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An einem der seltenen Märztage, welche die Hoffnung erwecken, daß der Lenz nun wirklich seinen Einzug halten will, an denen die Sonne schon köstlich wärmt und kleine Sträußchen von Märzveilchen und Schneeglöckchen angeboten werden, saß Ilse mit Onkel Heinz im eichengetäfelten Wohnzimmer beim Schach. Im Kamin knisterte, trotz der Wärme draußen, ein lustiges Feuer, und leise tickte die große, altmodische Standuhr. Irma, die sich mit ihrer Stickerei in die Fensternische zurückgezogen hatte, dachte, wenn sie ab und zu nach den beiden Alten guckte, daß diese, so in ihr Spiel vertieft, ein wunderhübsches Bild abgäben.
Der Professor spielte mit unerschütterlichem Ernst; es war eine seiner Schwächen, sich zu ärgern, wenn er verlor beim Schachspiel – selbst wenn seine Gegenpartei eine Dame war. Ilse, die das wußte, und der es noch immer, wie in alten Zeiten, das größte Vergnügen bereitete, ihn in Harnisch zu bringen, spannte alle ihre Kräfte an. Auch hatte sie ihn schon ziemlich in die Enge getrieben. Seine Königin und seine beiden Türme waren genommen, und nun focht er verzweifelt mit einem Läufer, einem Springer und einigen Bauern.
Es klingelte.
»Da kommt Besuch,« sagte Irma, ihr Näschen an den Scheiben platt drückend, »ich sehe eine Dame, kann aber nicht erkennen, wer es ist.«
»Wie schade,« meinte Ilse, »noch ein paar Züge und Sie wären schachmatt gewesen, Onkel Heinz.«
»Ach was,« brummte der alte Herr. »Lassen Sie nur das Brett stehen, Frau Gontrau, und ich wette um alles, was Sie wollen, daß ich doch noch die Partie gewinne.«
Das Mädchen trat ein und meldete: »Fräulein Elisabeth Müller wünscht die gnädige Frau zu sprechen.«
»O weh!« rief Irma, ihre Handarbeit zusammenpackend, »dann geh ich nach oben, Großmama; wenn sie nach mir fragt, bin ich nicht zu Hause.«
»Bleib hier, Kindchen,« wandte Ilse ein, aber schon war Irma verschwunden.
»Der kleine Taugenichts hat recht,« meinte Onkel Heinz, »wenn ich nur könnte und von der verflixten Gicht nicht so geplagt wäre, würde ich mich auch auf die Beine machen.«
»Seien Sie doch still,« bat Ilse, ein bißchen böse; dann stand sie auf, um Fräulein Müller zu empfangen.
Tante Elisabeth ging immer einfach gekleidet; heute aber hatte ihre Erscheinung etwas entschieden Quäkerhaftes an sich. Ihr eisengraues, glattes Kleid konnte nicht strenger sein als ihr Antlitz. Ilse fand plötzlich, daß sie ihrer Mutter, der Pfarrerin, sprechend ähnlich sah, wenn diese einmal ganz besonders tugendhaft oder unangenehm sein wollte.
»Ich hoffe, ich störe Sie nicht, Frau Gontrau,« begann sie mit einem Seitenblick auf Professor Fuchs, in dessen Gesellschaft sie sich nie behaglich fühlte.
Ilse schob ihr einen bequemen Sessel hin.
»Sehr nett, daß Sie sich mal sehen lassen, Elisabeth,« begann sie freundlich, »ich habe Ihnen schon oft gesagt, daß Sie viel zu selten kommen.«
»Ach, ich mag mich nicht aufdrängen; heute aber habe ich etwas Besonderes mit Ihnen zu besprechen.«
Onkel Heinz stand auf. »Dann wünschen Sie gewiß mit Frau Gontrau allein zu sein; ich gehe so lange in den Garten und will mal sehen, ob die Märzsonne gut für meine Gicht ist.«
Aber Ilse winkte ihm zu bleiben: »Wollen Sie mit mir über etwas sprechen, Elisabeth, was Sie selber angeht?«
»Nein, Frau Gontrau, die Sache betrifft ausschließlich Sie.«
»Dann bleiben Sie nur ruhig sitzen, Herr Professor,« nahm Ilse wieder das Wort.
Es gab ja nichts in ihrem Leben, was ihr alter Freund nicht wissen durfte, und sie freute sich heimlich darüber, daß er der Gesellschaft der alten Jungfer nicht entrinnen konnte. »Vor Ihnen haben wir keine Geheimnisse.«
»Das müssen Sie am besten wissen, gnädige Frau; was ich Ihnen mitzuteilen habe, betrifft Ihre Enkelin Irma.«
Professor Fuchs spitzte die Ohren, und Ilse sagte absichtlich begütigend:
»Wirklich? Ich hoffe, die Kleine hat nichts getan, worüber Sie sich zu beklagen haben.«
»Ich nicht,« entgegnete Fräulein Müller, mit verdrießlich herabgezogenen Mundwinkeln; »aber ich halte es für meine Pflicht, Ihnen über das Betragen des jungen Mädchens die Augen zu öffnen.«
»Ei was,« meinte Ilse, halb ärgerlich. »Die Kleine hat wohl etwas gesagt oder getan, was nicht ganz ehrerbietig und passend ist? Ich werde sie nachher darüber zur Rede stellen, aber wirklich, Elisabeth, so ernst dürfen Sie das nicht nehmen, von der Jugend müssen wir uns manches gefallen lassen und gegen ihre kleinen Sünden nachsichtig sein.«
»Ich weiß nicht, ob Sie es eine kleine Sünde nennen, wenn ein junges Mädchen wie Irma an einem abgelegenen Platz heimliche Zusammenkünfte mit einem Studenten hat,« sagte Fräulein Müller mit nur mühsam unterdrückter Schadenfreude.
Großmutter Gontrau wurde totenbleich. Onkel Heinz, der mit einem förmlichen Schreckensruf aufsprang, sah, wie sie krampfhaft die Stuhllehnen umklammerte und nach Selbstbeherrschung rang; ihre Stimme bebte, und ihre dunklen Augen blitzten wie früher, als sie fragte:
»Was meinen Sie damit, Elisabeth? Wer von einem jungen Mädchen solche Dinge sagt, muß sie auch beweisen können.«
»Das kann ich. Jeden Mittwoch Nachmittag hat Irma ein Stelldichein mit dem schönen Studenten, der ihr damals auf der Landpartie den Hof machte. Sie treffen sich in dem Wäldchen an der Chaussee, in der Nähe der Kaserne.«
»Wie wissen Sie das?« stammelte Ilse.
»Vor vierzehn Tagen habe ich sie mit meinen eignen Augen gesehen. Im Frühjahr mache ich nämlich gern dahinaus meine Spaziergänge. Erst konnte ich es nicht glauben, daß es wirklich Irma sei, aber gestern habe ich sie ganz deutlich erkannt; ich ging hinter ihr her und habe sie genau beobachtet.«
Frau Gontrau schwieg. Allerlei Wahrnehmungen kamen ihr in den Sinn. Es fiel ihr ein, daß Irma in den letzten Monaten viel allein auszugehen pflegte und häufig ein sonderbares Benehmen zeigte. Zweifel und Angst beschlichen sie, weil sie für das Kind den Eltern gegenüber verantwortlich war, vor allem aber bemächtigte sich ihrer tiefe Betrübnis darüber, daß ihre Enkelin, die sie so innig liebte, sie betrogen und hintergangen hatte. Onkel Heinz zog die buschigen Brauen zusammen, drehte seinen weißen Schnauzbart zu einer ganz besonders feinen Spitze und unterdrückte einen Fluch, weil er plötzlich einen heftigen Stich in seinem linken Fuß verspürte.
»Darf ich fragen, wie es kam, daß Irma Sie nicht gleich das erste Mal sah?« forschte er, sich ziemlich barsch an Tante Elisabeth wendend.
»Das ging ganz natürlich zu. Ich verbarg mich hinter den Sträuchern, bis sie das Wäldchen wieder verlassen hatten.«
»Sie spionierten also!«
»Spionieren!« wiederholte Elisabeth beleidigt. »Wenn Sie's so nennen wollen – ich mußte mich doch von der Wahrheit überzeugen.«
»Ja, und nachdem Sie das getan, gingen Sie noch einmal hin und versteckten sich wahrscheinlich wieder. Das finde ich nicht ehrlich; Sie hätten offen auftreten sollen. Ihr Erscheinen hätte die jungen Leute gewarnt.«
»Mir schien das nicht wünschenswert. Ich hielt es für meine Pflicht, Frau Gontrau zu unterrichten.«
Tante Elisabeth zeigte in diesem Augenblick eine so dünkelhafte, siegesgewisse Miene, daß der Professor sich vergaß und heftig aufbrauste.
»Na ja, das ist so recht was für Sie! Wer sagt Ihnen denn aber, daß etwas Böses dahinter steckt? Die jungen Leute können sich wohl mal was zu erzählen haben. Daraus brauchen Sie nicht gleich so 'ne Staatsaktion zu machen. Aber das ist gerade Wasser auf die Mühle einer neidischen alten Jungfer, wenn sie einem Nebenmenschen etwas anhängen kann.«
Feuerrot erhob sich Fräulein Müller von ihrem Sitz und sagte mit einer, vor Zorn und Aufregung heiseren Stimme:
»Wenn Sie meine gute Absicht so auslegen und mich obendrein beleidigen, dann gehe ich und setze nie wieder einen Fuß über diese Schwelle.«
Ilse schaute den Professor zürnend an.
»Nein, nein, seien Sie nicht böse, liebe Elisabeth,« rief sie. »Ich bin Ihnen dankbar, und dem Professor Fuchs müssen Sie seine Heftigkeit verzeihen. Er hat Irma so unendlich lieb, daß er außer sich gerät, wenn über sie nachteilig geurteilt wird. Ist's nicht so, Herr Professor?«
»Jawohl,« brummte Onkel Heinz, der einsah, daß er zu weit gegangen war.
»Und er bittet für seine Unhöflichkeit um Entschuldigung,« beharrte Ilse, mit einem strengen Blick auf Onkel Heinz.
Dem Professor war fast so zu Mute wie einem Schuljungen, der eine Strafpredigt erhält. Er hätte am liebsten mit einem: »Scheren Sie sich zum Teufel,« das Zimmer verlassen; aber dem eigenartigen Ausdruck in den dunklen Augen seiner alten Freundin war er nicht gewachsen.
»Jawohl,« brummte er abermals, mit abgewendetem Gesicht, »natürlich meinte ich es nicht so; nehmen Sie's nicht übel, Fräulein Müller.«
Tante Elisabeth verneigte sich, war aber doch tief gekränkt und stand auf.
»Nun ich Ihnen berichtet habe, was ich weiß, Frau Gontrau,« nahm sie in spitzem Ton abermals das Wort, »ist's an Ihnen, aus meiner Mitteilung Nutzen zu ziehen. Ich werde mich um die ganze Geschichte nicht mehr kümmern.«
»Einen Augenblick, bitte,« sagte Ilse. »Was Sie gesehen haben, Elisabeth, ist ganz gewiß nicht passend, aber bevor Irma mir den Zusammenhang erklärt hat, kann ich mir kein Urteil erlauben. Möglich, daß gar nichts dahinter steckt. Die jungen Leute von heutzutage sind anders und freier in ihrem Umgang, als wir in unsrer Jugend – das dürfen wir nicht vergessen.«
Fräulein Müller ließ ein spöttisches Lachen hören.
»Ich muß Sie freundlichst ersuchen,« fuhr Ilse fort, »über diese Geschichte zu niemand, wer es auch sei, ein Wort zu verlieren, auch nicht zu unsren Amerikanern.«
»Ganz wie Sie wünschen, Frau Gontrau.«
»Ich erbitte mir das als eine große Gunst von Ihnen und baue fest auf Ihre Verschwiegenheit.«
Großmutter Ilse streckte Tante Elisabeth die Hand entgegen, und diese las auf dem schönen, alten Gesicht eine so ängstlich flehende Bitte, daß sie, wider Willen gerührt, versetzte:
»Das können Sie, Frau Gontrau.«
Dann ging sie nach einer sehr förmlichen Verbeugung vor Onkel Heinz.
Ilse ließ sich erschöpft in ihren Sessel sinken und schaute in schweren Gedanken vor sich hin.
Der Professor aber humpelte in großer Erregung hin und her.
»Schöne Geschichte das,« rief er endlich, »bald weiß die ganze Stadt von diesem Klatsch, denn Fräulein Müller wird mit wahrer Wonne für Weiterverbreitung sorgen. Das ist was so recht nach ihrem Sinn.«
»Das glaube ich nicht,« versetzte Ilse, »sie wird schweigen, weil ich sie darum gebeten habe. Sie waren unverzeihlich grob gegen sie, Onkel Heinz; aber viel Worte darüber zu verlieren hilft nichts. Was sollen wir tun?«
»Nun,« nahm der alte Herr heftig das Wort, »dem Jungfräulein tüchtig den Kopf waschen und ihr für die Zukunft solche Streiche verleiden; mit dem jungen Menschen aber werde ich Abrechnung halten, das können Sie getrost mir überlassen, ich will's ihm ordentlich geben.«
»Und damit, glauben Sie, ist alles getan?« fragte die Großmutter mit trübem Lächeln.
»Was wollen Sie denn noch mehr? Natürlich hat der junge Taugenichts allein schuld; wenn Sie's verlangen, Frau Ilse, will ich ihn lendenlahm prügeln – das hat er wahrlich verdient.«
»Onkel Heinz, Onkel Heinz! Da sieht man wieder, daß sie ein einseitiger, unverbesserlicher Junggeselle sind, der von zarten Herzensangelegenheiten auch nicht das mindeste versteht.«
Der Professor hielt in seinem Auf- und Abhumpeln inne; solch ein Ausfall von Ilse Gontrau ärgerte ihn noch immer und trieb ihm trotz seiner mehr als siebzig Jahre das Blut in die Wangen.
»So,« sagte er unwirsch, »Sie haben mit den Jahren noch immer nicht verlernt, heftig zu sein, Frau Ilse.«
»Und Sie haben die Jahre nicht klüger gemacht,« versetzte sie hitzig. »Sehen Sie denn nicht ein, daß wir durch herrisches und rücksichtsloses Auftreten die Sache nur verschlimmern würden? Wenn Irma und der junge Mann sich lieben oder sich zu lieben einbilden, können einige Scheltworte von uns die Liebe nicht aus ihren Herzen reißen.«
»Da mögen Sie wohl recht haben,« meinte Onkel Heinz, ziemlich abgekühlt. »Aber was wollen Sie denn tun?«
»Das weiß ich nicht. Zuerst und vor allen Dingen mit Irma sprechen und hören, was sie zu sagen hat.«
»Natürlich, und da sie nun wohl bald herunterkommen wird und Sie diese Unterredung nicht aufschieben werden, will ich gehen.«
»Das ist nicht nötig; Sie wissen nun alles, und ich kann mit Irma in Ihrem Beisein sprechen.«
»Nein, Frau Gontrau, bin ich auch nur ein alter, einseitiger, unverbesserlicher Junggeselle, soviel Takt und Verständnis besitze ich denn doch noch, um herauszufühlen, daß ein junges Mädchen eine derartige Beichte doch lieber Ihnen allein ablegt.«
Ilse reichte ihm die Hand.
»Verzeihen Sie,« bat sie sanft, »ich war heftig und ungerecht, ich meinte es aber nicht böse.«
Er schaute sie unter seinen buschigen Brauen freundlich an, drückte fest ihre Hand und ging.
Einen Augenblick später steckte Irma ihr Köpfchen zur Tür herein.
»Ist sie fort?« fragte sie mit schelmischem Ausdruck. »Was, und Onkel Heinz hat dich auch schon verlassen, Großmama? Weshalb ist er so früh fortgegangen?«
Sie erhielt keine Antwort, und als sie fröhlich näher trat, bemerkte sie, daß die Großmutter mit ernster, bekümmerter Miene nach ihr schaute.
»Was ist denn los?« forschte sie, die alte Frau zärtlich umarmend; »hat das verschrobene Fräulein Müller etwas gesagt, was dich ärgert?«
Großmutter Ilse schlang ihre Arme um das junge Mädchen und zog es auf ihren Schoß.
»Irma,« sagte sie ohne Umschweife, »du hast mich belogen, als ich dich neulich fragte, ob zwischen dir und dem Baron von Hochstein keinerlei Beziehungen beständen.«
Irma wurde totenbleich und wollte aufspringen, doch mit sanftem Zwang hielt die alte Dame sie zurück. Entsetzt schaute das junge Mädchen sie an und las auf dem geliebten alten Gesicht einen so schmerzlichen, traurigen Vorwurf, daß es plötzlich in leidenschaftliches Schluchzen ausbrach.
Ilse streichelte das blondgelockte Köpfchen, sprach aber kein Wort.
»Großmama,« schluchzte Irma, »bist du mir böse?«
»Ich bin betrübt, Kindchen, weil du kein Vertrauen zu mir hattest. Erzähle mir nun alles.«
»Ich darf nicht,« stammelte Irma, »er hat es mir verboten.«
»Wer?«
»Otto.«
»Dann hat er sehr unrecht gehandelt, aber da das Geheimnis nun doch herausgekommen ist, siehst du wohl ein, daß du dein Versprechen nicht halten kannst.«
»Aber woher weißt du's denn, Großmama? Hat Agnes es dir erzählt?«
»Agnes? Nein. Fräulein Müller hat dich mehrmals mit ihm gesehen.«
Irma bedeckte ihr Antlitz mit beiden Händen und weinte bitterlich.
»Siehst du nun ein, Kind,« fuhr Ilse in mildem und doch festem Ton fort, »daß es das beste ist, mir zu vertrauen und alles zu erzählen? Vielleicht finde ich dann noch eine Entschuldigung für dich; beharrst du bei deinem Schweigen, so ist mir das unmöglich.«
Da verbarg Irma ihr Köpfchen in Großmamas Schoß und beichtete alles. Sie erzählte, wie schrecklich es ihr anfangs gewesen sei, so heimlich zu Werke zu gehen; wie Otto aber gesagt habe, das sei nötig, um seine Eltern allmählich zu gewinnen, wie angestrengt er nun arbeite und wie er ihr die Versicherung gegeben habe, daß bald alles zu gutem Ende kommen würde. Sie erhob Otto bis in den Himmel und konnte nicht unterlassen, ein bißchen auf Agnes zu sticheln, der sie es nicht verzeihen konnte, daß sie nicht das gleiche schrankenlose Vertrauen in den Baron von Hochstein setzte.
Als sie geendet hatte, schwieg die Großmutter eine Weile. In Gedanken versunken streichelte sie das goldschimmernde Haar ihrer Enkelin. Das legte sich Irma als ein günstiges Vorzeichen aus, und ein wenig ermutigt, fragte sie leise:
»Bist du sehr böse, Großmama?«
»Nein, mein Kind, aber du hast ein großes Unrecht getan; wie unpassend und unbesonnen du gehandelt hast, begreifst du bei deiner großen Jugend wohl selbst noch nicht, aber unter allen Umständen muß jetzt sofort ein Ende gemacht werden.«
»O, Großmama, ich sterbe, wenn ich ihn aufgeben muß.«
»Das brauchst du nicht, Kindchen, wenigstens nicht, wenn es sich herausstellt, daß er es ernst mit dir meint.«
»Wie kannst du nur daran zweifeln,« schluchzte Irma, »er hat mir doch Beweise genug gegeben.«
»In meinen Augen noch nicht einen – aber wir werden ja sehen.«
»Was willst du denn tun?« fragte angstvoll das junge Mädchen, das sich durch Ilses Ruhe immer beklommener fühlte. »Hast du die Absicht, an Papa und Mama zu schreiben?«
»Nein, Irma, denn dann würdest du dem Baron sofort entsagen müssen. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, ihnen vorläufig die Sache noch zu verschweigen, aber ich habe Mitleid mit dir und will erst erforschen, was für eine Art Persönlichkeit dein Baron ist.«
»Du bist ein Engel, Großmama. Aber warum glaubst du, daß Mama so streng mit mir ins Gericht gehen würde? Sie ist eine Künstlerin und würde sich wohl in meine Lage hineinversetzen können.«
Ilse fühlte ihre alte Heftigkeit in sich aufsteigen.
»Gerade weil deine Eltern Künstler sind, Irma,« erwiderte sie, mit vor Erregung funkelnden Augen, »und durch ihr Talent und ihre Leistungen so unendlich hoch über den eingebildeten Adlichen stehen, die sich durch ihre Geburt und ihr Geld für bevorrechtet halten, würde ihr Stolz nie gestatten, daß ihre Tochter in eine Familie einträte, die hochmütig auf sie herabsieht. Es tut mir weh, Kind, daß von diesem echten, edlen Stolze sich nichts in deinem Charakter zu finden scheint. Selbst angenommen, daß dieser Baron von Hochstein dir treu bleibt, sollte dich der Gedanke abschrecken, daß seine Eltern dich nur dulden, nie aber mit wahrer Liebe aufnehmen würden.«
»Was gehen mich seine Eltern an, wenn er mich nur liebt!« sagte Irma.
Ilse seufzte. »So würde ich nicht gedacht haben, selbst als ich so jung war wie du, mein Kind. Doch, je älter wir werden, desto mehr sehen wir ein, daß wir andere Menschen nicht nach uns beurteilen dürfen. Wenn du den Stolz, von dem ich sprach, nicht besitzest, kannst du auch nicht fühlen, was ich meine.«
Irma empfand diese Worte als einen Tadel, fühlte auch unklar und unbestimmt, daß Großmama recht hatte, aber sie wollte jetzt lieber nicht darüber nachdenken. Sie ergriff schüchtern Ilses Hand, streichelte sie und wiederholte ihre Frage:
»Was willst du tun, Großmama?«
»Wann hast du die nächste Zusammenkunft mit dem jungen Manne verabredet?
»Mittwoch in acht Tagen.«
»Gut. Schreibt ihr euch?«
»Ab und zu.«
»Dann tust du es jetzt nicht. Verstehe mich recht, Irma! Wenn in dieser Zwischenzeit ein Brief von ihm kommt, so beantwortest du ihn nicht. An dem verabredeten Tage bleibst du zu Hause, und ich gehe an deiner Stelle.«
»Großmutter!« rief Irma entsetzt.
»Warum erschrickst du so davor? Ist das etwas so Fürchterliches? Ich will selbst mit dem jungen Menschen reden und danach meine Entscheidung treffen.«
»O, aber er wird so böse auf mich sein, wird mir das nie verzeihen.«
»Er hat dir nichts zu verzeihen. Ich werde ihm erzählen, wie der Hergang gewesen ist. Du brauchst nichts zu fürchten.«
»Laß mich ihm wenigstens noch einmal schreiben, Großmama, damit er vorbereitet ist.«
»Unter keinen Umständen, Irma. Du hast mich belogen und betrogen, als ich dein Vertrauen zu gewinnen suchte. Trotzdem will ich dir Glauben schenken, wenn du mir jetzt versprichst, gehorsam zu sein, und will dir das Geschehene verzeihen. Ich will dir alle Freiheit lassen, dir nicht nachspüren, aber befolgst du jetzt nicht gewissenhaft, was ich sage, so werde ich dir nie mehr vertrauen. Dann ist alles aus, und du kannst nicht mehr auf meine Liebe und Verzeihung rechnen.«
Einen so strengen, unerbittlichen Ausdruck hatte die Kleine noch nie in Großmutters Augen gesehen. Sie fühlte, daß kein Schmeicheln, kein Flehen helfen würde.
»Du hast mich doch verstanden?« fuhr Ilse fort. »Bis Mittwoch in acht Tagen suchst du keine Gelegenheit, Hochstein zu sehen, und schreibst ihm keine Zeile.«
»Ja, Großmama.«
»Gut, dann reden wir bis dahin auch kein Wort mehr darüber. Gib mir einen Kuß, Kind, und geh auf dein Zimmer. Ich möchte ein Stündchen allein sein.«
Traurig und niedergeschlagen verbrachte Irma die nächsten Tage. Oft nahte sich ihr die Versuchung, trotz dem gegebenen Versprechen Otto heimlich von dem Vorgefallenen zu unterrichten. Aber ihr besseres Ich trug den Sieg davon. Wenn sie bedachte, daß die Großmutter sie weder beaufsichtigte, noch jemals fragte, wohin sie wolle, wenn sie sich zum Ausgehen rüstete, noch ihre Briefe nachsah, dann fühlte sie, daß sie sich verachten müßte, daß sie nie mehr wagen würde, die Augen aufzuschlagen, wenn sie sich dieses Vertrauens unwert zeigte.
Sie war zu Agnes gegangen, hatte ihr unter Tränen ihr Herz ausgeschüttet, und ihrem Zorn über Fräulein Müller in den kräftigsten Ausdrücken Luft gemacht. Aber obwohl Agnes gerne zugab, daß Tante Elisabeth auch jetzt wieder, wie immer, unausstehlich gewesen war, fand Irma weiter keinen Trost bei ihr, denn sie verhehlte ihre Freude nicht, daß die Geschichte endlich herausgekommen war. Jetzt würde es sich zeigen, ob der glänzende Otto von Hochstein es aufrichtig meinte, oder ob all seine schöne Reden nicht nur hohle Phrasen waren. Agnes frohlockte innerlich geradezu über diese Wendung und wäre nur zu gern mit Ilse gegangen, um das Gesicht des jungen Herrn zu sehen, wenn er an Stelle der lieblichen, unschuldigen Enkelin die strenge, ehrwürdige Großmama erblicken würde. Dennoch enthielt sie sich des Spottes, als sie sah, wie tief betrübt die Kleine war, und bemühte sich redlich, sie aufzumuntern.
Irma hatte bisher ein unerschütterliches Vertrauen in Otto gesetzt; aber während sie ihn in warmen Worten rühmte und behauptete, Großmama und Agnes würden bald einsehen, wie unrecht sie ihm durch ihre Zweifel taten, nagte doch die Unruhe an ihrem armen Seelchen, und sie weinte in der Stille heiße Tränen bei dem Gedanken, ihr angebeteter Held könne die Probe vielleicht nicht mit Glanz bestehen. Was dann geschehen würde, wußte sie nicht und wagte auch gar nicht, danach zu fragen, denn sie bildete sich ein, sicher vor Gram zu sterben, wenn sie gezwungen würde, von ihm abzulassen.
Ilse bemerkte wohl, was in der Seele ihrer Enkelin vorging. Sie hatte Mitleid mit ihr und suchte ihr Zerstreuung zu verschaffen; aber obgleich Irma nie darüber sprach, war sie doch so erfüllt von ihrem Kummer, daß alles andere sie gleichgültig ließ. Onkel Heinz konnte es nicht mit ansehen, wie sein kleiner Liebling sich in Angst verzehrte, und tat alles, um sie aufzuheitern. Irma wußte, daß er bei Fräulein Müllers Besuch zugegen gewesen war, und als sie ihn danach zum erstenmal wiedersah, geriet sie in die peinlichste Verlegenheit. Der Professor aber machte es ihr leicht, er strich ihr liebevoll über den hübschen Krauskopf, murmelte etwas von »alles zurechtkommen, und der garstigen alten Jungfer mal 'ne gute Lehre geben«, so daß Irma ihn mit Tränen in den Augen dankbar anlächelte, ihm einen Kuß gab und ihm zuflüsterte:
»Onkel Heinz, du bist der Beste, und dich hab' ich auch am allerliebsten.« –
Es war ein herrlicher Frühlingstag, alles blühte und duftete. Flieder und Goldregen fingen an zu knospen, wie riesige Hochzeitsbuketts leuchteten die Obstbäume, überall zeigte das frische, junge Grün seine immer von neuem entzückende Schönheit.
In heiterster Stimmung, die leuchtende Pracht um ihn her in vollen Zügen genießend, angeregt und gehoben durch das überall ausschlagende, junge, muntere Leben, schritt Otto von Hochstein durch das Wäldchen, in dem er schon so oft Irma erwartet hatte. Er freute sich auf ihr Erscheinen, sah im Geiste schon voraus, wie sie binnen wenigen Minuten vor ihm stehen würde, liebreizend anzuschauen in dem neuen, schönen Frühjahrskostüm, von dem sie ihm letztmals erzählt hatte, wie sie ihn mit den wunderbar tiefen Blauaugen unter holdem Erröten ansehen, wie er mit ihr so freundlich und überzeugend reden würde, daß sie alles glaubte, was er ihr erzählte, und wie er endlich wagen dürfte, einen Kuß auf die kirschroten Lippen zu drücken, die so schelmisch und bezaubernd lächeln konnten.
Aber wo blieb sie nur? Sonst ließ sie nicht so lange auf sich warten, ja, es kam sogar vor, daß sie die Erste am Platze war. Der junge Mann lächelte selbstgefällig in dem Gedanken, wie unwiderstehlich das schöne Mädchen ihn eigentlich finden mußte. Allmählich ergriff ihn eine sonderbare Unruhe, und er trat aus dem Wäldchen heraus, um die Straße zu überschauen. Nein, Irma ließ sich nicht blicken, nur eine hochgewachsene Dame näherte sich eiligen Schrittes. Da hielt er es für richtiger, sich zurückzuziehen und hinter dem hoch aufgeschossenen Buschwerk zu verbergen. Ungeduldig eine Melodie summend, ging er hin und her; er wollte sie ein bißchen abkanzeln. Was bildete sich die Kleine denn ein, ihn so lange warten zu lassen!
Plötzlich vernahm er dicht hinter sich das Rauschen eines Kleides. Fröhlich drehte er sich um, ein Scherzwort auf den Lippen, blieb aber wie versteinert stehen, als er in der vornehm in schwarz gekleideten Dame Frau Gontrau erkannte.
Ein paar Augenblicke weidete sich Ilse offenbar an dem unverkennbaren Entsetzen des jungen Mannes, dann aber mußte sie unwillkürlich anerkennen, daß die elegante, geschmeidige Gestalt vor ihr, das schöne übermütige Antlitz mit den blitzenden Augen und den feinen Zügen wohl etwas besonders Anziehendes für ein junges Mädchen haben müsse. Als liebende und etwas schwache Großmutter war sie nur zu geneigt, Irmas Betragen nicht verzeihlich, aber doch begreiflich zu finden.
Ottos Verlegenheit hielt nur einen Moment an, er sah sofort ein, daß etwas nicht in Ordnung war. Zuerst schaute er Frau Gontrau mit einem Blick an, als erkenne er sie nicht sogleich; dann, als ob sein Gedächtnis ihm zu Hilfe käme, verbeugte er sich und wollte mit ehrfurchtsvollem Gruß vorübergehen. Doch Ilses Blick zwang ihn stehen zu bleiben.
»Herr Baron, ich möchte eine kleine Unterredung mit Ihnen haben,« begann sie.
»Das wird mir eine große Ehre sein, gnädige Frau. Bin ich so glücklich, Ihnen einen Dienst erweisen zu können?«
Er tat vollkommen unbefangen, was Ilse reizte.
»Sie brauchen mir gegenüber keine Komödie zu spielen, junger Mann,« herrschte sie ihn an. »Sie wissen sehr gut, weshalb ich hier bin.«
»In der Tat, gnädige Frau, ich bedaure …«
»Mit solchen Ausflüchten verschlechtern Sie nur die Sache,« fuhr Ilse, deren Augen vor Zorn funkelten, fort. »Ich würde besser von Ihnen denken, wenn Sie mir offen und ehrlich sagten, mit welchen Absichten Sie sich meiner Enkelin zu nahen wagten.«
»Ich hatte Fräulein Irma ersucht, vorläufig noch Schweigen über unser Verhältnis zu bewahren,« entgegnete Otto, noch sehr höflich, obwohl im Innern wütend auf Irma, weil sie seiner Meinung nach doch nicht den Mund gehalten hatte.
»Und sie war unverständig genug, sich an dies Versprechen gebunden zu halten,« erwiderte Ilse. Dann erzählte sie ihm in wenig Worten, wie das Geheimnis an den Tag gekommen war.
Hochstein biß sich auf die Lippen. Er verzieh es Irma nicht, daß sie alles gestanden hatte; in der ersten Entrüstung hielt er sie sogar für fähig, die ganze Geschichte erfunden zu haben, weil sie nicht länger zu schweigen vermochte; aber als er Ilse ins Gesicht schaute, sah er sofort ein, daß sie die Wahrheit gesprochen hatte. Es erschien ihm also klüger, einen demütigeren Ton anzuschlagen.
»Wenn Irma Ihnen alles mitgeteilt hat, gnädige Frau, dann werden Sie wohl auch vollkommen begreifen, warum ich die Sache – zu meinem Leidwesen – vorläufig noch geheim halten muß.«
»Nein, Herr Baron, das begreife ich nicht. Ich begreife durchaus nicht, wie ein feingebildeter Mann ein junges, unerfahrenes Mädchen zu überreden suchen kann, ihre Familie zu hintergehen und ihren guten Namen aufs Spiel zu setzen. Irma ist ein Kind, das nicht weiß, was es tut; ich segne den Zufall, der mich von dem Vorgefallenen in Kenntnis gesetzt hat. Nach dem, was ich von Ihnen gehört und gesehen habe, will ich noch nicht urteilen, aber ich verlange, daß Sie, wenn Sie es ehrlich und gut mit dem Mädchen meinen, das Ihnen seine Liebe geschenkt hat, noch heute Ihren Eltern von Ihren Absichten Mitteilung machen.«
»Es tut mir leid, gnädige Frau, aber das kann ich nicht, und ich habe Irma auch die Gründe auseinandergesetzt.«
»Ja, und sie war damit zufrieden; ich aber bin es nicht. Hören Sie, Herr von Hochstein, wenn Sie meine Enkelin wirklich lieben, dann durften Sie sie nicht bloßstellen, sondern mußten erst mit Ihren Eltern sprechen, um ihr eine etwaige Enttäuschung zu ersparen.«
»Ich habe ihr stets gesagt, daß ich nach bestandenem Examen mich bemühen will, die Einwilligung meiner Eltern zu erhalten.«
»Sehr schön, bis dahin darf aber dann zwischen Ihnen und Irma nicht das geringste Einverständnis mehr bestehen. Ihre Eltern mögen stolz sein; wir sind es nicht minder und – mit gleichem Recht.«
»So wollen Sie der Sache mit Gewalt ein Ende machen und uns unerbittlich auseinanderreißen, gnädige Frau?«
»Durchaus nicht. An dem Tage, an dem Ihr Herr Vater mich ehrerbietig um die Hand meiner Enkelin ersucht, will ich um Irmas willen bei meinem Schwiegersohn, dem berühmten Künstler, ein gutes Wort für Sie einlegen. Ich glaube nämlich nicht, daß Irmas Eltern von ihrer Wahl sehr eingenommen sein werden.«
»Irma hat auch noch ein Wörtchen mitzureden,« rief Otto, der sich kaum mehr beherrschen konnte, »und ich zweifle nicht, daß sie sich Ihrer Grausamkeit widersetzen wird.«
»So viel Stolz und Taktgefühl werde ich meiner Enkelin wohl noch einflößen können, als sie zu der Erkenntnis nötig hat, daß sie mit einem jungen Manne, dessen Eltern sich so hoch erhaben über sie dünken, keine Zusammenkünfte mehr haben darf. Da ich nun weiß, wie ich handeln muß, fürchte ich Ihren Einfluß auf Irma nicht mehr.«
»Ist das Ihr letztes Wort, Frau Gontrau?«
»Mein letztes, bis Ihr Vater, der Baron von Hochstein, sich an mich oder an Irmas Eltern wendet und unsere Einwilligung zu der Verlobung erbittet.«
»Dann hoffe ich Sie in nicht zu langer Zeit wiederzusehen,« sagte Otto mit verbissener Wut, indem er sich zum Abschied mit tadelloser Höflichkeit verbeugte.
»Das wird mir eine wahre Freude sein,« versetzte Ilse und entfernte sich. –
So schnell sie konnte, eilte sie nach Hause, sie wußte ja, mit welcher Ungeduld Irma sie erwartete. Und doch hätte sie gewünscht, einen recht weiten Weg vor sich zu haben, denn sie brachte schlechte Nachricht für das arme Kind.
Das junge Mädchen kam ihr auch bereits im Flur entgegen. Auf Großmutters Antlitz las sie sofort ihr Urteil. Ohne etwas zu sagen, wartete sie, bis Ilse Hut und Mantel abgelegt hatte und sie zu sich rief.
»Irma,« begann die alte Dame sehr sanft, »du bist doch wohl überzeugt, daß ich dich von ganzem Herzen lieb habe und alles tun möchte, um dir Kummer zu ersparen, nicht wahr?«
»Ja, Großmama.«
»So höre mich an, Kindchen. Ich glaube, du wirst dir die Geschichte mit Hochstein aus dem Sinn schlagen müssen; denn ich fürchte, er hat mit deinem hingebenden Vertrauen schändlichen Mißbrauch getrieben, und es hat nie in seiner Absicht gelegen, sich mit dir zu verloben und dich zu seiner Frau zu machen.«
»Du fürchtest nur, Großmama, bist also doch nicht fest davon überzeugt. Was hat er denn gesagt?«
»Aus seiner ganzen Haltung, seinem Wesen, seinem Tun und Handeln ist mir das, was ich fürchtete, zur Gewißheit geworden. Ich habe ihm gesagt, daß sein Vater entweder bei mir oder bei deinen Eltern um deine Hand für seinen Sohn anhalten muß. Wenn das geschieht, reden wir weiter darüber. Aber bis dahin dürft ihr keinerlei Verkehr miteinander haben.«
Irma schwieg.
»Ihr dürft euch weder sehen, noch schreiben. Ich erwarte beinahe mit Bestimmtheit, daß der junge Mensch durch leidenschaftliche Briefe versuchen wird, dich zum Ungehorsam zu verleiten. Wenn er dir schreibt, darfst du seine Briefe nicht lesen, sondern mußt sie mir geben.«
»Großmama!«
»Ich werde sie nicht lesen, sondern ihm uneröffnet zurücksenden.«
»Nein, Großmama, das tue ich nicht,« rief Irma, ihre Ruhe verlierend. »Er würde denken, daß ich nichts mehr von ihm wissen will. Du hast nicht das Recht, ihn so zu behandeln. Warten wir, bis er sein Examen gemacht hat. Wenn er dann nicht mit seinen Eltern spricht und nicht tut, was er mir gelobt hat, und worauf ich fest vertraue, dann magst du ihn verurteilen.«
Ilse wurde über den nichts weniger als ehrerbietigen Ton, in dem ihre Enkelin mit ihr sprach, nicht böse, sondern nahm die Hände des Mädchens sanft in die ihrigen und sagte ernst:
»Ich habe ihm verboten, irgend welche Beziehungen mit dir zu unterhalten. Handelt er meinem ausdrücklichen Wunsch zuwider, so zeigt er, daß er kein Ehrenmann ist. Überdies wird er sehr wohl begreifen, daß nicht du, sondern ich seine Briefe zurücksende. Gottlob wird's ja nicht lange dauern, bis wir vollkommene Klarheit haben. Er hat gelogen, als er sagte, daß er in drei bis vier Monaten sein Examen mache. Onkel Heinz weiß, daß es in eben so viel Wochen stattfindet.«
»Er hat mich überraschen wollen,« rief Irma mit bebenden Lippen, und bemühte sich tapfer, ihre Tränen zurückzudrängen.
Ilse schlang die Arme um sie und küßte sie.
»Mein armes, liebes Kind,« sagte sie gerührt. »Es klingt hart, und doch muß ich es aussprechen. Sei nicht zu hoffnungsvoll, sondern bereite dich auf eine Enttäuschung vor. Ich fürchte, daß dir großes Leid bevorsteht, ein Kummer, den wir alle, die wir dich lieb haben, mit unsrer Sorge und Teilnahme dir nicht ersparen, nicht erleichtern können, den du ganz allein durchkämpfen mußt.«
Sie ging hinaus und ließ das junge Mädchen allein. Irma begab sich auf ihr Zimmer. Allerhand romantische Ideen gingen ihr im Kopf herum. Sie empfand Zorn und Bitterkeit gegen ihre Großmutter. Wie kam diese nur dazu, sich ungerufen in Dinge zu mischen, die im Grund nur sie, Irma, angingen. Sie war doch schließlich nicht ihre Mutter. Und die Kleine überlegte, ob es nicht das Klügste wäre, ganz heimlich nach München abzudampfen, ihren Eltern alles zu erzählen und ihre Entscheidung anzurufen; aber erstens bangte ihr davor, die weite Reise allein zu unternehmen, zweitens fehlte ihr das nötige Geld, und endlich sagte ihr eine geheime Stimme in ihrem Innern, daß ihre Eltern der Großmama recht geben, ja vielleicht noch strenger auftreten würden – das war also nichts. Dann dachte sie daran, Gustav zu Hilfe zu rufen. Aber so, wie sie ihren Bruder kannte, sah sie ein, daß er ihr nicht helfen könne. Von Agnes war auch nichts zu erwarten. Endlich kam sie auf die verzweifelte Idee, allem und allen zu trotzen, zu Otto zu gehen und ihm zu sagen, daß sie ihn liebe, ihm vertraue und ohne ihn nicht leben könne. Wußte auch er keinen Ausweg, so wollten sie zusammen auf und davon gehen – alles war besser, als voneinander zu lassen.
Nachdem sie wohl eine Stunde mit solchen abenteuerlichen Plänen sich beschäftigt hatte, wurde sie ruhiger und fing an einzusehen, daß ihr nichts übrig blieb, als sich vorläufig zu fügen. Aber sie tat es mit einem Herzen voll Groll, denn sie fühlte sich tief gekränkt und fand, daß ihr bitteres Unrecht geschah. Ihr Gehorsam wurde überdies auf eine schwere Probe gestellt. Zwei Tage später, als sie mit Großmama beim Frühstück saß und das Dienstmädchen die Postsachen hereinbrachte, bemerkte sie, daß ein Brief von Otto an ihre Adresse darunter war. Auch Ilse war dies nicht entgangen, aber sie stellte sich ganz unbefangen und tat, als sei sie völlig in ihre Zeitung vertieft. An allen Gliedern bebend ergriff Irma den Brief, es war, als brenne das Papier in ihrer Hand, als könne sie die flehenden, leidenschaftlichen Worte durch den Umschlag hindurch lesen – dann warf sie einen verstohlenen Blick nach der scheinbar ahnungslosen Großmama; hätte diese nur wenigstens gezeigt, daß sie wußte, von wem dies Schreiben war, aber auch jetzt vertraute sie Irmas Gehorsam vollkommen.
Plötzlich warf das junge Mädchen den Brief vor die alte Dame auf den Tisch und rief mit erstickter Stimme:
»Da hast du ihn! Aber du handelst schlecht, du tötest mich!«
Und leidenschaftlich schluchzend lief sie hinaus.
Peinlich berührt schaute Ilse ihr nach. Sie vermochte das Kind nicht zu verdammen, denn in diesem heftigen Ausbruch erkannte sie sich selbst wieder, wie sie vor vielen Jahren gewesen war. Sie fragte sich, wie sie in Irmas Alter unter denselben Verhältnissen gehandelt haben würde, und kam zu der Einsicht, daß »der Trotzkopf« von damals vielleicht noch viel trotziger, eigensinniger und ungehorsamer gewesen wäre. Doch diese Selbsterkenntnis machte sie in ihrem Entschluß nicht wankend; wie groß ihr Mitleid mit dem Kinde auch war, sie mußte fest bleiben und durfte sich nicht von ihrem Gefühle beherrschen lassen.
So nahm sie denn den Brief mit einem Seufzer auf, veränderte die Adresse und sandte ihn zurück.
Noch nie war das Verhältnis zwischen Enkelin und Großmutter so unfreundlich gewesen, wie in den Tagen und Wochen, die nun folgten. Schweigend, mit einem Ausdruck, der ihr reizendes Gesichtchen entstellte, saß Irma bei den Mahlzeiten; sie sprach kaum ein Wort, und all die kleinen Vertraulichkeiten, die lieblichen Neckereien und Aufmerksamkeiten, die das Leben der beiden so gemütlich und fröhlich gemacht, hatten ein Ende. Ilse beklagte sich darüber nicht. So viel sie konnte, tat sie, als bemerke sie die Veränderung nicht, sondern bemühte sich unbefangen und liebevoll wie gewöhnlich zu sein. Sie fühlte Mitleid mit dem Kinde und schaute es nur dann traurig und vorwurfsvoll an, wenn sie auf eine freundliche Anrede eine schnippische und ungezogene Antwort bekam.
Arme, kleine Irma! Sie konnte sich nicht aufraffen; bisher war ihr Leben ein sonniges und ungetrübtes gewesen. Kummer und Enttäuschung waren ihr unbekannte Gäste, mit denen sie sich nicht abzufinden wußte. Am meisten verletzte es sie, daß sie gar so wenig Verständnis fand, wenn sie ihr Leid klagen wollte. Der Großmutter stand sie direkt feindlich gegenüber, und Agnes schalt darüber, daß sie sich so abscheulich benahm. Der Einzige, bei dem sie, wenn auch keinen Trost, so doch zärtliche Anteilnahme fand, war Onkel Heinz. Er teilte vollständig die Ansicht seiner alten Freundin Ilse, das wußte Irma, und in seiner Gegenwart legte sie ihrer Ungezogenheit und schlechten Laune Zügel an. Andrerseits aber bemühte er sich nach Kräften, sie aufzuheitern, indem er allerlei nette Pläne ausheckte, ihr häufig etwas mitbrachte, und sie überhaupt mehr verhätschelte denn je.
Eines Abends, etwa drei Wochen nach den erzählten Vorfällen, zeigte er dem jungen Mädchen eine Zeitungsnotiz des Inhalts, daß Baron von Hochstein sein Referendarexamen gemacht habe. Mit dunkelrotem Gesichtchen und glänzenden Augen schaute sie zu ihm auf, nahm ihm dann das Blatt aus der Hand und ging damit zur Großmutter. Ilse las; auch sie war angenehm überrascht.
»Na, Irma,« sagte sie freundlich, »nun hoffe ich von Herzen, daß dein Freund unsrer Spannung rasch ein Ende macht; niemand wäre froher als ich, wenn er beweisen kann, daß ich ihn falsch beurteilt habe.«
»Das wird er sicher können, Großmama,« versetzte Irma triumphierend.
Die nächsten Tage verbrachte sie in fieberhafter Erregung, die sich noch steigerte, so oft sie den Postboten erwartete. Sie sprach wieder und wieder mit der Großmama über die Möglichkeit, ja Gewißheit, daß sie von dem alten Baron oder von Otto Nachricht bekommen würden, sie hielt an ihren alten Illusionen fest und wollte das Angstgefühl, das sie oft beschlich, nicht aufkommen lassen. Tage, Wochen vergingen, keine Nachricht kam. Da flehte sie, an ihn schreiben zu dürfen, um anzufragen, ob er mit seinem Vater gesprochen habe. Ilse weigerte sich entschieden, diese Erlaubnis zu geben.
»Ich tue es doch,« rief Irma, »ich muß Gewißheit haben. So kann ich nicht weiter leben.«
»Du mußt wissen, was du tust,« entgegnete die Großmutter ruhig. »Wenn du dich so erniedrigst, deine weibliche Würde mit Füßen trittst und mir ungehorsam bist, schreibe ich noch heute an deine Eltern, dann ist hier kein Platz mehr für dich.«
Vor Aufregung bebend blickte das junge Mädchen die alte Dame an, aber in den ernsten, dunklen Augen war nur unbeugsame Festigkeit zu lesen. Zornig mit den Füßen stampfend wandte Irma sich ab.
Die Versuchung, ungehorsam zu sein und ihrer Sehnsucht nachzugeben, wäre vielleicht doch übermächtig geworden, da kam endlich die erwartete Entscheidung, wenn auch in ganz anderer Weise, als sie sich eingebildet hatte.
Einige Tage nach dem geschilderten Ausbruch nämlich reichte Ilse ihrer Enkelin, einen offenen Brief, der in der wohlbekannten Hand ihre Adresse trug.
Das Blut stieg Irma ungestüm in die Wangen, dann wurde sie totenblaß und öffnete zitternd das Blatt.
Es war eine gedruckte Anzeige der Verlobung des Barons Otto von Hochstein mit der Freiin Laura von Staufenberg.
Einige Sekunden starrte Irma wie geistesabwesend auf den verhängnisvollen Bogen, der all ihre Hoffnungen zerstörte, allem Liebesglück und Vertrauen ein jähes und grausames Ende bereitete. Sie strich sich mit der Hand über die Stirn, stand auf und wollte der Großmama die Verlobungsanzeige geben, aber plötzlich drehte sich das ganze Zimmer mit ihr im Kreise, sie schwankte und brach mit einem dumpfen Wehlaut zusammen.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Zimmer auf der Chaiselongue. Über sie gebeugt stand die Großmama, die ihr Stirn und Schläfen mit kölnischem Wasser badete und sie so unendlich liebevoll und zärtlich besorgt anschaute, daß Irma die Arme um den Hals der alten Dame schlang und in ein fassungsloses, leidenschaftliches Schluchzen ausbrach.
Kein Wort des Tadels oder Vorwurfs kam über Frau Gontraus Lippen. Sie küßte das Kind, preßte es an sich und suchte es zu beruhigen.
Irma weinte und weinte, als sollte ihr das Herz brechen.
»Es ist furchtbar hart,« flüsterte Ilse endlich, »aber du mußt darüber hinwegkommen, Liebling, du mußt.«
»Ich kann nicht, er war mein ein und mein alles, Großmama, und mein Vertrauen zu ihm war grenzenlos.«
»Armes Kind, fühlst du denn nicht, wie furchtbar er dich beleidigt, wie schändlich er dich behandelt hat?«
»Ich weiß nicht,« stöhnte die Kleine, »ich fühle nur, daß ich ihn liebe.«
Ilse seufzte, aber sie sah ein, daß Trostesworte vorläufig noch wirkungslos blieben. Nur allmählich konnte es gelingen, bei Irma das Gefühl der Gekränktheit und des beleidigten Stolzes wachzurufen, das ihr über diese erste bittere Enttäuschung hinweghelfen würde.
Als Professor Fuchs das Vorgefallene erfuhr, wurde er wütend, und ein heftiger Gichtanfall packte ihn. Er entwarf die wahnsinnigsten Pläne, wollte Hochsteins Handlungsweise überall verkünden und ihn dadurch bei seinen Korpsbrüdern unmöglich machen, wollte ihn fordern oder ihm wenigstens auf die Bude rücken und ihm die schöne Visage zerbläuen.
Nur mit Mühe gelang es seiner alten Freundin, ihn zur Vernunft zu bringen und ihm klar zu machen, daß stolzes Schweigen das Beste und Würdigste sei.
Während der nächsten Wochen schien es, als sei Irma durch diesen Schlag vollständig geknickt. Mit beunruhigend blassem Gesichtchen und mattem Lächeln ging sie umher, und eine große Mutlosigkeit hatte sich ihrer bemächtigt. Ihre schelmische Munterkeit, ihr kecker Übermut waren vollständig verschwunden. Ein freundliches Wort, eine Liebkosung trieb ihr Tränen in die Augen, und alle Pläne Ilses, ihr eine Zerstreuung zu verschaffen, beantwortete sie mit einem gleichgültigen: »Nein, lieber nicht, Großmama.«
Selbst ihre Toilette machte ihr keine Freude, und das war ein böses Zeichen. Das kleine, eitle Geschöpf, das sonst mit einem Ernst, als gälte es die wichtigsten Dinge, über eine hübsche Bluse oder einen neuen Anzug zu reden pflegte, zog des Morgens das erste beste an, was ihr unter die Hände kam; das prachtvolle Haar wurde nicht wie früher sorgfältig frisiert, sondern nachlässig und lose aufgesteckt, ohne daß Irma den Spiegel zu Rate zog. Am liebsten saß sie ganze Tage allein auf ihrem Zimmer, und nur mit Mühe ließ sie sich überreden, hinunter zu kommen. Ilse litt es freilich nicht, daß sie sich ganz absonderte, und zwang sie im Familienkreise zu erscheinen.
Onkel Fritz und Tante Marianne wußten zwar nicht genau, was vorgefallen war, aber so weit waren sie doch eingeweiht, daß sie sich Irmas verändertes Wesen erklären konnten. Sie sowohl wie Maud spielten mit keiner Silbe auf die Veranlassung an, sondern taten im Gegenteil, als merkten sie nichts. Beide hegten großes Mitleid für die Kleine und bemühten sich in ungesuchter Weise, sie etwas aufzuheitern.
Onkel Heinz war durch einen heftigen Anfall seines alten Leidens ans Haus gebunden. Der Zorn über Baron Hochstein, der Ärger, daß er ihn nicht zur Verantwortung ziehen durfte und die ganze Wut hinunterschlucken mußte, verschlimmerten das Übel in hohem Grade. Aber, während der Professor sich sonst unter ähnlichen Umständen ganz ungenießbar zeigte, und jeden, der es wagte, ihn zu besuchen, durch seine schlechte Laune und seine bissigen Ausfälle fortgraulte, schrieb er jetzt humoristische Briefchen an Irma und bat sie, zu ihm zu kommen. Als sie seiner Einladung folgte, erzählte er ihr die lustigsten Schnurren und verstand es so meisterlich sie aufzuheitern, daß sie lachen mußte und ihr Leid, wenigstens für kurze Zeit, vergaß.