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Lebensgeschichte.

Ich bin kein Dichter, der Ihnen in schönen Worten ein Erlebnis erzählen und in kunstvollem Aufbau Ereignisse zu künstlerischer Gestaltung formen könnte. Ich will Ihnen nur ganz schlicht von meinem Leben berichten. Nach dem, was wir zuletzt gehört haben, kann ich Ihnen, darf ich Ihnen nichts anderes geben. –

Er hob für einen kurzen Augenblick den Kopf und schaute Eva an, die bleich, mit vorgeneigtem Körper ihn anstarrte, als ob er ein Gespenst wäre oder eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Ihre Augen ruhten einen Herzschlag lang ineinander; ein ganz zartes Lächeln ging um seinen Mund, dann legte Eva ihren Kopf in die Hände, daß niemand ihr Gesicht sehen konnte, und der Soldat fuhr mit einem leisen Beben in der Stimme fort:

Ich bin als Kind viel krank gewesen, an einer wunderlichen unheimlichen Krankheit: Krampfanfälle wechselten mit tiefer Schlafsucht; dazwischen war ich wieder ganz gesund, nur um die Mondzeit litt ich an Schlafwandel und erinnere mich mancher schrecklichen, peinlichen oder lächerlichen Lage, in die ich hineingeriet, zu der ich geweckt wurde und in der die Geschwister mich dann verspotteten. Aber ich war ihnen zugleich unheimlich, wenn ich so mit weit offenen glänzenden Augen unter sie trat, rätselhaft im Ausdruck des Entrücktseins, und wunderliche geheimnisvolle Antworten wie aus einer anderen Welt den Fragenden gab. Wenn sie mich dann bei Namen riefen, erlosch der Glanz in den Augen, sie wurden matt, schlossen sich, und ich sank schlafend zu Boden, von wo die Mutter mich dann wieder ins Bett trug, wenn ich durch den Fall nicht gleich zum wachen Bewußtsein geweckt worden war.

Mit fünfzehn Jahren hatte ich den letzten Krankheitsanfall, aber er war besonders heftig. Meine Eltern waren einfache Leute und von einem gewissen Mißtrauen gegen studierte Ärzte erfüllt. Da die Anfälle immer wieder auftraten, schickten sie schließlich zu einer weisen Frau, die im Geruch stand, daß sie Blut besprechen könne, Schmerzen durch Handauflegen vertreiben, und einen Wahrsagergeist zu haben. Als ich sie erblickte, erstaunte ich, denn sie sah gar nicht unheimlich oder hexenhaft aus. Sie war einfach und bescheiden gekleidet, und in ihrem ältlichen Gesicht war der Ausdruck einer verklärten Güte und einer Mütterlichkeit, die alle Leidenden umfaßt; zugleich aber der eines starken Willens, der ohne zu schwanken seinen Weg verfolgt. Ich fühlte mich merkwürdig geborgen, als sie meine Hand nahm und mich anblickte. Die Mutter stand ehrfurchtsvoll im Hintergrund, während die weise Frau sinnend meine Hand in der ihren hielt und sie schweigend betrachtete.«

»Deine Hände greifen nach hohen Dingen«, sagte sie endlich, »aber zuletzt werden sie nur nach einem sich strecken, daß sie es festhalten möchten.« Dann wendete sie die Hände und blickte in ihre Flächen. Ich begann mich schrecklich zu schämen, wie wenn ich nackt vor ihr stünde, und meine Hände zuckten, sich vor ihren Blicken zu schließen.

Da streichelte sie ganz zart darüber hin und plötzlich schämte ich mich nicht mehr von ihr erkannt zu werden, denn ich fühlte ihr Liebe ab.

»Drei Frauen stehen in deinem Leben«, sagte sie sinnend. »Die eine lebt für dich und du verlassest sie, die zweite quält dich, aber du bist für diese Zeitlichkeit an sie gebunden, die dritte stirbt für dich und sie gehört in aller Ewigkeit zu dir.«

»Die für dich lebt«, sagte die Mutter herb, »bin ich, und du wirst mich verlassen.«

»Mutterlos«, erwiderte mild die Frau und legte meine enträtselte Hand auf die Decke zurück. »Laß das Ziel nicht aus den Augen«, warnte sie noch einmal, »alles andere, was du erlebst, muß ihm allein dienen. Du aber sei tapfer und gehe dem Leben nicht aus dem Weg dich zu verkriechen. Dies aber ist deine letzte Krankheit gewesen.«

»Das Ziel?« fragte ich und glühte. »Sage mir's!«

Da schaute sie mich an mit ganz tiefen klaren Augen. »Dein Ziel kenne ich nicht, Gott hat es in dich gelegt; höre auf seine Stimme und auf nichts sonst in der Welt.«

»Und soll er nichts einnehmen?« fragte die Mutter enttäuscht.

»Er soll sich vor aller Betäubung und jedem Rausch hüten und nichts Starkes trinken.«

Damit ging die Frau und merkwürdigerweise habe ich sie nie wieder in meinem Leben gesehen, obgleich ich oft gewünscht habe ihr einmal zu begegnen.

Ihre Prophezeiungen erfüllten sich. Ich verließ meine Mutter um meines brennenden Wissensdurstes willen, der doch im Grunde nie zu stillen war. Meine Begabung und ein gutes Glück trugen mich rasch aufwärts. Aber nie wurde ich satt, nie konnte ich rasten. Ein schönes Mädchen gewann mich lieb und band mich. Ich gedachte der Prophezeiung, aber ich verlachte sie, denn ich liebte zum erstenmal, und ein Zweifel an diesem Gefühl erschien mir wie Gotteslästerung. Später erkannte ich, daß mich mein Schicksal gefunden hatte und ich ihm nicht ausweichen konnte. Da ergab ich mich, und in dem Ergeben lag ein neuer Lebensreichtum. Aber auch des Ziels vergaß ich nicht, obgleich die Gegenwart schwer war und allerlei Lockendes es zu verschleiern drohte.«

»Was nennen Sie Ihr Ziel?« fragte etwas pedantisch der Dichter, der gern klar sehen wollte.

Der Soldat blickte kurz auf. »Es ist kein anderes als das aller Menschen«, sagte er, und eine leise Röte färbte sein Gesicht. »Was verschieden ist, sind nur die Wege und die Grade des Bewußtseins.«

Eva ließ die Arme sinken, und er sah ihr entbranntes Gesicht, aus dem die Augen wie dunkle Flammen ihm entgegenschlugen. Er hob beschwichtigend die Hände, als wolle er sie am Reden verhindern, und zugleich ging wieder dieses zarte Lächeln über sein Gesicht, das ihn viel jünger erscheinen ließ als er war.

»Wie heißen Sie mit Namen?« fragte Gabriele. »Der Held Ihrer Geschichte ist noch namenlos.«

»Er heißt Florian.«

»Was für ein spaßiger altmodischer Name. So heißt ja wohl ein Heiliger?«

»Ja, nur mit dem Unterschied, daß dieser das Feuer löscht, während der Held meiner Geschichte eins anzünden möchte.

Nun kam eine Zeit inneren Stillstands; wie eine Ruhe vor dem Sturm mutet sie mich jetzt an. Ich war überarbeitet; ein großes Werk lag vollendet und abgeschlossen, die Hochflut des Schaffens war verebbt, und der Rückschlag erfolgte mit plötzlichem Kräftezusammenbruch und tiefer Depression. Die Ärzte sprachen mich in ein südliches Klima, meine Frau wünschte mich zu begleiten, so fuhren wir nach Florenz und suchten auf den umgebenden Bergen eine sonnige Wohnung. Am dritten Tag kamen wir nach San Domenico.«

Er machte eine kurze Pause; unter den Hörern entstand eine Bewegung, Eva rührte sich nicht. Atemlos lauschten alle.

»Als wir von dem Brünnlein heraufkamen, das für Böcklins Bild. › Vita somnium breve‹ das Modell gewesen ist, sahen wir tief hinter Zypressen in einem Garten ein weißes Haus. Blühende Glyzinen rankten an den zwei Steinsäulen, die zwei übereinander liegende Balkons trugen. Der Rasen vor dem Haus war bunt von Blumen durchwachsen. Zwei Zypressen standen wie dunkle Wächter am Tor.

Etwas Unerklärliches lockte mich in dieses Haus. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich nirgends Kraft, Freude und Zielsicherheit finden als hier, und obgleich meine Frau keine große Lust hatte, gingen wir doch hinein. Im Erdgeschoß war das Balkonzimmer und zwei Schlafräume zu haben, die ich sofort mietete.

Und nun kommt das Wunderbare. Mit dem Augenblick, da ich dieses Haus betreten hatte, kam eine solche Ruhe, ein solcher Friede über mich, wie wenn ich in eine Heimat gekommen wäre, die lange auf mich gewartet, die sich nach mir gesehnt hätte. Es strömte eine neue Kraft in mich ein, eine unbekannte Liebe segnete mich, verband mich mit der tiefen Wirklichkeit und zeigte mir zugleich fern und hoch wie die Sterne ein Reich für das ich leben und sterben, für das ich arbeiten und bluten möchte. Ich war wie eingehüllt in eine starke und reine Atmosphäre, in der alles Gute und Große keimte, und alles Kleinliche und Niedergehende sich löste. Ich lebte wie in der Gegenwart Gottes.

Über uns wohnte eine einzelne Dame, von der wir wenig merkten. Selten, daß sie einmal mit behutsamen Schritten über unsern Köpfen herging, sie lag den ganzen Tag auf ihrem Balkon. Manchmal hörte ich sie leise vor sich hinsingen wie ein Vogel im Rest, der von Frühling und Liebe träumt. Oder es wehte ein süßer Duft wie von köstlichen Frauenkleidern von oben herunter, oder wir hörten sie ein paar Worte mit der Wirtin oder dem Arzte wechseln. Lauter Belanglosigkeiten und doch erregten sie mich seltsam. Es schien mir, als kämen die geheimnisvollen Kraftströme von ihr, als drängten sie durch alle Ritzen der Decke, als senkten sie sich über mich, wenn ich auf dem Balkon saß, und als speisten sie mich mit einer himmlischen Nahrung, von der die Seele wuchs und stark wurde.

Meine Frau erkundigte sich bei der Wirtin über die Mitbewohnerin des Hauses, ich hörte kaum zu, ich hatte das Gefühl, als wüßte ich selber viel mehr über sie, als irgendein Mensch mir sagen konnte.

Vor allen großen Ereignissen meines Lebens hatte ich ein sicheres Vorgefühl, das sich stets in einem erregten Traumleben äußerte, aus dem ich in der Nacht mit ganz gespaltenem Bewußtsein erwachte. Ich wußte nie, hatte ich das alles wirklich erlebt, oder nur geträumt; und das zog sich über viele Nächte hin. Alle diese Träume waren lebendige Erlebnisse und blieben bei späteren Träumen in der Erinnerung als wirklich gegenwärtig, so daß ich morgens oft kaum zurechtfinden konnte.

Meine nächtlichen Träume gingen alle um diese Frau. Sie führte mich stets an der Hand; ich wußte nicht, war sie mir Mutter, Schwester, Freundin oder Geliebte, denn sie schien mir zeitlos im Alter, und ich glaube, sie war mir von alledem etwas. Ich wußte nur um unsere unverbrüchliche Zusammengehörigkeit. Ich fühlte, daß sie mich liebte, aber sie liebte mich anders, als je ein Mensch mich geliebt hatte. Sie liebte in mir das Bild des, das ich werden sollte) sie stieg durch alle persönlichen Verhüllungen und Zufälligkeiten bis zur Wurzel meines Seins, bis zur Gottverbundenheit. Aus ihrer Liebe kam mir Kraft, denn sie forderte das Beste, Tiefste in mir heraus. Sie hatte mich erkannt, meine schwache Wirklichkeit und meine herrliche Möglichkeit, und sie liebte meine Möglichkeit. Aber sie zog auch meine Wirklichkeit in ihre Liebe mit ein, und der heiße Schwung ihres Willens suchte sie dorthin zu drängen, wo meine Möglichkeit wie ein Urbild gottgeschaffener Herrlichkeit lockte. Sie flößte mir auf fast magische Meise Mut ein zum heroischen Leben, zur Reinheit, Lauterkeit und wahrhaftigem Sein. Und dabei hatte sie eine solche Demut – nicht nur die süße Demut der liebenden Frau, es war in ihr vor allem die Demut vor dem göttlichen Geist.

Wir gingen in meinen Träumen vereint, bald durch die Städte meiner Kindheit, bald durch die verlassenen Räume eines alten Schlosses, durch Wiesen und Wälder, und immer bemühte ich mich, beim Erwachen den Zusammenhang der geträumten Landschaft mit meinem Wesen zu finden; ich fühlte, daß einer bestand, aber sobald ich nach dieser Erkenntnis greifen wollte, wich sie vor mir zurück.

Unterdessen ging die Zeit dahin, und der Tag der Reise kam. Ich hatte nie versucht, die Frau, die mir so nahe war, kennen zu lernen; aber ich wußte, daß die Stunde von selbst kommen würde, und daß sie tiefste Erfüllung bringen sollte. Am Morgen der Abreise war mir wie einem Sterbenden …«

 

Er stockte und konnte vor Bewegung nicht weiter reden.

Da erglühte Magelone von dem lichten Wunder, das sich hier an dem Ort der Verzweiflung vor ihr entfaltete und sie sagte erschauernd: »Da brach Florian im Garten eine weiße Rose, an der noch die Tautropfen hingen und steckte sie an Eddas Türe.«

Die Zuhörer rührten sich nicht, das Herz stockte ihnen, über Gabrieles Gesicht flossen Tränen des Mitfühlens. Edda ließ das Gesicht nicht aus den Händen; Florian hatte stumm den Kopf geneigt und schien auf innere Stimmen zu lauschen.

Plötzlich gab es Lärm und Gepolter von schweren Schuhen draußen. Die Türe zum Gefängnis wurde aufgerissen und einige Soldaten brachen herein. Eine Stimme von oben rief: »Nimm fünf, aber von den feinsten, die andern laß frei.«

Die Gefangenen wichen unwillkürlich zurück, drängten in die Winkel, nur Eva und Florian blieben auf ihren Plätzen und blickten sich an, als wollten sie ihre Seelen ganz mit dem geliebten Bild des andern füllen.

Den ersten, den sie packten war Florian. Eva blickten sie nur an, und ihre Schönheit bezwang sie. »Dich lassen wir leben«, sagte täppisch tröstend der Soldat; sie hörte ihn gar nicht. Der Priester trat von selber vor. Kaum erblickten ihn die Henkersknechte, als sie johlten: »Ein Pfaff! der muß dabei sein, wir brauchen keine Pfaffen mehr!«

»Und da hinten ist ein ganz Vornehmer! Einer zerrte die hohe Gestalt des Grafen mit dem feierlichen schwarzen Gehrock hervor, ein zweiter packte den Musiker im Frack und der welken weißen Blume im Knopfloch. Vergebens wies er seinen Freipaß vor, man lachte ihn nur aus. Er ließ seine geliebte Geige nicht aus den Händen, als müsse er sich daran klammern als an seine Rettung. Sein junges Gesicht war ganz erstarrt von Verständnislosigkeit mit diesem Schicksal, und er flehte verzweifelt um sein Leben.

»Fassen Sie sich, mein Kind«, sagte die Mutter voll stiller Würde. Sie ergriff seine Hand und trat zur Gruppe derer, die dem Tod geweiht waren. Die Soldaten sprachen untereinander.

»Das wären fünf. Wer bleibt denn noch?« Sie spähten ins Dämmer. »Ach, ein paar hübsche junge Weiber und einer, der ein halbes ist, aber nicht hübsch. Den Doktor kenne ich, der hat mir mein Kind gesund gemacht, und der Jude sieht aus, als könnte ihn die neue Zeit brauchen.«

»Dann wären wir fertig. Also marsch!« sagte ein zerlumpter Kerl und spannte den Hahn seines Revolvers. Da fühlte er plötzlich Evas Hand auf seinem Arm. »Laß diesen Soldaten gehn und nimm mich!«

Er sah sie verwundert an; ihre Augen lagen zwingend in den seinen, so daß er den Blick nicht ertrug. Das ärgerte ihn. »Meinetweg«, sagte er wegwerfend. »Ist's dein Liebster?«

Sie antwortete nicht, sondern löste eine goldne Kette von ihrem Hals. »Schenke mir noch eine einzige Minute.« Unschlüssig zögerte der Bursche und ließ langsam die Kette in seine Tasche gleiten. Die Ausgewählten stiegen schon die Treppe empor.

Eva trat zu Florian, nahm seine beiden Hände, beugte sich tief über sie und legte ihr Gesicht hinein. Er hielt still und rührte sich nicht. Endlich sagte er leise: »Edda, nimmermehr sollst du für mich sterben!«

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Sie blickte auf und ihre Lippen begegneten sich. »Nimm mir nicht den Zweck meines Lebens – mich dir zu geben. Gott sei Dank, daß er mir die Tat der Liebe geschenkt hat, nach der ich dürstete«, sagte sie glühend und ihre Augen leuchteten in unirdischem Lichte. Da riß die Hand des Knechtes sie aus seinen Armen.

»Nein Edda, du nicht, laß mich!« rief er und seine Stimme zerbrach ihm in der Brust; er streckte die Arme nach ihr aus, um ihr nachzueilen. »Wir wollen zusammen sterben!«

»Vergiß nicht das Ziel!« hörte er noch aus der Ferne, dann fiel die Türe zu.

Die Zurückgebliebenen hielten Florian fest, der schwer atmend und totenbleich unter ihnen stand; zitternde Finger griffen nach seinen Händen und hielten sie in brüderlicher Verbundenheit umklammert. Irgendeiner kniete nieder und zog die andern mit. Ein erster Sonnenstrahl brach von Osten her durch die Scheiben und legte sich golden wie eine segnende Hand auf ihre Häupter.

In ihr Beten fielen fünf Schüsse.

 


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