Tochter, frisch und ausgeruht und zu allen möglichen Streichen aufgelegt.«

Sie flog auf ihn zu und legte ihm die Hände auf die Schultern. Strahlend schauten sie sich an.

»Gut siehst du aus, Väterchen, das Reisen bekommt dir vorzüglich. Und was nun? Ziehen wir weiter?«

»Versteht sich. Dort, wohin wir wollen, kann ja die Sonne scheinen.«

»Nicht wahr? Das dachte ich auch. Unser Köfferchen steht gepackt, das Handgepäck liegt bereit. Ein Glück, daß wir unsere Schirme wieder haben. Aber erst frühstücken, einen wahren Riesenhunger habe ich.«

Ihr nächstes Reiseziel war Ischl. Sie hatten Glück. Während der Fahrt hörte der Regen auf, der Nebel zerteilte sich, und blieben auch die Berghäupter verhüllt, so wurden doch die Täler sichtbar. Bei Strobl ließen sie den See zu ihrem Bedauern hinter sich, die Gegend war jedoch so reizvoll, daß sie genug Abwechslung bot.

In Ischl hielten sie sich nicht auf, sie fuhren gleich weiter nach Hallstadt. Der Himmel hellte sich immer mehr auf, der Nebel war verschwunden, es schien, als wolle die Sonne noch ganz herauskommen, als sie die Station Hallstadt erreichten und mit dem Dampfer über den See nach dem alten Markt hinüberfuhren.

Das Landschaftsbild trug einen erhabenen, großartigen Charakter. Der See, von drei Seiten eng von mächtigen Bergen umschlossen, war von tief dunkler Färbung, das Ufer so schmal, daß die Häuser wie Schwalbennester an den Hängen klebten und die vorderen sich bis dicht an den See hinab zogen. Ungefähr in der Mitte des Ortes lag auf hohem Felsgestein die katholische Kirche wie ein Lugaus ins Land.

»Ein gewaltiges Bild,« bemerkte Väterchen.

»Ja, aber es hat etwas Düsteres, Schwermütiges, ich könnte mir denken, daß die Bewohner ernst und verschlossen sind, denn der Charakter der Landschaft drückt den Menschen seinen Stempel auf.«

»Er hat jedenfalls Einfluß. Aber denke dir hellen Sonnenschein, Nell, so muß alles Düstere dem verklärenden Glanze weichen. Und da sind wir.«

Sie verließen den Dampfer und begaben sich nach dem nahe gelegenen Hotel Seeauer, wo sie gerade noch die beiden letzten Zimmer, zwei Stock hoch, bekamen.

Nach schnell eingenommenem Mittagessen gingen sie sofort auf Entdeckungsreisen aus.

»Erst zur Kirche, um einen Überblick zu haben,« riet Väterchen.

»O nein, bitte, laß uns sofort zum Bergwerk hinauf,« rief Nell lebhaft, »in deinem Reiseprogramm steht's ja so angegeben.«

»Freilich, dann los, Tochter, aber tüchtig voran, damit es uns zum Abstieg nicht dunkel wird.«

»Es ist ja Sommer, Väterchen, und es regnet glücklicherweise nicht.«

Munter schritten sie aus und in vielen Windungen auf der schattigen Straße zum Rudolfturm empor, der Wohnung des Bergverwalters, genossen von dort die herrliche Aussicht über See und Gebirge und setzten ihren Weg zu dem tausendeinhundertzwanzig Meter hoch gelegenen Salzberg fort.

»Fahren wir ein, Nell? Hast du Lust?«

»Aber selbstverständlich, Väterchen! Wozu wären wir sonst hier heraufgeklettert?«

Sie traten in das weitläufige Gebäude und mußten eine Art Bergmannskleidung anlegen, dann nahm ein Führer sie in Empfang und schritt ihnen voran in einen dunklen Stollen.

»Greulich, was?« fragte Väterchen neckend.

Nell lachte. »Hochinteressant, ich freu mich so.«

Die Gruben bestehen aus verschiedenen Stollen, die horizontal, einer über den andern in den Berg getrieben sind. Mit seiner Grubenlampe beleuchtete der Führer das glänzende Gestein und machte auf die Salzadern aufmerksam, die in grünlichem oder blaugrünem Ton lagerten. Der Stollen dehnte sich endlos lang aus, bis plötzlich die Wanderung unterbrochen ward. Sie standen vor einer gähnenden Tiefe, in die eine Treppe mit unabsehbar vielen Stufen steil hinunterführte.

»Da hinunter sollen wir?« fragte Nell ein wenig erschrocken.

»Ja freili, aber nit auf der Stiegen, die Herrschaften brächten's nit fertig. Da is die Rutsch.«

Er wies auf eine Bergrolle, bestehend aus glatten, steil sich senkenden Tannenstämmen, an der rechten Seite ein Seil, zum Festhalten. Vater und Tochter mußten einen derben Lederhandschuh anziehen, der Führer setzte sich auf das über der Rutsche angebrachte gerade Brett, hinter ihn Nell, dann Väterchen. Sie mußten das Seil erfassen, Nell packte noch zur Sicherheit in des Mannes Rockkragen, dann rutschten sie langsam vor, und die Fahrt in die Tiefe begann.

In rasender Geschwindigkeit sausten sie siebzig Meter hinab. Nell atmete auf.

»Fein war das, nicht wahr, Väterchen?«

»Na, lieber laß ich mich schon auf andere Art befördern, aber auf Reisen muß man alles mitmachen.«

Sie befanden sich in einer weiten Halle, ein verlassenes Sinkwerk, wie der Führer erklärte. Zur Gewinnung der Sole würde Süßwasser in den weiten Raum gelassen, das vier bis sechs Wochen darin stehen bliebe, die Salzadern auslauge und als Sole mittels Röhren nach Ischl und Ebensee geleitet und dort versotten würde. Nell ließ sich das Verfahren noch etwas näher erläutern, dann ging es weiter durch kürzere und längere Gänge, noch verschiedene Rutschen hinab, immer tiefer in den Berg hinein.

Grabesschweigen umgab die drei Menschen, kein Laut als das leise Niedertröpfeln des Wassers. Der Postdirektor wollte gerade fragen, ob sie denn ganz allein im Bergwerk seien, als der Führer sie anwies, in einen schmalen Seitengang zu treten und stehen zu bleiben. »A Hund kommt,« erklärte er und wies vorwärts.

Ein feuriges Pünktchen war alles, was sie sahen, gleich darauf hörten sie ein leises Geräusch, das schnell näher kam. Auch das Licht ward leuchtender, und jetzt fuhr in großer Geschwindigkeit ein niedriger Karren mit zwei Menschen darauf an ihnen vorüber, um sofort in der Finsternis zu verschwinden. Wie ein Spuk erschien es Nell und sie war ganz froh, als der Führer sie in einen Gang zu einem ähnlichen kleinen Gefährt, Hund genannt, führte und sie beide einsteigen hieß, um das Bergwerk zu verlassen. In immer größerer Schnelligkeit legten sie in dem stark abfallenden Gange in unglaublich kurzer Zeit die lange Strecke bis zum Ausgang zurück, eilten ins Zechenhaus, entledigten sich der Bergmannskleidung und verabschiedeten sich.

»Warte noch einen Augenblick, Väterchen,« bat Nell und fragte, ob es nicht einen andern Weg hinuntergebe als den Fahrweg.

»Freili, den Gangsteig,« lautete die Antwort, »da müssen's halt rechts einigehn ins Holz, da können's nit fehln!«

»Gangsteig –« wiederholte der Postdirektor, »ist das auch was für Damen?«

»Väterchen!« Nell lachte übermütig, »mit dir halt' ich doch allemal Schritt.«

»Sollt's auch meinen,« pflichtete der Mann lächelnd bei, »'s Fräulein wird's schon schaffen und sicher is halt, da hupfn ja die Kinderl nunter.«

»Schönen Dank! Komm, Väterchen.«

»Ich weiß doch nicht recht, Nell. Es ist für einen uns völlig fremden Weg reichlich spät.«

»Da sein's eben so schnell drunten als auf dem Fahrweg, Herr,« versicherte der Mann.

»Aber den kennen wir, und ich halte es für richtiger, dort hinunterzugehen, zumal das Wetter unsicher ist,« beharrte Väterchen.

Schmeichelnd schob die Nell ihren Arm in den seinen. »Aber der Gangsteig ist doch viel interessanter, gerade weil wir ihn nicht kennen,« sagte sie überredend und zog den Vater mit sich fort. »Tu mir's zu Liebe, Väterchen. Du sagst ja selbst, auf der Reise müsse man alles mitnehmen, was sich irgend bietet.«

»Nun denn vorwärts, du Quälgeist.«

»Ach, du bist doch der beste aller Väter!«

»WeiI ich immer nachgebe, Schlingel du.«

Lachend schlugen sie den angegebenen Pfad ein, gingen eine Strecke durch den Wald und kamen dann auf einen leicht abwärts führenden, mit Bohlen belegten Weg.

»Aha, der Gangsteig,« nickte Väterchen, »schön geht sich's gerade nicht auf den nassen, glatten Dingern.«

»Aber sehr allmählich abwärts, und wir können uns ja Zeit lassen,« tröstete die Nell und begann, um Väterchen abzulenken, zu plaudern.

»Und Aussicht gibt's hier auch nicht, wie schön wäre es auf dem andern Wege gewesen,« knurrte Väterchen.

»Wird schon noch kommen, laß uns nur erst aus dem Walde heraus sein.«

»Und da beginnt's zum Überfluß noch zu regnen! Das kann ja heiler werden.«

»Wie gut, daß wir unsere Schirme haben,« rief Nell wohlgemut, spannte den ihren auf, faßte Väterchen unter und hielt das schützende Dach mit über ihn. »Bös, Väterchen?« fragte sie leise, bog sich vor und sah ihn schelmisch lächelnd an. Er lächelte gleichfalls, den frohen, bittenden Augen konnte er nicht widerstehen.

»Es geht sich aber wirklich scheußlich, Tochter, die Dinger sind zu glatt, wie Eis und nun – ja – was haben wir denn hier? Aha – da kommt erst der Gangsteig, den die Kinderl nunterhupfn. Da haben wir den Kladderadatsch.« Väterchen begann den alten Dessauer zu pfeifen, stets ein Zeichen leichter Erregung.

Vor ihnen öffnete sich senkrecht zwischen mächtigen Felsenwänden eine enge Schlucht, in die tosend ein Bach in schäumenden Kaskaden hinunterstürzte. In das Gestein waren Stufen hineingeschlagen, nach den brausenden Wasserfällen zu mit einem Geländer versehen. Da die Stufen den Windungen des Berges folgten, konnte man nur ungefähr zwanzig überblicken, dadurch täuschten die Wanderer sich über die Höhe, in der sie sich befanden.

»Das kurze Stückchen kommen wir schon hinunter, Väterchen, sind wir erst um die Ecke herum, geht's gewiß glatt weiter.«

»Wollen's abwarten. Und nun laß mich voran.«

»Väterchen –«

Aber Väterchen schob seine Einzige energisch beiseite, erfaßte das Geländer und begann langsam die hohen, schlüpfrigen Stufen hinabzusteigen.

»Mach den Schirm zu, Nell, und hab deine Augen auf den Weg,« gebot er.

»Du kannst ganz ruhig sein, Väterchen, ich bin sehr vorsichtig,« versprach sie, konnte aber nicht umhin, dann und wann einen Blick in die sprühenden Kaskaden zu werfen.

An der Biegung blieb Väterchen stehen. Neugierig lugte die Nell um ihn herum. Richtig, es ging so weiter, Stufe um Stufe.

»Da brauchen wir mindestens noch eine halbe Stunde,« sagte Väterchen und deutete in das stürzende Gewässer, »man sieht das Ende dieser Tiefe ja überhaupt nicht.«

»Es ist schaurig schön, Väterchen.«

»Ja, aber gefährlich, zumal bei der Nässe. Ein Ausgleiten kann sichern Tod bringen.«

»Laß mich voran, Väterchen, bitte! Und stütze dich auf mich.«

Väterchen wandte ihr das Gesicht zu. »Fängt mein Kamerad an, bange zu werden? Jetzt heißt es: durch, Tochter.«

»Ja, Väterchen, ja, ich bin es auch nur um dich. Bist du ermüdet?«

»Keineswegs. Und nun vorsichtig, aber fest und sicher Stufe um Stufe weiter. Bei jeder Biegung wird gerastet.«

Schweigend stiegen sie bergab, dazu rieselte der Regen unablässig auf sie nieder und erschwerte den Abstieg. Und noch immer kein Ende, und die Schatten des Abends senkten sich herab, feiner Nebel schwebte heran und begann das graue Gestein und die Bäume auf den Bergen, selbst das schäumende Wasser mit zarten Schleiern zu verhüllen.

Schien es Nell nur so, oder zitterte Väterchen wirklich, als sie wieder bei einer neuen Biegung rasteten? Große Unruhe ergriff sie, ängstlich beobachtete sie beim Weitersteigen jede seiner Bewegungen, bereit, ihn zu halten, falls er unsicher würde.

»Väterchen – ich sehe das Ende – da – da unten ist der Weg,« rief sie nach etwa zehn Minuten in heller Freude.

»Zeit wird's, Tochter, es zieht mächtig in die Knie,« scherzte er.

Und endlich hatten sie die Stufen hinter sich und standen auf ebener Erde.

»Gott sei gedankt,« rief sie aus Herzensgrunde.

»Ja.« Väterchen schwenkte das Wasser aus dem Hut und strich sich über die heiße Stirn. »Gangsteige gehe ich nicht wieder, Nell, damit du's nur weißt.«

»Ach Väterchen, verzeih, ich konnte es ja aber nicht wissen, daß er so anstrengend sei. Wollen wir uns nicht eilen, weiter zu kommen, damit du nicht kalt wirst?«

Sie schritten rüstig aus, um vor völliger Dunkelheit den Wald hinter sich zu haben, die Laternen brannten aber bereits, als sie ihr Hotel erreichten.

»Wie die gebadeten Katzen sehen wir aus,« sagte der Postdirektor und nahm den Mantel ab, »in den Speisesaal mag ich nicht so gehen, bestelle uns etwas Warmes auf mein Zimmer und gib mir dann alles zum Umziehen aus dem Koffer.«

»Sofort, Väterchen, geh nur schon hinauf.«

Nach einer Viertelstunde saßen beide gemütlich bei Rührei und Schinken und heißem Tee. Sorgsam bediente die Nell den Vater und freute sich, daß es ihm schmeckte. Gespannt beobachtete sie ihn, als er seinen Bädeker herauszog und zu lesen begann.

»So, da haben wir's, mein Fräulein Tochter: für rüstige Wanderer der steile Gangsteig empfohlen, Führer ratsam. Ich will doch gleich notieren, daß wir wieder eine Dummheit gemacht haben.«

»Die wieder auf mein Konto kommt! Ich bin nur froh über die Schirme. Die Schuld ist doch getilgt.«

»Es war also der Waldbachstaub, der in drei Güssen hundert Meter hoch herabstürzt, der imposanteste Wasserfall im Salzkammergut. Kannst du morgen um sieben Uhr fertig sein, Nell?«

»O – wollen wir wirklich nach den Gosauseen? Ich wagte nichts zu sagen, weil du doch sicher müde bist und es regnet.«

»Morgen ist das Wetter gut, der Barometer steigt, ich habe vorhin unten nachgesehen, und morgen sind wir wieder frisch, Tochter. Und jetzt lesen wir, was alles wir auf unserer Tour beachten müssen, damit wir nicht wieder Dummheiten machen.«

Beide vertieften sich in den Bädeker und trennten sich dann in froher Erwartung dessen, was der folgende Tag ihnen bringen würde. Ein herrliches Leben war dies doch!

Am nächsten Morgen war Nell schon auf, als das Zimmermädchen weckte. Neugierig lugte sie hinter dem Fenstervorhang ins Freie und stieß einen Freudenruf aus. Heller Himmel und lachender Sonnenschein. Und drüben, mitten im Ort, stürzte vom Felsen herunter köstlich beleuchtet der Schleierfall, dessen Rauschen sie bis in den Traum verfolgt hatte.

Sie waren die ersten am Omnibus, der vom Hotel aus abfuhr. Nach ihnen kamen zwei Herren und dann, Nell traute ihren Augen nicht, der »andere« Vater mit seiner Tochter, der blonden Christa. Er grüßte höflich, es schien, als ob auch er die Mitreisenden wiedererkenne, und Christa schaute ganz vergnügt drein, als sie ihren Platz neben Nell einnahm. Und die Nell hatte den verächtlichen Blick droben auf dem Schafberge völlig vergessen, sie freute sich, die Altersgenossin so unvermutet wiederzutreffen.

»Wir scheinen wieder das gleiche Ziel zu haben,« sagte sie vergnügt.

»Ja, wir wollen zum Gosausee.«

»Wir auch. Sind Sie gestern angekommen?«

»Ja, erst ziemlich spät am Abend. Es regnete ja immerfort, da haben wir uns in Ischl aufgehalten. Ich wäre viel lieber dort geblieben, es ist da viel amüsanter als hier. Am liebsten wäre ich gleich weiter nach Gmunden gefahren, da ist es zu schön. Kennen Sie Gmunden?«

»Nein, wir wollen auch noch hin, heben es uns aber als letztes und schönstes Ziel auf.«

»Auf der Esplanade ist es zu interessant,« plauderte Christa angeregt, »Sie glauben gar nicht, was man dort für Menschen und für entzückende Toiletten sieht.«

»Aber –« Nell sah ganz verblüfft aus – »man geht doch deswegen nicht nach Gmunden?«

»Nein, gewiß nicht, man macht dort ja auch Partien, aber das Schönste bleiben für mich doch immer die Mittags- und Nachmittagskonzerte auf der Esplanade. Dort zu promenieren zwischen all den geputzten Menschen, die Musik zu hören, den See vor sich und die Berge dahinter, das ist wirklich ein Genuß. Wissen Sie,« sie rückte näher an Nell heran, »ich wollte, Papa wäre nicht so erpicht auf Partien, ja, wenn er wenigstens fahren wollte, aber das ewige Wandern ist schrecklich.«

»Ach – das ist doch das Schönste, was es geben kann.«

»Nicht für mich, ich werde so leicht müde, und dann wird Papa ungeduldig und verlangt, daß ich mich zusammennehme. Da hört das Vergnügen auf, und ich bin immer froh, wenn wir wieder zu Hause sind.«

Mitleidig sah Nell in das zarte Gesicht ihrer Nachbarin. »Sie Ärmste, was haben Sie dann von dieser wundervollen Reise? Ich kann abends nicht einschlafen vor Freude auf den nächsten Tag.«

»Sie sehen auch furchtbar frisch und gesund aus,« meinte Christa.

Da hielt der Omnibus, sie waren bei der Gosaumühle angelangt, wo eine kurze Rast gehalten wurde.

»Wollen wir nicht ein Stückchen vorangehen?« schlug Christas Vater, Landgerichtsrat Gerstinger vor, »es wäre schade, in dem überdachten Wagen die nächste Strecke zu fahren!«

Postdirektor Wartenberg und Tochter waren sofort bereit, Christa aber zog ein Schmollmäulchen. »Sehen Sie, so macht Papa es immer. Erst verspricht er mir zu fahren, und dann muß ich doch laufen. Ja, wenn es hier noch was Besonderes zu sehen gäbe, aber nichts als Wald und Berge.«

Nell lachte. »Wir sind doch aber hier, um beides zu genießen, Fräulein Christa.«

»Ja, aber man kann das doch so bequem wie möglich und braucht sich nicht unnötig anzustrengen. Der Genuß hört dann, wenigstens für mich, auf.« Sie schob ihren Arm in den der größeren Gefährtin. »Darf ich?« fragte sie so kindlich lieblich, daß Nell entzückt war.

»Gewiß, gewiß, ich freue mich ja, daß wir uns getroffen haben, und damit Sie auch wissen, mit wem Sie zu tun haben: ich bin die Nell, und Väterchen ist Postdirektor Wartenberg aus Schwerin in Mecklenburg.«

»Die Nell?« wiederholte Christa verwundert, »so können Sie doch unmöglich getauft sein?«

»Nein, im Taufregister führe ich den stolzen Namen Thusnelda nach Väterchens Pflegemutter.«

»Wie entzückend! Thusnelda – wie das klingt! So nach altdeutscher Kraft und Tüchtigkeit. Der Name paßt so recht für Sie. Ach, ich bin so froh, daß wir die Partie zusammen machen!«

Ein Schelmenlächeln flog der Nell um die Lippen. »Neulich auf dem Schafberg fand ich gar keine Gnade vor Ihren Augen,« sagte sie neckend.

Christa ward dunkelrot. »O da – da – taten Sie mir so leid. Warum begnügten Sie sich eigentlich draußen mit Brot und Eiern? Drinnen gab es wirklich vorzügliches Essen.«

»Weil uns das zu teuer war. Unser Budget dürfen wir nicht überschreiten. Väterchen hat lange für die Reise gespart.«

»Ach? So etwas gibt es, daß gebildete Menschen aus den besten Kreisen nicht das Geld haben, um reisen zu können, wie und wann sie wollen?«

Nell brach in ein so lustiges Lachen aus, daß es ansteckend auf Christa wirkte. Ihr Vater sah sich um und nickte ihr zu.

»Ja, so etwas gibt es, wenn gebildete Menschen nämlich kein Vermögen besitzen und Söhne und Tochter studieren lassen,« erwiderte dann die Nell, »wie alt sind Sie, Christelchen?«

Das zierliche Mägdelein richtete sich hoch auf. »Siebzehn Jahre, drei Monate und sieben Tage,« entgegnete sie voller Würde.

»Und ich achtzehneinhalb. Ich habe früh der Eltern Sorgen tragen helfen, das macht selbständig und stählt den Charakter.«

»Meine Damen,« die Herren kamen zurück, und der Landgerichtsrat wies in die Höhe, »ich möchte Sie auf den Gosau-Zwang aufmerksam machen. Sehen Sie nur die starken Pfeiler, der höchste ist dreiundvierzig Meter hoch. Sie tragen die Solenleitung. Diese kühne Überbrückung des Tals hat eine Länge von hundertdreiunddreißig Meter, eine tüchtige Leistung menschlicher Tatkraft.«

Das Tal verengte sich hier, brausend schoß der Gosaubach unter der Überbrückung dahin, knapp daneben schlängelte sich, alle Windungen mitmachend, der Weg durch den scharf ansteigenden Wald. Zu Christas Freude ward der Omnibus erwartet und eingestiegen.

Während die Herren über die Gegend und ihre Reiseziele sprachen, ließ sie sich von Nell über deren Heimat erzählen, dann begann sie flüsternd von sich zu berichten.

»Wir wohnen in Güstrow –«

»O – auch in meinem lieben Mecklenburg? Ich habe es übrigens gleich an ihrer Aussprache gehört, daß wir Landsleute sind.«

»Ich auch. Und Sie gefielen mir neulich auch gleich sehr,« Christa ward rot und hielt zögernd inne.

Nell lachte. »Aber ganz gleichgestellt schien ich Ihnen doch nicht, Christelchen?« forschte sie neckend.

»Seien Sie nicht böse, Nell, ich bin erst immer sehr zurückhaltend.«

»Und ich war so töricht, wirklich einen Augenblick empfindlich zu sein. Sie wohnen also in Güstrow?«

»Ja, mit Papa und Großmama. Meine Mutter ist nämlich schon gestorben, als ich noch ein kleines Kind war. Ich habe nur eine schwache Erinnerung von ihr, weiß nur, daß sie immer sehr blaß und reizend aussah und viel lag, und daß ich immer sehr leise sein mußte. Als sie gestorben war, kam Papas Mutter zu uns und ist auch bei uns geblieben. Sie hat mich sehr lieb und, weil ich Mama in allen Dingen sehr ähnlich sein soll, fürchtet sie immer, mich auch zu verlieren. Sie hütet mich wie ihren Augapfel und verzieht mich gründlich, was Papa gar nicht recht ist. Er behauptet, Großmama verweichliche mich und um mich zu kräftigen und etwas abzuhärten, reist er in fast allen Ferien mit mir.«

»Wie schön! Da müssen Sie Ihrem Papa doch sehr dankbar sein.«

»Ach – na ja – in einer Weise ist es ja ganz nett, wenn ich nur nicht immer so schrecklich müde würde, und dann ist es so allein mit Papa doch auch oft langweilig!«

»Ich könnte mich mit meinem Vater niemals langweilen,« versicherte Nell eifrig.

»Ja, aber mein Papa ist niemals lustig,« erklärte Christa traurig.

»Da müssen Sie es erst recht sein. Warten Sie nur, wenn wir noch einige Tage beisammen bleiben sollten, wollte ich Ihnen schon zum Lustigsein verhelfen.«

Christas Gesichtchen erhellte sich, munter plauderten sie mit einander, bis sie das Endziel ihrer Fahrt erreicht hatten, Gosau-Schmied, siebenhundertsechzig Meter hoch gelegen. Nun hieß es zu Fuß weiterpilgern, vorher aber ward im Wirtshaus eine kleine Erfrischung eingenommen.

»Nun, Töchterchen, den kurzen Spaziergang bis zum See in so angenehmer Gesellschaft läßt du dir jetzt doch gefallen?« fragte der Landgerichtsrat gut gelaunt.

»Gewiß, Papa, ich bin überglücklich, daß wir so reizenden Anschluß gefunden haben,« entgegnete Christa und blickte lächelnd in des Postdirektors freundliche Augen.

Der zog den Hut und verneigte sich tief. »Ich danke ergebenst, mein gnädiges Fräulein, wenn ich das schmeichelhafte Adjektiv in meiner Bescheidenheit auch völlig auf meine Tochter beziehe.«

Christa lachte fröhlich auf und schob ihren Arm in Nells. Dann ging es in langsamer Steigung durch schattigen Wald, mächtige Berghäupter von über zweitausend Meter Höhe vor Augen.

»Ist dies nicht herrlich?« fragte Nell. »Der Weg kann Sie doch unmöglich ermüden, Christa?«

»Nein, es macht mir wirklich Spaß, ich fühle mich heute entschieden wohler. Aber Nell, Sie erzählten mir vorhin, daß Sie Lehrerin werden wollten, ist das Notsache?«

»Daß ich auf eigenen Füßen stehe, ja, den Beruf wählte ich selbst und zwar aus Neigung. Ostern bin ich fertig, wie freue ich mich darauf, dann in Tätigkeit zu kommen. Am liebsten ginge ich gleich an eine Schule, Klassenunterricht ist mir der liebste.«

»Den denke ich mir gerade schrecklich. Wie wollen Sie nur mit so vielen ungezogenen Kindern fertig werden?«

»Das ist nicht so schlimm. Wir Seminaristinnen müssen häufig Probelektionen halten oder Vertretungsstunden geben, da lernt sich das allmählich. Sobald man sich das Vertrauen der Kinder erworben hat und sie merken, daß man ein Herz für sie hat, ist es wirklich nicht schwer. Man muß nur – o –« jäh brach sie ab.

Sie waren um eine Biegung des Weges gekommen, da bot sich ihnen ein Bild von erhabener Naturschönheit. Vor ihnen lag der tiefgrüne Gosausee, umrahmt von hohen Berglehnen, Schutthalden und wildzerrissenen Zacken und Schrofen, den wuchtigen Felsmassen des Donnerkogels, im Hintergründe der gewaltige Dachstein mit seinen beiden blendenden Gosaugletschern, links das hohe Kreuz, rechts der Torstein.

»Wie schön, wie schön,« sagte Nell leise vor sich hin.

»Ja,« pflichtete ihr Christa bei, »dies ist wirklich hübsch. Am meisten aber freut es mich, daß ich nicht da hinauf brauche. Hu – mich friert schon bei dem bloßen Gedanken.«

»Wie gern, wie schrecklich gern möchte ich's, aber das ist nichts mehr für Väterchen. Es ist ja auch schon übergenug, dies Herrliche schauen zu dürfen.«

Nachdenklich blickte Christa der Nell in die glänzenden Augen. »So begeistern wie Sie kann ich mich nicht,« sagte sie, »ich habe schon so viel Schönes gesehen, daß mich nichts mehr hinreißt.«

»Arme kleine Christa,« entgegnete Nell mitleidig.

Christa ward rot. »O – weshalb bedauern Sie mich?«

»Weil Sie nicht den rechten Genuß von dieser herrlichen Reise haben. Ich fasse es nicht, wie einer so viel Schönheit gegenüber kalt und gleichgültig bleiben kann. Solcher Anblick bietet sich Ihnen doch nicht alle Tage! Und wenn Sie noch so oft gereist sind, und zehnmal ähnliche Gegenden gesehen haben, so müßten Sie heute beim elftenmal doch wieder hingerissen sein, sofern Sie nur einigermaßen Anspruch auf Herz und Gemüt erheben.« Mit glühendem Antlitz, aufs tiefste entrüstet stand sie vor der Gefährtin und schleuderte ihr wahre Zornesblitze aus den braunen Augen zu. Einen Augenblick schwieg Christa höchst verblüfft, dann perlte ihr ein silberhelles Lachen über die Lippen.

»Bravo, Nell! Zoll für Zoll die zukünftige Schulvorsteherin. Ich habe wirklich Respekt vor Ihnen und will mich bemühen, mich schleunigst zu begeistern.«

Da mußte Nell in das Lachen einstimmen, ganz zufrieden war sie aber doch nicht. »Das wird Ihnen wenig Nutzen bringen, Begeisterung muß von innen herauskommen, soll sie uns das Herz leicht und froh machen, uns jauchzen lassen aus tiefster Seele, uns über uns selbst hinwegheben.«

Christa verstummte, nachdenklich schritt sie neben Nell her am See entlang, endlich sagte sie: »Ich wollte, ich könnte immer mit Ihnen zusammen sein, Nell, Sie sind so frisch und fröhlich. Im Grunde bin ich das auch, aber bei mir wird das mehr unterdrückt. Papa ist sehr ernst, und Großmama nimmt alles so schwer.«

»Sie haben doch aber gewiß Schulfreundinnen, Christa.«

»Ach, bis auf zwei sind alle von Hause. Und die eine will auch Examen machen und hat niemals Zeit, und aus der andern mache ich mir nicht viel. Es ist wirklich nicht leicht für mich, vergnügt zu sein.«

»Und Sie haben es doch so gut, so unbeschreiblich gut, Christa, daß Sie nur immer lachen und singen müßten.«

»Ja – singen, denken Sie,« Christa ward lebhaft, »ich habe seit dem Winter Gesangstunden, die sind zu nett. Musik mag ich überhaupt schrecklich gern, meine Klavierstunden setze ich auch noch immer fort. Sie sagen alle, ich spiele ganz gut, und Papa und Großmama haben viele Freude daran. Und nächstes Jahr soll ich von Haus, das heißt, wenn Großmama nachgibt. Papa will nämlich, daß ich etwas wirtschaften lerne, aber Großmama fürchtet, daß es mich zu sehr anstrengen möchte. Was meinen Sie, Nell?«

»Natürlich müssen Sie fort. In eine nette Familie, mit andern jungen Mädchen zusammen. Sie sollen mal sehen, wie Sie da lustig werden.«

»Muß man da nicht schrecklich viel tun? Früh aufstehen und putzen und scheuern und all so was?«

»Kleiner Faulpelz,« schalt Nell lachend, und dann hatten sie die Seeklause erreicht, eine einfache Restauration.

»Hier wird es wohl nichts weiter geben als den üblichen Schmarren,« bemerkte der Landgerichtsrat.

»Und dazu die Aussicht, da wird's ein Göttermahl,« erwiderte der Postdirektor, »nun, Tochter, was sagst du?«

»Es ist wunderbar, Väterchen! Hier möchte ich mal einen ganzen Tag sein.«

Während die Herren in das Häuschen traten, ein einfaches Mittagessen zu bestellen, ging Nell dicht an den See hinunter, setzte sich auf einen Stein und nahm in aller Stille das gewaltige Bild in sich auf. Eine Weile ließ Christa sie gewähren, dann schritt sie ihr nach und ließ sich ihr zu Füßen nieder, nahm den Hut ab und lehnte sich gegen sie, ohne daß Nell Notiz davon nahm.

Lange hielt Christa das nicht aus. »Nell«, fragte sie leise, »was denken Sie?«

»Ach!« Nell atmete tief auf. »Ich bin so unbeschreiblich glücklich, Gottes schöne Welt sehen zu dürfen. Es ist eine Freude in mir, eine Seligkeit, die sich nicht in Worte fassen läßt.«

»Nell – mögen Sie nicht meine Freundin sein?«

Nells Augen wanderten von den flimmernden Gletschern zu dem reizenden Mädchen. »Liebes Christelchen, von Herzen gern! Dann müssen wir uns aber du nennen. Und Michaelis besuchst du uns, da wollen wir sehr vergnügt sein.«

»Ach ja! Aber du mußt auch zu uns kommen, Nell, dann fahren wir in die Mecklenburger Schweiz. Die ist wirklich hübsch.«

Fröhlich schmiedeten sie Pläne, bis sie zum Schmarren gerufen wurden. Christa rümpfte zwar das Näschen über das frugale Mahl, da sie nach dem Marsch aber Hunger verspürte, folgte sie der andern Beispiel und ließ es sich schmecken.

Einige Stunden später nahmen sie sich ein Boot und ließen sich alle Vier über den See rudern. Da ward ihnen ein eigenartiges Schauspiel: über dem Dachstein, oberhalb des Gletschers, schneite es und zwar so heftig, daß sie es mit bloßen Augen wahrnehmen konnten. Auf dem See lag goldener Sonnenschein. Alle genossen den herrlichen Anblick und wären gern noch lange geblieben, sie mußten jedoch an die Rückkehr denken und wanderten zum Gosauschmied zurück, wo der Omnibus sie wieder aufnahm.

»Heute habe ich mich doch wacker gehalten, Papa, du hast mich noch nicht einmal gelobt,« erinnerte ihn Christa schmollend.

»Ich glaube, das ist nur Fräulein Wartenbergs Einfluß zuzuschreiben,« entgegnete der Papa lächelnd.

»O nein, Herr Landgerichtsrat,« verteidigte Nell die Freundin, »ich habe gar nicht nötig gehabt, Christa anzuspornen.«

»Ich bin heute nicht ein bißchen müde, Papa,« versicherte Christa, aber während der langen Fahrt gähnte sie doch verstohlen, ward schließlich blaß und still und ging nicht mehr auf Nells Plaudern ein.

»Wir sehen uns doch noch im Speisesaal?« fragte der Landgerichtsrat, als sie, bei Hotel Seeauer angelangt, den Omnibus verließen.

»Ich denke, ja –« der Postdirektor zögerte nach einem Blick in Christas müdes Gesichtchen, »wenn Fräulein Tochter nicht zu angegriffen ist, um noch herunterzukommen?«

»Christa wird sich zusammennehmen,« erklärte der Papa kurz.

Das Mädchen ward rot, eine Falte erschien zwischen ihren Brauen. Bevor sie antworten konnte, fühlte sie Nells warme Hand in der ihren.

»Es ist auch viel netter, wir sind noch ein Stündchen zusammen, nicht wahr Christelchen? Hast du erst etwas genossen, so wird dir sicher besser. Spute dich nur, schnell wieder herunterzukommen.«

Christa nickte nur und verschwand in ihrem Zimmer.

Väterchen und Nell waren die ersten im Saal und belegten einen Tisch für sich und die Reisegefährten.

»Die Kleine scheint nur zart zu sein,« meinte Väterchen teilnehmend.

»Ich glaube ja, das Schlimmste aber ist, daß in ihrer Erziehung das richtige Gleichmaß fehlt. Die Großmutter verweichlicht sie, der Vater verlangt wohl oft reichlich viel. Sie dauert mich, die kleine Christa, die ohne Mutter hat aufwachsen müssen. Da sind sie übrigens.«

Auf den ersten Blick sahen beide, daß es zwischen Vater und Tochter etwas gegeben hatte. Der Papa bezwang sich schnell, war liebenswürdig und gesprächig, das Töchterchen aber saß still und verschüchtert da und trug eine sehr gekränkte Miene zur Schau. Nell versuchte sie auf andere Gedanken zu bringen, aber Christa lag das Weinen näher als das Lachen, und die Lippen zuckten ihr wie einem kleinen Kinde.

Nell, die ein heftiges Wort des Landgerichtsrates befürchtete, sprang auf und sagte: »Väterchen, wir müssen notwendig noch nach Hause schreiben, ich hole schnell Ansichtskarten, bis zum Essen bin ich wieder da. Kommst du mit?« und ohne die Antwort abzuwarten, zog sie Christas Arm durch den ihren, und beide Mädchen verließen den Saal.

Draußen erfolgte denn auch sofort ein Tränenausbruch. »Papa hat – mich so – o gescholten! Rücksichtslos wäre – ich – gewesen – sagt er – weil – weil ich nicht auf – auf deine Unterhaltung eingegangen bin – und – ich war – doch so o – o – müde und – wenn ich müde – bin – dann bin ich müde und – dann können – mich andere ja – in Ruhe lassen.«

Nell zog die heftig Schluchzende so schnell wie möglich auf die Straße. »So. Die Kellnerinnen brauchen nicht teilzunehmen. Und nun beruhige dich erst mal, Christelchen. Dein Papa hat's doch sicher nicht schlimm gemeint. Wenn Väterchen mir sagt: Nell, du hast dich nicht richtig benommen, so bin ich ihm dankbar und suche es besser zu machen.«

»Ja, wenn mir einer das so – o – sagte! Aber Papa wird immer gleich so schrecklich böse.«

»Das kann ich mir gar nicht denken. Dein Papa sieht dich immer an, als wollte er sagen: bist ja mein liebes kleines Schatzkind.«

Christa hob das verweinte Gesicht. »Wirklich?« fragte sie zweifelnd.

»Ganz gewiß. Man sieht es an jedem Blick, wie lieb er dich hat. Mußt nicht so empfindlich sein und nicht gleich jedes Wort übelnehmen. Und jetzt trocknen wir die Tränen – so. Und daß mir heute Abend keine mehr fließen, das bitte ich mir aus, kleine, dumme, liebe Christel du.« Die Nell sah so frisch, so herzig aus und ihr Bemühen war so liebevoll, daß Christa tief aufseufzte und dann lächelte.

Beide bemerkten nicht die jugendliche Männergestalt, die nahe beim Hause unter einem breiten Ahorn stand und sich nicht zu rühren wagte, aus Furcht, die Mädchen in Verlegenheit zu setzen. Erst als beide gegenüber in einem Laden verschwanden, eilte er schnell ins Hotel.

Nach einer ganzen Weile erst kehrten die Mädchen in den Saal zurück, Christa beruhigt und ein schüchternes Lächeln auf den Lippen, als sie sich neben den Vater setzte.

»Ich habe uns auch Karten mitgebracht, Papa, wollen wir zusammen eine an Großmama schreiben?« fragte sie.

»Gewiß, mein kleines Töchterchen!«

Überrascht durch den weichen Ton, sah Christa auf und begegnete einem so warmen Blick, daß sie nicht an der Wahrheit von Nells Ausspruch zweifeln konnte. Ob sie wirklich sein Schatzkind war trotz aller gelegentlichen Strenge? Sie war plötzlich sehr glücklich und aus dem Gefühl heraus schrieb sie an die Großmutter.

»Guten Abend, meine Herrschaften,« rief da eine frische Stimme.

»Herr Forstassessor,« überrascht sprang Nell auf. Mit sichtlicher Freude schüttelten sie sich die Hände.

»Wie ist es möglich, daß Sie uns so schnell einholten?« fragte der Postdirektor und vermittelte die Bekanntschaft.

»Baumgarten –« der Landgerichtsrat horchte auf, »ein guter Freund von mir führt den gleichen Namen, der ist aber kinderlos und nicht weit von Güstrow Forstmeister.«

»Das ist Onkel Franz, Vaters Bruder, Lestritz war das reine Paradies für uns Kinder,« erwiderte Erich Baumgarten und nahm dankend den freien Stuhl am Tische ein.

Die Stimmung war sofort eine sehr heitere. Im Laufe des Gespräches erzählte der junge Mann, wie ihn nach seinem Aufbruch in St. Wolfgang ein solches Verlangen nach einer Hochtour erfaßt habe, daß er in Strobl eiligst den Zug bestiegen, hierher gefahren und mit einem Führer nachts um zwei zum Dachstein aufgebrochen sei.

»O – da waren Sie gewiß oben, als es schneite?« fragte Nell lebhaft.

»Haben Sie das gesehen? Wo waren Sie? Am Gosausee? Herrlich, nicht wahr? Ja, es schneite kurz vor unserm Abstieg.«

»Ist es nicht furchtbar beschwerlich, da hinauf zu klettern?« forschte Christel.

Ein leises Lächeln zuckte ihm um die Lippen. »Für Damen allerdings keine Tour, für mich aber ist die Anspannung aller Kräfte eine wahre Erfrischung für Leib und Seele.«

»Das begreife ich,« rief Nell, »könnte ich doch nur einmal eine richtige Hochtour machen.«

»Sie würden so begeistert sein, gnädiges Fräulein, daß es nicht bei der einen bliebe.«

»Darum fangen wir gar nicht erst an,« entschied Väterchen, »sondern fahren morgen artig mit dem Bähnchen nach Ischl.«

»Kommen Sie doch gleich mit nach Gmunden, Herr Postdirektor,« bat der Landgerichtsrat, »ich habe den Bitten meiner Tochter nachgegeben und mich dafür entschieden.«

»Ach ja, ja, bitte,« schmeichelte Christa, »du stimmst für Gmunden, Nell, nicht wahr?«

»Mir soll es recht sein, schön ist es hier überall. Was meinst du, Väterchen?«

»Deine Wünsche sind mir stets Befehl, Tochter, das solltest du aus Erfahrung wissen.« Väterchens Augen lachten so lustig, daß die Nell rot ward.

»Da bleiben wir Mecklenburger hübsch beisammen,« scherzte der Assessor, »mein Weg führt mich auch nach Gmunden, ich will von dort aus Hochtouren machen. Übrigens,« er wandte sich an Nell, »den Traunstein können Sie auch besteigen, Fräulein Wartenberg, er ist völlig ungefährlich.«

Sie machte ein bedenkliches Gesicht. »Ich fürchte, diesmal wird Väterchen seinen Kopf aufsetzen.«

»Dann bleibst du bei mir,« erklärte Christa, »wenn man nicht auf die Berge hinauffahren kann, ist es schon besser, man sieht sie sich von unten an.«

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