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In dem Pfarrhaus zu Orla spukte es, das wußte jedes Kind. Meistens äußerte der Spuk sich sehr lausbubenhaft: Die Blechdeckel in der Küche wurden zusammengeschlagen, wie wenn Kinder Janitscharenmusik machen, in den Wasserkübeln wurde geplantscht, daß das Wasser in der Küche herumfloß, alle Türen wurden hintereinander geöffnet und zugeschlagen, wie wenn eine wilde Jagd durch die Zimmerflucht tobte. Dann konnte es wieder wochenlang still sein.
Das Pfarrhaus zu Orla hatte früher zu einem Kloster gehört; wenn man zur Haustüre hereinkam, empfing den Besucher statt des gewohnten ländlichen Pfarrhausflurs mit den gekalkten Wänden und der schmalen steilen Stiege ein mächtiges Kreuzgewölbe und eine breite Treppe aus Eichenholz mit kunstvoll geschnitztem Geländer, die zu den Wohnräumen emporführte. In dem tiefen Keller fand sich noch ein unterirdischer Gang, der halb verschüttet war, und vor dessen Eingang der Pfarrer sein volles Mostfaß gestellt hatte, damit er vor unerwünschten Gästen sicher sei.
Dem Pfarrer machte der Spuk Sorge. Nicht daß er sich selber davor fürchtete; er war nicht so phantasievoll, daß das Grauen eine leichte Beute in ihm gefunden hätte. Er war ein guter vernünftiger Mann, hilfsbereit und praktisch, mit dem Aussehn eines phlegmatischen Landwirts, und seine Bauern hatten etwas an seinem klaren Verstand und ungetrübten Blick. Wenn der Spuk sein Wesen trieb, räumte er das Feld, ging in den Garten und grub Land um, oder besuchte seine Kranken, und wenn es nachts unten im Kreuzgewölbe stöhnte oder leise klagend mit schlurrenden Schritten über den schmalen langen Gang schlich, dann zog er sich die Decken über die Ohren, murmelte für alle Fälle sein »Alle guten Geister loben Gott den Herrn« und schlief weiter.
Aber Andreas Machold wollte heiraten und seine Braut war ein zartes verträumtes Wesen, mit dunkeln sehnsuchtsvollen Augen, die von langen Wimpernbeschattet waren. Selten noch hatte er sie lächeln sehen. Der feine Kopf mit der schweren Haarkrone war immer etwas geneigt, wie eine Blume, die vom Tau belastet ist, und so machte sie den Eindruck, als sei das Leben ihr schwer, oder als lausche sie auf Stimmen, die niemand sonst vernahm, als sähen ihre traurigen Augen in Tiefen des Leids, die andern verschlossen waren. Sie ging auch nicht mit der törichten Seligkeit junger Bräute in die Ehe, wenn sie auch ihrem Verlobten herzlich gut war. Jedenfalls dachte der Pfarrer, daß ein fröhlicheres Heim als das düstere Pfarrhaus zu Orla ihr besser täte.
Aber nun war es einmal so und mußte gut sein, und so führte er Irene heim. Er schmückte die Zimmer mit frühen Rosen, und die Bauern machten Tannengirlanden um die Haustüre; der Weißbinder malte mit schnörkeligen Buchstaben. »Willkommen junge Frau« auf eine weiße Tafel, und die Schulmädchen flochten einen bunten Blumenkranz darum, der Schullehrer übte mit seinen Kindern einen tröstlichen Psalm, und die Weiber schickten Butter und Eier, Speck und Mehl in die Speisekammer zu einem materielleren Gruß als Lieder, Blumen und Tannengirlanden.
Als die junge Frau ins Haus einzog, hörte man lange nichts von dem Spuk. Es war, als ob ihre lichte Gestalt, die mit Vorliebe in weißen Kleidern ging, ihn verscheuchte, als ob die leichten Tritte, die nun treppauf und -ab liefen, ihn bannten. Der Pfarrer atmete erleichtert auf und erzählte scherzend seinem Weib von seinen Sorgen, die er sich gemacht hatte. Sie blickte ernsthaft auf. »Aber er ist doch noch da, ich fühle ihn ja!«
»Du fühlst ihn?« rief erschrocken der Pfarrer. »Wie ist denn das möglich? Bildest du dir das nicht ein? Warum hast du gar nichts gesagt?«
Sie sah ihn an mit den dunkel umschatteten Augen, und der Pfarrer verstand, daß ihre Augen mehr sahen als die seinen, sie waren so leidvoll.
»Ich fühle, daß etwas da ist um mich, daß jemand etwas von mir will, was, weiß ich nicht und ich wollte dich nicht damit erschrecken. Ich fürchte mich nicht«, setzte sie beruhigend hinzu, als Andreas auffuhr, »er will mir nichts Böses tun?
Eines Tages zeigte Andreas seiner Frau in der Sakristei die alten Bilder seiner Vorgänger, würdige Herren in schwarzen Röcken, weißen Halskrausen und gepuderten Perücken auf den mächtigen Häuptern. Einer unter ihnen sah ganz anders aus. Er hatte einen schmalen Kopf, und das schwarze Haar, das in einer Schneppe in die Stirne wuchs, war glatt zurückgestrichen. Über der Rasenwurzel berührten sich die Augenbrauen und gaben dem Gesicht einen schicksalhaften Ausdruck, obgleich der Mund rot und lebensvoll war und so beweglich, daß man fast das geistreiche Scherzwort ablesen konnte, das er zu formen im Begriff stand.
Vor diesem Bild war Irene wie festgewurzelt. »Mir ist, als müßte ich ihn kennen«, sagte sie endlich befangen zu Andreas. »Wer ist's?« »Das ist Lenhard Sartorius. Er ist nur Helfer gewesen, deshalb ist er auch noch ohne Perückenwürde gemalt. Er starb früh.«
»An was starb er?«
Andreas wunderte sich über das beharrliche Interesse seiner Frau an diesem Bild. »Ich weiß es nicht genau, aber ich will nachsehen, hier im Schrank sind die alten Kirchenbücher.« Er holte dienstbereit einen mächtigen Schweinslederband heraus aus dem Jahr 1739 und blätterte in den vergilbten Seiten, die von einer verblaßten sauberen Handschrift bedeckt waren.
»Hier steht es: Lenhard Sartorius ist vier Jahre Helfer bei Diakonus Ehrenreich in Orla gewesen und im achtundzwanzigsten Jahr seines Lebens durch einen Unglücksfall im Gebirg verstorben, indem er bei einem nächtlichen Gang von einem Sterbenden nach Hause im Dunkel in den Steinbruch stürzte. Gott gebe ihm die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihm! Er ist ein tüchtiger Prediger gewesen, aber er hat ein leidenschaftlich Herz gehabt, so ihm viel Leid bereitet hat.«
Andreas klappte das Buch zu, daß ein Staubwölkchen aufstieg, und legte es an seinen Ort. Irene stand wie gebannt vor dem Bild.
»Man sieht's ihm an, das leidenschaftliche Herz und daß er Leid getragen – vielleicht auch Schuld«, sagte sie gedankenvoll, und sie fühlte wie ihr Herz weich wurde und sich dem Fremden in erbarmender Liebe zuneigte. »Armes Kind«, sagte sie leise und strich über seine traurigen Augen.
»Manche sagen, daß er der sei, der im Pfarrhaus spuke, vielleicht weil er so plötzlich und jung gestorben ist«, meinte der Pfarrer, »da konnte man nicht fassen, daß er ausgelöscht sein sollte, so lebensvoll wie er war.«
In dieser Nacht hörte Irene zum erstenmal den Spuk. Sie lag ganz still in ihrem Bett, neben ihr atmete ruhig der Gatte. Durch das geöffnete Fenster blaute eine sternenvolle Sommernacht, und die Eulen schrien in den hohen Baumwipfeln der alten Tannen. Es war alles traut und schön, und der Duft von Reseden und Levkojen stieg aus dem Garten und wehte mit der Nachtluft in das weiße Schlafzimmer. Da hörte sie eine zitternde Klage durch das Haus hallen. Sie war gar nicht laut, ober sie drang in ihrem schneidenden Schmerz durch alle Wände und Türen, durchschlug alles Körperliche und senkte sich dem Lauscher bis ins tiefste Herz.
»Lenhard«, sagte sie leise, »armer Bruder, warum mußt du wandern?«
Noch einmal antwortete die Klage, lauter, eindringlicher, dann wurde es still. Aber Irene lag lange wach; sie hatte die Hände über der Brust gekreuzt; der Klageruf klang in ihrem Herzen nach. Es war ihr, als habe er ihr gegolten, als sei sie es, die auf der ganzen Erde dieser ruhelosen Seele Hilfe bringen könnte. Aber wie? So, wie Frauen allein helfen können? Bei denen jegliche Art Liebe sich äußert in Hingebung? Half nicht so das Weib dem Mann, die Schwester dem Bruder, die Mutter dem Kind? Was aber war Hingabe an ein Phantom? Liebe zu einem namenlosen Spuk, dessen einzige greifbare Verkörperung ein altes Gemälde war? Das Bild Lenhards in ihrem Innern wurde lebendig. Es war so tief in ihre Seele eingegraben, daß kein Zug ihr fehlte; und es lebte. Der übermütige Mund redete, die dunkeln Augen bewegten sich und blickten sie an, die schmalen sehnigen Männerhände baten.
»Was kann ich für dich hm?« fragte sie traurig. »Alle Wege, auf denen Liebe gehen kann, sind mir verschlossen, ich kann nur mit dir weinen und trauern.«
»Und für mich beten«, antwortete das Bild, und der volle Mund verlor alles übermütige, Spöttische und zitterte in leidenschaftlichem Schmerz.
»Ja, vielleicht kann ich das«, sagte Irene still und flocht die Hände ineinander.
Über dem Beten schlief sie ein, aber sie verlor keinen Augenblick das Bewußtsein, daß sie vor Gott war und sich für Lenhard gab. Als sie am Morgen von den forschenden, beobachtenden Augen ihres Mannes erwachte, lag sie immer noch mit gefalteten Händen wie sie eingeschlafen war.
»Was träumte mein Kind?« fragte Andreas. »Eine senkrechte Falte stand inbrünstig auf deiner Stirne und deine Lippen bewegten sich.«
»Ich betete für eine arme Seele.«
»Im Traum?«
»Ich denke wohl, denn ich schlief.« Dann kehrte sie ihr Gesicht zur Wand und verstummte. Andreas wagte nicht sie weiter zu stören, denn er hatte Ehrfurcht vor ihrem Wesen und forderte nicht schamloses Einssein der Seelen, wenn nicht mit Naturnotwendigkeit ihre Grenzen zerbrachen und sie ineinander flossen.
Lenhard Sartorius, der irrende ruhelose Bruder, beschäftigte in diesen Wochen Irene mehr als der lebendige Gatte. Sie empfand dies Denken an ihn wie einen Zwang, dem sie sich nicht entziehen konnte, es ging wie eine Begleitmusik neben ihrem wachen Leben her, und diese Begleitmusik ward oft so stark, daß sie das wirkliche Leben überhörte und wie im Traume lebte. Oft richtete sie theologische Fragen an ihren Gatten über dunkle mittelalterliche Dogmatik, mystische Phänomene, jenseitiges Leben, bis Andreas ihre Hände nahm und sie ernst und liebreich ansah. »Meint mein Kind, daß ich die Geheimnisse des Weltalls ergründet habe? Ach ich wäre froh, wenn ich nur die Geheimnisse einer einzigen Menschenseele kennte!« Und er seufzte und wandte sich ab.
An einem Sonntag war Irene allein zu Hause, ihr Mann predigte, das Mädchen war in der Kirche. Ein leichtes Unwohlsein hatte sie zu Hause zurückgehalten. Es war ein schöner reicher Herbsttag. Durch die geöffneten Fenster drang der Dreiklang des alten Geläuts, rote Weinreben spielten im Wind, der Garten war bunt von Astern und Georginen und im Hause roch es nach sonnenwarmen aromatischen Äpfeln.
Irene war mit einer lieben Arbeit beschäftigt. Sie ordnete kleine Jäckchen und Hemdchen, band Stöße von Windeln mit blauen Bändern zusammen, nähte hier ein losgerissenes Stückchen Spitze fest, dort ein Knöpfchen. Das alte Kinderzeug, mit liebevollen kunstreichen Stickereien versehen, stammte noch aus ihrer eigenen Kinderzeit, und die Mutter hatte es ihr geschickt. Nun ging Stück für Stück der vergilbten feinen Leinwand durch ihre Hände; sie strich liebkosend über die weiche Wolle und bewunderte voll Entzücken das spinnwebfeine Gestrick und eigenartige Muster der winzigen Häubchen.
Sie lebte ganz in diesem süßen Frauentun und kein Gedanke stahl sich fort von dem, was so heilig und so hold in ihrem Innern zum Leben erwacht war. Ein Lächeln blühte um ihren ernsten Mund auf, und ihre sehnsuchtsvollen Augen bekamen einen warmen gesättigten Schein.
Da schreckte ein Ton sie auf, der ihr das Blut stocken ließ.
»Ach nein«, sagte sie abwehrend, »nicht, laß mich doch einmal in dieser Stunde glücklich sein!«
Aber als ob diese Bitte den Klagenden in tiefste Verzweiflung gestürzt hätte, so quoll nun aus allen Ecken und Winkeln sein Stöhnen, Jammern, Schreien. Zum erstenmal grauste es der jungen Frau. Die Tiefe des Schmerzes und die Beharrlichkeit, mit der er sich an sie hing und nicht scheuchen ließ, erschreckte sie. Sie warf das Strümpfchen hin, das sie gerade in Händen hielt, und floh aus dem Zimmer. Aber die Klagen flohen mit, umringten sie, drangen in ihren Körper. Sie jagte durch alle Räume, die Treppe hinunter, durch das Kreuzgewölbe. Schauerlich klang es von den Wänden, daß ihr Fuß sich nicht weiter zu rühren wagte.
»Was kann ich denn tun um dir zu helfen!« rief sie endlich verzweifelt. »Was ist meine Liebe gegen Gottes Liebe und mein schwaches Flehn gegen seine Gnade?«
Da ward eine tiefe Stille, so tief, daß sie das angstvolle Klopfen ihres Herzens hörte, und in die Stille hinein spürte sie zum erstenmal das Leben ihres Kindes. Da schwand alles Grauen. Tränen des Glücks stürzten wie eine warme Flut aus ihren Augen, sie riß die Haustüre auf, ließ den Spuk hinter sich und trat in die Sonne hinaus.
Da blühten die bunten Herbstblumen, von den Bäumen fielen überreife Früchte zu ihren Füßen ins Gras, als wollten sie sich ihr anbieten, und von dem alten grauen Kirchturm setzte das Vaterunserläuten ein und das Summen der Orgel. Da ging sie ihrem Mann entgegen durch den blühenden Herbstgarten, und als er zum Gitterpförtchen eintrat, stand sie mit aufgehobenen Armen vor ihm und küßte ihn. Er freute sich aber und war zugleich bang, denn seines Weibes Angesicht war sehr bleich. Da sah er in ihre Augen, und sie blickten warm im Reichtum aufrauschender Liebe, seligen Mutterglücks und sicherer Geborgenheit.
Im Bewußtsein aber trug Irene den Lenhard Sartorius auch fürderhin in jeder Stunde. Sein Bild war ihr stets lebendig, obgleich sie die Sakristei mied, aus der seine Augen ihr überallhin nachblickten. Er wurde ihr wie ein leibliches Kind, um dessen Seele sie sich sorgte, für das sie betete, das sie mit ihrem Blute nährte, und dem sie sich geheimnisvoll verbunden fühlte. Er schreckte sie nicht mehr mit seinen Klagen, er war nur da und warf seine Traurigkeit über sie wie einen schwarzen Schleier. Aber ihr schien sie milder geworden, hoffnungsvoller; und oft redete sie nachts mit ihm wie eine Mutter, die dem irrenden verzweifelnden Sohn den Weg zeigt und ihm Mut macht durch ihre tröstende Liebe.
Es kam eine kalte Nacht im März. Es war noch einmal Schnee gefallen, und er leuchtete im Mondschein von den Bäumen vor dem Fenster, daß der Raum ganz hell war. Da wachte Irene auf und hatte das Gefühl als ob jemand sie geweckt hätte. Sie richtete sich im Bett auf und blickte nach ihrem Gatten, der ruhig schlief. Sie war aber so wachen Geistes, daß sie nicht gleich wieder einschlafen konnte, und so gingen ihre Gedanken altgewohnte Wege zu Lenhard, den sie nahe fühlte, und zu dem Kinde, das sie in diesen Tagen mit zitterndem Glück erwartete, und wunderlich flossen die Gedanken an diese beiden in ihrem Herzen zusammen und bildeten ein geheimnisvolles Geflecht, das sie nicht auseinander zu lösen wagte.
Da wehte plötzlich durch ihren Körper ein schneidender Schmerz, der anschwoll und dann langsam wieder abnahm, daß sie sich krümmte. Als er verebbt war, sah sie eine dunkle Gestalt gegen das Fenster stehn. Eigentlich erblickte sie nur den Kopf, der Leib war in einen schwarzen faltigen Mantel gehüllt, und langsam schwebte die Erscheinung bis zum Fußende ihres Bettes. Dort blieb sie stehn und richtete die Augen auf Irene.
»Lenhard Sartorius«, sagte die junge Frau matt und erschöpft von dem Schmerzanfall.
»Ja, ich komme dir zu danken, daß du mir geholfen hast.«
»Habe ich dir geholfen, armer Bruder?«
»Ja, du lehrtest mich, daß Gottes Liebe größer ist als Menschenliebe und seine Gnade größer als meine Schuld. An deiner Liebe lernte ich Gottes Liebe glauben.«
»Ach wie schön«, sagte Irene.
»Ich gehe nun und du wirst mich nicht mehr sehn.«
»So segne mein Kind«, bat Irene und ein wunderliches Gemisch von Freude und Trauer erschütterte ihr Herz.
Lenhard neigte das Haupt und hob die eine Hand, die wie losgelöst in ihrer Blässe in der Luft schwebte, dann zerging langsam seine Gestalt. Da schüttelte ein zweiter Schmerzanfall Irenes Körper, daß ihr Stöhnen den Gatten weckte.
Als der Tag auf der Höhe stand, gab Irene einem Sohn das Leben. In ruhiger Zuversicht hatte sie die Schmerzen ertragen, und ihr liebes sanftes Lächeln tröstete immer wieder den geängsteten Gatten.
Nun hielt sie ihr Kind im Arm und Andreas neigte sich über das winzige Gesichtchen. Sein Auge forschte in den unentwickelten Zügen, und er sah, wie das schwarze Haar in einer Schneppe in die Stirne wuchs, und wie die dunklen Augenbrauen gleich feinen Pinselstrichen über der Nasenwurzel zusammenliefen. Nun schlug das Kind die großen Augen auf und blickte den Vater an, dumpf und unbewußt, aber der Mann empfand es wie eine stumme Bitte.
»Weißt du, wem unser Kindlein gleicht?« fragte er betroffen.
»Ja«, sagte Irene, und eine jähe Röte flog über ihr Gesicht. »Zürnst du mir darum?«
»Wie könnte ich zürnen über geheime Zusammenhänge, die ich nur erfühlen, nicht ertasten kann!« sagte er herzlich und küßte sie auf die Stirne. Sie schloß die Augen und legte die Wange in seine warme starke Hand.
»Ich bin froh, daß alles vorüber ist. Es war so schwer – das andere meine ich.«
»Unter Kindlein aber soll glücklicher werden, als der war, dem es gleicht«, sagte Andreas fröhlich. »Und wenn es auch den glühenden Geist und den lebensdurstigen Sinn von Lenhard Sartorius haben sollte – ich fürchte nichts für ihn. Gott liebt nicht die beruhigten Gemüter und die schicksalslosen Herzen.«
Irene küßte leise seine Hand. »Wollen wir unser Kind Lenhard nennen?« Sie sah bittend zu ihm auf.
Andreas blickte auf das zarte Gesicht seiner Frau, aus dem alle Traurigkeit weggewischt war. »Ja, das wollen wir«, sagte er freudig.
»Ein Materialist würde sagen, daß die junge Frau hysterisch gewesen sei«, meinte Ottokar, der Arzt, »und daß die Ähnlichkeit mit dem Bilde mit dem bekannten Versehen schwangerer Frauen zusammenhängt.«
»Ist das auch Ihre Meinung?« fragte der Psychiater.
Der Arzt zögerte. »Offen gestanden ist meine Erfahrung und meine Beschäftigung mit derartigen Sachen zu gering gewesen, als daß ich urteilen könnte. Ich bin Chirurg und als solcher auf die realsten Zusammenhänge angewiesen. Das Messer des Arztes wird niemals das Seelische und das Irrationale bloßlegen?
»Es zeugt für Ihre Intelligenz und für Ihren Charakter, lieber Kollege, daß Sie es nun auf Grund dieser Tatsache nicht leugnen«, lobte der Psychiater.
»Im Gegenteil, ich bin sogar davon überzeugt, aber ich bin zu vorsichtig um in diesem konkreten Fall zu urteilen.«
»Eigentlich ist es schrecklich zu denken, daß fremde Gewalten so in das Leben von Mutter und Kind hineingreifen können«, meinte Gabriele schaudernd.
»Was heißt fremde Gewalt?« fragte der Dichter. » Wissen wir denn, was in Wirklichkeit zu uns gehört, und was aus Vergangenheit und Zukunft mit unserer Gegenwart verbunden ist.«
»Haben Sie den Spuk selbst erlebt?« fragte der Graf ungläubig.
»Zum Teil, ja, zum Teil beruht die Erzählung auf Bericht meiner Patientin und ihres Mannes, durchaus glaubwürdiger Menschen.«
Der Graf zuckte die Achsel. »Herr Professor, da kann ich nicht mit, entschuldigen Sie.«
Der Jude lächelte fein. »Das wird Ihnen noch manchmal geschehen. Ehrlichkeit und Ehrfurcht wird Ihnen ein sicherer Führer fein.«
Der Graf errötete ärgerlich; er fühlte sich geschulmeistert. »Die Ehrlichkeit, ja«, sagte er schroff.
» Und die Ehrfurcht«, betonte der Psychiater.
»Man könnte es auch noch simpler Bescheidenheit nennen«, sagte die alte Frau ruhig.
»Das ist keine Eigenschaft, die auf gräflichem Boden wächst«, spottete der Student.
Der Graf blickte ihn hochmütig an und begann seine Nägel zu polieren. Magelone lachte und tauschte mit dem Arzt einen lustigen Blick, der diesen entzückte, denn er sah daraus, daß das Mädchen für kurze Zeit die Schrecken seiner Lage vergessen hatte. Um sie nicht erst zum Bewußtsein kommen zu lassen, bot er sich zur nächsten Erzählung an.
»So ganz in die Materie verflochten und untergegangen wie Sie denken bin ich auch nicht. Das Leben der Seele, losgelöst vom Leib, scheint mir wissenschaftlich ziemlich einwandfrei bewiesen. Das soll Ihnen meine Erzählung bezeugen. Ich nenne sie: