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Die Vermählungsfestlichkeiten hatten einen traurigen Abschluß. Irma wurde krank. Die mannigfachen Aufregungen und Gemütsbewegungen der letzten Zeit waren zu viel gewesen für dieses Kind, das Kummer und Enttäuschungen bisher kaum dem Namen nach gekannt hatte. Am Tage nach dem Fest bei Onkel Heinz lag sie in heftigem Fieber. Der Doktor wurde geholt, er erklärte, daß kein Grund zur Besorgnis vorläge, und daß nur äußerste Ruhe und Schonung nötig sei, da die Nerven des jungen Mädchens stark überreizt wären. Irma wollte nur von ihrer Mutter gepflegt werden; kam Ilse oder jemand von den andern ins Krankenzimmer, so wurde sie unruhig; wie bitter weh das der alten Dame auch tat, sie sah ein, daß sie sich fügen müsse, da die Gesundheit des geliebten Kindes auf dem Spiele stand. Bei Müllers herrschte die Ansicht, daß Hans Reichers plötzliche Abreise mit Irmas Krankheit in Beziehung stände; Fragen zu stellen wagte aber niemand, nur Agnes machte schüchtern eine zarte Anspielung, erhielt aber von Frau Gontrau kurz und bündig die Antwort, daß nichts zu berichten sei.

Das neu vermählte Paar war abgereist, und um Irma die Aufregung des Abschieds zu ersparen, hatte Maud ihr brieflich Lebewohl gesagt. Gustav und Flora kehrten heim, und Ruth beschloß mit ihrem Manne, daß er nach München vorausfahren solle, während sie auf die dringende Bitte ihres Töchterchens noch bleiben wollte, bis das Kind so weit hergestellt war, daß sie es ohne Sorge verlassen konnte. Die vollkommene Ruhe nach den geräuschvollen Festtagen, der stille Friede bei Großmama und die treue Pflege ihrer Mutter taten Irma gut; die furchtbare Reizbarkeit ließ nach, und sie lehnte sich auch bald nicht mehr dagegen auf, wenn Ilse bei ihr saß oder Ruth in der Pflege ablöste. Trotzdem fühlte die Großmutter, wie anders das Benehmen ihrer Enkelin geworden, und daß die innige Herzlichkeit von früher einer kühlen Zurückhaltung gewichen war, die ihr sehr weh tat. Sie ließ sich das freilich nicht merken, widersetzte sich auch nicht, als die nun fast genesene Irma den Wunsch aussprach, auf unbestimmte Zeit mit ihrer Mutter nach München zu gehen. Im Gegenteil, sie stellte Ruth vor, daß es nach dem Vorfall mit Hochstein für das junge Mädchen gut sein werde, in eine ganz andere Umgebung zu kommen; und als ihre Enkelin abreiste und Großmutters warme, innige Umarmung mit einem kühlen Kuß erwiderte, verstand die alte Frau sich zu beherrschen und schaute das Kind nur mit einem langen, schmerzlichen Blick an. –

Einige Tage zuvor waren Müllers mit Agnes und Karl auf Reisen gegangen, um die Ferien des Knaben in Holland und Belgien zu verbringen. Daher fühlte Großmutter Ilse sich sehr einsam, wenn sie so ganz allein in ihrem totenstillen Wohnzimmer saß. Traurig starrte sie vor sich hin und bei dem Gedanken, daß die Enkelin, die sie mit ganzer Seele liebte, sie fühllos und kalt verlassen hatte, füllten ihre Augen sich mit Tränen, und ein trostloses, wehmütiges Gefühl bemächtigte sich ihrer. Eine wohltuende Unterbrechung ihrer Einsamkeit bildeten die Besuche von Onkel Heinz. Er setzte sich dann ohne viele Worte seiner alten Freundin gegenüber, wohl wissend, daß in solchen Augenblicken stille Teilnahme wohltätiger wirkt als lange Trostreden.

Endlich, als er einmal sah, wie große Tropfen über ihre bleichen Wangen rollten, konnte er es nicht mehr aushalten und fragte:

»Aber Frau Gontrau, möchten Sie Ihrem alten Freunde nicht lieber mal erzählen, weshalb das Kind eigentlich fort ist, und warum es in letzter Zeit so garstig zu Ihnen war?«

»Woher wissen Sie, daß Irma garstig war?« fragte die Großmutter erstaunt.

»O, alles, was Sie betrifft, merke ich sofort, wenn Sie auch vielleicht glauben, daß ich stumpf und gleichgültig geworden bin. Ich sah gleich, daß es außer Irmas Krankheit noch etwas gab, was Ihnen Kummer bereitete.«

Ilse tat gewiß das Klügste, indem sie Onkel Heinz alles erzählte, was zwischen Irma und Hans vorgefallen war.

Der Professor schaute sinnend vor sich hin und sagte in den ersten Minuten kein Sterbenswörtchen.

»Glauben Sie, daß Reicher dem kleinen, dummen Ding ganz gleichgültig ist?« fragte er endlich.

»Ich weiß nicht,« versetzte Ilse, »doch glaube ich wohl, daß er durch sein energisches Auftreten Eindruck auf sie gemacht hat.«

»Sie müßte mordsdumm sein, wenn das nicht der Fall gewesen wäre,« meinte Onkel Heinz heftig. »Hans Reicher ist ein Kerl, ich sage Ihnen, der wiegt zehn Generationen der Hochsteins auf.«

»Das glaub' ich gern,« fuhr Ilse lächelnd fort, »aber ich fürchte doch, daß er für Irma verloren ist, denn er scheint sie hart angepackt zu haben.«

»Und ich versichere Sie, er liebt das undankbare Ding noch immer grenzenlos. Als sie krank war, bekam ich alle Tage Briefe von ihm, er war in Todesangst, und erst als ich ihm schrieb, daß die Besserung gute Fortschritte machte, kam wieder der praktische, ruhige Hans zum Vorschein.«

»Wohl möglich,« seufzte die Großmama. »Aber aus eigenem Antrieb wird das Kind nicht zurückkehren. Sie ging so kühl von mir; ich fürchte, ich habe ihre Zuneigung verloren.«

»Unsinn! Dummes Zeug!« rief der Professor. »Was denken Sie denn von ihr? Sie ist Ihre Enkelin und die Tochter meiner kleinen Kröte Ruth. Bon sang ne peut mentir, Frau Ilse.«

»Es ist sehr lieb von Ihnen, mich damit zu trösten, Onkel Heinz, aber Sie kennen die heutige Jugend nicht; sie glaubt immer und in allem recht zu haben.«

»Ja, das weiß ich, Frau Ilse. Ärger jedoch als die Trotzköpfe von früher kann sie auch nicht sein – und die kenne ich durch und durch.«

Frau Gontrau sah ihn verständnisinnig lächelnd an, und der alte Herr fuhr fort:

»Ich verbürge mich für das Kind. Irmas gesunder Verstand wird den Sieg davontragen; sie wird schließlich aus eigenem Antriebe zurückkehren und einsehen, daß sie sich sehr garstig benommen hat. Wer weiß, vielleicht kommt auch zwischen Hans und ihr noch alles in Ordnung! Wir können dabei nichts tun, Frau Gontrau, wir müssen es der Zeit überlassen und in Geduld zuwarten.«

Zunächst schien die Aussicht, daß sich des Professors Hoffnung erfüllen werde, sehr gering zu sein. Reicher, der über Irmas Gesundheit beruhigt war und wußte, daß sie sich in München bei ihren Eltern befand, ließ nichts mehr von sich hören. Das junge Mädchen schrieb zwar pflichtgetreu zweimal wöchentlich, aber ihre Briefe waren so kühl, enthielten außer einem Bericht über die herrlichen Musikaufführungen und die prachtvollen Theatervorstellungen, in denen sie schwelgte, und den interessanten Bekanntschaften, die sie machte, so wenig, daß Ilse sie seufzend fortlegte. Sie antwortete freundlich und herzlich, spielte aber mit keinem Wort darauf an, daß sie sich einsam fühle und sich grenzenlos nach dem Kinde sehne.

Fast Abend für Abend saßen die alte Dame und der Professor beisammen und spielten Schach oder sprachen über die Vergangenheit und erwogen alle Möglichkeiten, die nach Onkel Heinz' Ansicht noch bestanden, daß Irma ihr Unrecht einsehen würde. Nach einiger Zeit fiel ihm ein veränderter Ton in ihren Briefen auf. Sie schrieb herzlicher und beklagte sich ein wenig. Papa und Mama hatten so viel zu tun und gingen oft aus; sie aber war nicht musikalisch genug, um so häufig, manchmal Tag für Tag, morgens, mittags und abends mit Genuß Musik zu hören. Sie fragte voll Anteilnahme nach allerhand Dingen. Wie sah's wohl in ihrem Stübchen aus? Wer pflegte die Blumen? Was machte Jim, ihr Hündchen, das sie nicht mit nach München hatte nehmen können, weil ihre Eltern in möblierten Zimmern zur Miete wohnten? War es nicht traurig jetzt, wo seine Herrin in der Ferne weilte? Onkel Heinz nickte zufrieden, und Ilse mußte sich zwingen, um diese Fragen sachlich und kühl zu beantworten, ohne hinzuzufügen, daß ihr Stübchen, die Pflanzen, das Hündchen und schließlich die Großmama selbst sich unaussprechlich nach ihrem Liebling sehnten.

Endlich eines Tages, als es anfing herbstlich zu werden und in dem nach Norden gelegenen Vorderzimmer schon ein Feuer im Kamin brannte, teils um der größeren Gemütlichkeit willen, teils wegen der Gicht des Professors, kam ein Briefchen, das nichts enthielt als diese Worte:

 

»Liebe Großmutter!

»Hast du's nicht gemerkt oder wolltest du's nicht merken, daß ich's nicht länger aushalten kann? Willst du all meine Abscheulichkeiten vergeben und vergessen, und darf ich heimkehren, um wieder ganz bei dir zu bleiben? Telegraphiere mir nur das eine Wörtchen ja und sofort reise ich ab.

Deine Enkelin.«

 

Als Onkel Heinz des Abends kam, war das Telegramm längst abgesandt, und mit freudestrahlenden Augen reichte Ilse ihm das Briefchen. Der alte Herr wischte sorgfältig seine Brillengläser ab und las die wenigen Worte dreimal, bevor er etwas sagte.

»Nun?« fragte Großmama Ilse ungeduldig.

»Schön,« meinte Professor Fuchs, »es kommt genau so, wie ich mir's gedacht habe, aber hören Sie mal, Frau Gontrau, wenn Sie glauben, daß die kleine Kröte allein aus Sehnsucht nach Ihnen zurückkehrt, dann sind Sie sehr auf dem Holzwege.«

»So?« versetzte sie etwas gereizt, »vielleicht sehnt sie sich ebenso nach Ihnen.«

»Hm, hm,« brummte Onkel Heinz, »es kann auch sein, daß sie nach einer dritten Person Heimweh hat.«

»Sie meinen Hans Reicher. Was hätte denn der damit zu schaffen? Er ist ja nicht einmal hier.«

»Nein, aber er ist in F. doch leichter zu erreichen als in München.«

»Daran glaube ich nicht,« fuhr Ilse fort, ein bißchen gekränkt durch den Zweifel daran, daß Irma heimkehren wolle, weil sie es nicht länger ohne ihre Großmama aushalten konnte. »Was wissen Sie denn davon, Onkel Heinz?«

»O nichts, gar nichts,« spottete der alte Herr. »Von Herzensangelegenheiten versteh' ich ja nichts, Frau Ilse. Es wäre auch sehr dumm von mir, wenn ich annehmen wollte, daß Sie ein bißchen neidisch sein würden, wenn Irma nur zum Teil um Ihretwillen heimkehrte.«

»Gewiß wäre es das,« erwiderte Großmama gekränkt und doch beschämt, weil er sie sofort durchschaut hatte. Als sie ihn aber anblickte und hinter den Brillengläsern her, vor seine alten, scharfen Augen mit einem Ausdruck auf sich gerichtet sah, den sie nur zu gut kannte, machte ihr Ärger einer edleren Aufwallung Platz, und sie reichte ihm die Hand.

»Sie haben recht, bester Freund. Wollte Gott, daß ihre Sehnsucht nach Hans am größten ist!«

Ehrerbietig neigte sich der alte, schneidige Professor über Großmutters schmale, weiße Hand und drückte seine Lippen darauf. –

Es wurde beschlossen, Irmas Ankunft der Familie Müller noch einige Tage zu verheimlichen; auch Onkel Heinz hielt es für richtiger, daß sie sich nicht gleich zeigte, und so geschah es, daß die alte Dame und das junge Mädchen am ersten Abend ganz allein waren. Irma saß wieder wie vor Zeiten Großmutter zu Füßen, barg ihr goldgelocktes Köpfchen in deren Schoß und fragte wohl schon zum zehntenmal:

»Bist du nun aber auch wirklich nicht mehr böse auf mich, Großmamachen? Jetzt begreife ich selbst nicht, wie ich so von dir fortgehen konnte. Ist nun wirklich alles vergessen und vergeben?«

Ilse nahm das Köpfchen ihrer Enkelin zwischen ihre beiden Hände und küßte sie so innig und herzlich, daß jede andere Antwort überflüssig war. Dann schaute sie besorgt in das geliebte Antlitz. Es war nicht weniger schön, aber ein leidender Ausdruck lag um den kindlichen Mund, und die Vergißmeinnichtaugen blickten trübe.

»Siehst du nun ein, Kindchen, daß ich nicht anders handeln durfte?« fragte sie sanft.

Irma nickte.

»Und daß ich dich vor einem großen Unglück bewahrte, indem ich dich hinderte, einen Mann zu heiraten, den du nicht liebtest?«

Irma erwiderte nichts und schaute nachdenklich vor sich hin.

»Siehst du auch ein,« fuhr die Großmutter flüsternd fort, »daß Hans Reicher viel zu gut dazu ist, nur aus Ärger und Trotz genommen zu werden, und daß du im Begriff warst, ihm ein großes Unrecht zu tun?«

Wieder keine Antwort, und als Ilse sich tiefer herab beugte, sah sie, daß Irma aus den blauen Augen große Tränen in den Schoß tropften.

»Kindchen,« sagte sie so leise, daß Irma es kaum verstand, »ist es wirklich wahr, ist Hans Reicher dir nicht gleichgültig?«

Da schlang Irma die Arme um Großmutters Hals und stammelte schluchzend:

»O, Großmama, ich weiß es nicht, aber ich glaube, ich habe ihn lieb.«

Und wie früher streichelte Ilse das blonde Köpfchen und ließ das Mädchen sich nach Herzenslust ausweinen. Endlich hob Irma das Haupt und schaute die alte Dame errötend, aber immer noch tief traurig an.

»Erzähle mir, Kindchen, wie das gekommen ist.«

»Wie kann ich das erzählen? Weiß ich's doch selbst nicht. Nach dem Abend bei Onkel Heinz war ich wütend auf Hans, ich glaubte ihn zu hassen und wurde krank vor Ärger und Scham. Nach überstandener Krankheit war ich noch immer schrecklich böse auf ihn, aber ich glaube, im Stillen hoffte ich doch auf einen Brief, in dem er seine harten Worte zurücknehmen und mich bitten würde, seine Frau zu werden. Aber ich hörte nichts von ihm, wollte auch nicht an ihn denken und sagte mir wohl hundertmal an einem Tage, daß ich gar nichts von ihm wissen wolle und ihm einen Korb geben würde, wenn er um mich anhielte.

»Und doch mußte ich immerfort an ihn denken. Du weißt, anfangs ging ich in München oft aus und kam mit vielen jungen Herrn zusammen. Du darfst nicht denken, daß ich mir etwas darauf einbilde, und mich nicht für eitel halten, aber sie liefen mir alle nach und machten mir den Hof. O Großmama, ich fand sie sämtlich unausstehlich mit ihrem albernen Geschwätz und ihren faden Artigkeiten. So war Hans nie. Er unterhielt sich ganz schlicht und herzlich und ließ doch durchschimmern, daß er mich gern hatte. Wenn diese Modegecken mit ihren pomadisierten Schnurrbärten und ihren weibischen Gesichtern auf mich einredeten, sah ich in Gedanken Hans vor mir mit seinen breiten Schultern, seinem klugen Gesicht und seiner tiefen Stimme; wenn sie mir hundert alberne Schmeicheleien sagten und die Fingerspitzen küßten, dachte ich an Hans, der mir die Hand so kräftig drückte, daß es weh tat – und, o Großmama, selbst an Hochstein, der doch ein schöner Mann und kein Geck war, fand ich, mit Hans verglichen, keinen Gefallen mehr. Immer mußte ich an ihn denken, und nie hörte ich von ihm; da konnte ich's endlich in München nicht mehr aushalten, ich sehnte mich so sehr nach dir, und hier werde ich doch vielleicht etwas von ihm hören. Das Geschehene tut mir ja furchtbar leid, und ich bereue es aufs tiefste.«

Und aufs neue verbarg Irma ihr Gesichtchen und weinte bitterlich.

»Aber Kindchen,« sagte die Großmutter, deren Augen leuchteten und die trotz Irmas Tränen sehr glücklich war, »dann brauchst du doch nicht so zu weinen, dann kann ja alles noch gut werden.«

»Nein, nie, niemals, ich habe alles verspielt.«

»Warum? Wirklich, Kind, ich möchte dir keine Hoffnung machen, wenn ich dächte, daß später wieder eine neue Enttäuschung folgen könnte, aber ich weiß es ganz gewiß, daß Hans Reicher dich noch immer liebt.«

»Das kann schon sein, aber du weißt nicht, was er mir an jenem schrecklichen Abend gesagt hat.«

»War das so arg?« fragte Ilse nun doch beunruhigt. »Kannst du mir's nicht erzählen?«

Sehr langsam, als koste es sie große Mühe, kam es von Irmas Lippen:

»Großmama, er hat mir an dem Abend gesagt, daß ich eine oberflächliche Kokette sei, daß er mich nicht zum Weibe nehmen würde, und wenn ich ihn auf den Knien darum anflehte. Nur wenn ich einsähe, wie tief ich ihn gekränkt habe, und aus eigenem Antrieb zu ihm käme, um ihm zu sagen, daß ich ihn über alles liebe und mir ohne ihn kein Glück denken könne, würde er mir verzeihen und mir die Hand reichen.«

»Nun?« fragte Frau Gontrau, als Irma schwieg.

»Was meinst du?«

»Na, du siehst es doch nun ein, daß du ihn über alles lieb hast.«

»Aber Großmama,« rief Irma, »du kannst doch nicht denken, daß ich ihm das sagen würde, daß ich mich so erniedrigen könnte?«

»Natürlich denke ich das und sehe gar nichts Erniedrigendes darin.«

Irma trocknete ihre Tränen. »Nie werde ich einen Mann bitten, mich zum Weibe zu nehmen. Was Hans von mir fordert, ist unmöglich. Kommt er wieder und macht mir einen Antrag, so werde ich ›ja‹ sagen, der Himmel weiß, mit welcher Freude! Aber er muß zu mir kommen.«

»So weit ich ihn kenne, wird er das nie tun, Irma.«

»Nein, Großmama, daher habe ich auch keine Hoffnung mehr auf künftiges Glück.«

Es herrschte Schweigen. Gedankenvoll schaute Ilse ins Feuer und überlegte, wie sie die Kleine am besten von ihrem Unrecht überzeugen könne. Endlich nahm sie ernst das Wort:

»Mein Liebling, der Kummer, den Baron von Hochstein dir bereitete, hat seine gute Seite gehabt, denn er hat dich viel verständiger gemacht und dir die Augen für die wahren Verdienste eines Mannes geöffnet. Trotzdem war die Lehre noch nicht stark genug, dich von deinem größten Fehler zu heilen.«

»Und der wäre, Großmama?«

»Deine Eitelkeit, Irma.«

»Was die damit zu schaffen hat, verstehe ich nicht.«

»Deine Eitelkeit verbietet dir, einfach zu Hans zu gehen und ihm zu gestehen, daß du unrecht gehabt hast. Du hältst es für ein viel anziehenderes Bild, ihn zu deinen Füßen zu sehen, als dich zu den seinigen.«

Irma wurde dunkelrot. Sie fühlte, daß die Großmama den Nagel auf den Kopf traf.

»Du bist doch zu mir gekommen und hast mich um Verzeihung gebeten, und dasselbe willst du nicht für den Mann tun, den du doch so unendlich viel mehr lieben mußt als mich!«

»Das ist ganz etwas anderes, Großmama.«

»Im Grunde ist es dasselbe, Kind. Glaube mir doch, wir erniedrigen uns nie, wenn wir unser Unrecht eingestehen, wem es auch sei, am wenigsten aber gegenüber einem, der uns lieb hat. Ich hab's erfahren, als ich so alt war, wie du jetzt bist, und während meines ganzen späteren Lebens habe ich den Augenblick gesegnet, da ich demütig und reuevoll vor deinem Großvater stand.«

Und als Irma sie fragend ansah, erzählte Ilse die Geschichte ihres trotzigen Benehmens gegen Leo, wie darauf der Bruch erfolgte und das Schuldbewußtsein sie dazu brachte, seine Verzeihung zu erbitten.

»Aber das war doch nicht so arg,« flüsterte das junge Mädchen, als die alte Frau schwieg. »Denk' doch nur, ich habe einen Nichtswürdigen geliebt, und um mich an diesem zu rächen, Hans opfern wollen meiner …«

»Deiner Eitelkeit,« vollendete Ilse. »Aber gerade weil dein Vergehen vielleicht größer war, Kindchen, mußt du auch die schwere Strafe erleiden, das ist nicht mehr wie recht und billig.«

Irma erwiderte nichts, und auch Ilse hielt es für klüger, den Gegenstand vorläufig ruhen zu lassen. –

Am folgenden Tage kamen Müllers und Onkel Heinz, die Heimgekehrte zu begrüßen. Alle freuten sich, sie wiederzusehen. Agnes, die nach Mauds Abreise ihre Einsamkeit oft schwer empfunden hatte, zeigte sich ausgelassen fröhlich, und bald fühlte Irma sich in ihrer altgewohnten Umgebung wieder ganz heimisch. Mit der Zeit merkten alle, daß mit dem jungen Mädchen eine große Veränderung vorgegangen war, und zwar eine sehr vorteilhafte.

Die früher von allen verhätschelte und bewunderte kleine Person, die nur an sich, nie an andere dachte, fing an, freundliche Rücksicht auf ihre Umgebung zu nehmen. Sie konnte jetzt stundenlang mit Onkel Heinz am Schachbrett sitzen und bemühte sich gut zu spielen, während sie früher oft mit Absicht schlecht gespielt hatte, um rasch die Partie zu verlieren und erlöst zu sein.

Tagelang blieb sie still bei Großmutter zu Hause und verfertigte mit ihr allerhand niedliche Sächelchen für Flora, die zum Winter ein Kindchen erwartete. Wenn sie jetzt auf einige Tage nach I. ging, wurden keine tollen Streiche ausgeführt, wie bei ihrem ersten Besuche, sondern sie half getreulich der jungen Hausfrau und hörte freundlich und aufmerksam zu, wenn Flora immer wieder über das eine sprach, das sie ganz erfüllte, nämlich über das große, herrliche Glück, welches sie erwartete.

Was ihr aber wohl die größte Selbstüberwindung kostete – Irma ging zu Tante Elisabeth Müller, mit der sie seit jenem Besuch bei der Großmama kaum ein Wort gewechselt hatte. Sie ging allein, brachte einige Stunden bei der alten Dame zu und erzählte so hübsch und angeregt von München und war so liebenswürdig und aufmerksam, daß die Tante sie wiederholt aufforderte, doch ja bald wieder zu kommen. Später erklärte Fräulein Müller der Großmama, daß Irma ganz anders geworden sei, kaum zum Wiedererkennen. Tante Elisabeth schrieb diese vorteilhafte Veränderung ein klein wenig auch ihrer eigenen Einmischung zu und tat sich viel darauf zu gute. Großmutter Gontrau fand es klug, sie bei ihrem Wahn zu lassen und hütete sich, der alten Jungfer zu widersprechen; dadurch und durch Irmas Freundlichkeit wurde Tante Elisabeth nach und nach etwas zugänglicher, so daß sich auch bei ihr eine Veränderung zum Guten bemerkbar machte.

Doch trotz all ihrer anscheinend ruhigen Heiterkeit blieben Irmas Wangen blaß, und die schönen Augen blitzten nicht so lebenslustig wie früher. Oft schauten Onkel Heinz und seine alte Freundin sich fragend und kopfschüttelnd an, und beständig kämpfte der Professor mit dem Wunsch, auf seine Manier dem Hangen und Bangen ein Ende zu machen und die beiden Liebenden mit Gewalt einander in die Arme zu führen. Es fiel ihm sehr schwer, dem Rat Ilses zu folgen, welche der Ansicht war, daß Übereilung wieder alles verderben könnte, und ihn deshalb bat, sich mit Geduld zu waffnen.

Es war nun völlig Herbst geworden. Auf den Gartenwegen raschelte das welke Laub, das vom Winde in tollem Tanz umhergewirbelt wurde, und noch immer schaute Ilse ihre Enkelin fragend an, und noch immer schüttelte diese niedergeschlagen das blonde Köpfchen. Endlich eines Morgens, als der Regen an die Scheiben klatschte und alles kalt und winterlich aussah, kam Irma zur Großmutter, die in ihrem Zimmer am Schreibtisch saß und mit dem Ordnen von Briefen und Rechnungen beschäftigt war.

»Großmama, ich möchte schreiben, aber ich weiß nicht was,« sagte sie.

»Ist das so schwer, Kindchen?« fragte die alte Dame, indem sie ihre freudige Überraschung hinter einer ruhigen Miene zu verbergen suchte.

»Ich habe wohl schon zwanzig Briefe geschrieben und sie immer wieder zerrissen. Ich bringe es nicht fertig.«

»Komm, setze dich hierher und versuche es noch einmal, Liebling. Ein paar Worte genügen.«

Das Mädchen ergriff die Feder. Ilse tat, als bemerke sie nicht, daß schon wieder mehrere Briefbogen in den Papierkorb wanderten.

Endlich sah sie, wie Irmas Hand rasch und erregt über das Papier glitt, und einen Augenblick später stand das Kind neben ihr.

»Lies, was ich geschrieben habe, Großmama, aber es wird nichts helfen.«

Ilse las:

 

»Hans, ich bin schon seit Wochen aus München zurück. Ich empfinde solch bittere Reue und sehne mich so nach Ihnen; wollen Sie kommen zu Ihrer Irma.«

 

»Ausgezeichnet,« rief die Großmama. »Nun rasch den Umschlag geschlossen und den Brief abgeschickt. Morgen kommt er.«

»Nein, nein, er wird nicht kommen. Es steht nichts von ›um Verzeihung bitten‹ drin.«

»Dummes Kindchen, das kannst du ja mündlich tun. Flink, hier ist eine Marke, schreibe du unterdessen die Adresse.« Und schon klingelte Ilse nach dem Mädchen, das den Brief auf die Post bringen sollte.

In der Nacht schlief Irma nicht, und am nächsten Tage war sie so aufgeregt, daß die Großmama sich um sie sorgte. Den einen Augenblick war sie zufrieden mit dem, was sie getan hatte, und erging sich mit der alten Dame in allerhand herrlichen Vorstellungen, wie schön sich ihr Leben an Hans Reichers Seite gestalten würde. Dann wieder war sie unglücklich, zweifelte an seinem Kommen und klagte, daß die Großmama sie zu dieser furchtbaren Demütigung gezwungen habe. Wenn Hans auf ihren Ruf taub bliebe, würde sie das nicht überleben. Je mehr der Tag sich seinem Ende näherte, desto stiller und ängstlicher wurde sie. Sie saß da mit ganz blassem Gesichtchen und starrte mit unnatürlich großen Augen vor sich hin; so oft es klingelte, sprang sie erschreckt auf, so daß Ilse herzliches Mitleid mit ihr fühlte.

Es dunkelte schon, die Vorhänge waren zugezogen und das Gas angezündet, da wurde heftig die Glocke gezogen, und bei der Totenstille im Hause vernahm man deutlich eine tiefe, wohllautende Männerstimme. Zitternd umklammerten Irmas eiskalte Hände den Arm der Großmutter.

Das Mädchen kam herein und meldete Herrn Reicher.

»Lassen Sie den Herrn eintreten,« sagte Ilse und stand auf.

»Nicht fortgehen, Großmama,« stammelte Irma mit weißen Lippen, »nicht fortgehen, mir ist so angst.«

Aber Ilse gab ihr einen ermutigenden Kuß und entfernte sich so schnell sie konnte durch die Seitentüre. Gerade als sie verschwand, stand Hans Reicher auf der Schwelle.

Irma wagte nicht die Augen aufzuschlagen. Zitternd blieb sie am Tische stehen, ihr Gesichtchen in den Händen verborgen.

Da nannte er ihren Namen, und sie schaute empor.

Sein Antlitz war bleich und schmal geworden. Daß er viel gelitten hatte, sah sie auf den ersten Blick. Nun aber strahlte er und streckte in so grenzenlosem Sehnen die Arme nach ihr aus, daß sie alle Scheu vergaß und sich hinein stürzte.

Er drückte sie fest ans Herz, küßte sie auf die Lippen, die Augen, die Wangen, bedeckte das ganze süße Gesichtchen mit leidenschaftlichen, feurigen und doch sanften, zärtlichen Küssen. Und bebend vor Glück wiederholte er immer wieder:

»Irma, Liebling, ist es wahr? Ist es wahrhaftig wahr? Liebst du mich?«

Sie konnte nicht antworten, weinend lag sie in seinen Armen, und er sprach ihr mit leisen, liebevollen Worten zu.

Endlich wurde sie ruhiger, sie hob das Köpfchen, sah ihn durch ihre Freudentränen glücklich an und flüsterte:

»Hans, willst du mir wirklich verzeihen? Willst du mich wirklich zur Frau haben?«

Und aufs neue umschlangen sie seine starken Arme, während er nur zu stammeln vermochte:

»O, mein Liebling! O, Geliebte meiner Seele!«

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