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Bald darauf trafen sich Herr von Koren und der Diakon an der Brücke. Der Diakon war erregt, atmete schwer und vermied es, dem Freund in die Augen zu sehen. Er schämte sich wegen seines Schreckens von vorhin und wegen seiner nassen schmutzigen Kleider.
»Mir schien, als wollten Sie ihn totschießen,« stotterte er, »wie entgegen ist das der menschlichen Natur! Wie unnatürlich ist das!«
»Wie sind Sie eigentlich hierher gekommen?« fragte der Zoolog.
»Fragen Sie nicht. Der Böse hat mich verführt, und ich bin ihm gefolgt und wäre vor Schrecken gestorben dort im Maisfeld. Aber Gott sei Dank, Gott sei Dank. Ich bin mit Ihnen durchaus zufrieden. Auch unser guter Doktor Samoilenko wird zufrieden sein. Ein Spaß, ein Spaß. Ich bitte Sie nur dringend, sagen Sie es niemand, daß ich hier war. Sonst krieg' ich eine furchtbare Nase von der Obrigkeit. Es wird heißen: der Diakon ist Sekundant gewesen.«
»Meine Herren,« sagte der Zoolog und wandte sich an den Doktor, die Sekundanten und Lajewskij, die im Gänsemarsch herankamen, »der Herr Diakon bittet Sie, es niemand zu erzählen, daß Sie ihn hier gesehen haben. Es könnten ihm daraus Unannehmlichkeiten erwachsen.«
»Wie zuwider ist das der menschlichen Natur,« seufzte der Diakon, »verzeihen Sie gütigst, aber Sie machten ein Gesicht, daß ich glaubte, Sie würden ihn sicher totschießen.«
»Ich fühlte mich stark versucht, ein Ende zu machen mit diesem Hallunken,« sagte Herr von Koren, »aber Sie haben dazwischen geschrien, und ich hab' vorbeigeschossen. Sie haben ihn gerettet. Diese ganze Prozedur ist widerlich, weil man's nicht gewöhnt ist. Ich bin ganz müde und schwach geworden. Fahren wir also, Diakon.«
»Nein, Sie gestatten schon, daß ich zu Fuß gehe. Ich muß trocken werden, ich bin ganz durchnäßt und würde mich erkälten.«
»Nun, wie Sie meinen,« sagte der ermüdete Zoolog mit dumpfer Stimme, stieg in den Wagen und schloß die Augen, »wie Sie meinen.«
Während man einstieg, stand Kerbalai am Wege, verneigte sich tief, beide Hände auf dem Bauch, und zeigte die Zähne. Er glaubte, die Herren wären gekommen, die Natur zu genießen und Tee zu trinken, und begriff nicht, warum sie schon wieder in die Equipagen stiegen. Unter allgemeinem Schweigen fuhr man ab, und nur der Diakon blieb beim Wirtshaus.
»Im Wirtshaus gehen, Tee trinken,« sagte er zu Kerbalai, »mir will essen.«
Kerbalai sprach ausgezeichnet russisch, aber der Diakon glaubte, so ein Tatar müsse ihn besser verstehen, wenn er gebrochen russisch spräche.
»Eierkuchen backen, Käse geben.«
»Komm, komm, Pope,« sagte Kerbalai und verneigte sich, »du bekommst alles. Käse hab' ich und Wein hab' ich. Iß, was du willst.«
»Wie heißt auf tatarisch: »Gott,« fragte der Diakon, als er ins Wirtshaus trat.
»Mein Gott und dein Gott, das ist alles gleich,« sagte Kerbalai, der ihn nicht verstand, »der Gott ist bei allen einer, nur die Leute sind verschiedene. Einige sind Russen, einige sind Türken, einige sind Englische. Allerlei Leute gibt es viel, aber nur einen Gott.«
»Gut. Wenn alle Völker zu einem Gott beten, warum haltet ihr Muselmänner dann die Christen für eure ewigen Feinde?«
»Warum ärgerst du dich?« sagte Kerbalai und legte beide Hände auf den Magen. »Du bist ein Pope, ich bin ein Muselmann, du sagst! ich will essen, ich geb' dir's. Nur die reichen Leute fragen, welcher ist dein Gott, welcher ist mein Gott. Für den Armen ist das alles gleich. Iß, bitte.«
Während im Wirtshaus dieses theologische Gespräch stattfand, fuhr Lajewskij nach Hause und erinnerte sich, wie schwer ihm die Hinfahrt in der Dämmerung gewesen war, als der Weg, die Felsen und die Berge naß und dunkel waren und die unbekannte Zukunft ihm schrecklich schien wie ein bodenloser Abgrund. Und jetzt glänzten die Regentropfen auf Gras und Steinen in der Sonne, die Natur lächelte freudig, und die schreckliche Zukunft lag hinter ihm. Er sah auf Scheschkowskijs mürrisches, verweintes Gesicht und nach vorn auf die zwei Wagen, in denen Herr von Koren, seine Sekundanten und der Doktor fuhren, und ihm war, als kehrten sie vom Kirchhof zurück, wo sie einen schweren, unerträglichen Menschen begraben hatten, der sie alle am Leben gehindert hatte.
›Das ist alles vorüber,‹; dachte er von seiner Vergangenheit, und fuhr sich vorsichtig mit den Fingern über den Hals. An seiner rechten Haleseite, dicht über dem Kragen befand sich eine fingerlange, schmerzhafte Schwellung. Dort hatte die Kugel gestreift.
Und nachher, als er zu Hause angelangt war, dehnte sich für ihn ein langer Tag, seltsam, süß und nebelhaft wie das Vergessen. Als wäre er aus dem Gefängnis oder dem Hospital entlassen, sah er die längstbekannten Dinge an und erstaunte, daß Tische, Stühle, Sonnenlicht und Meer in ihm solch eine lebendige, kindliche Freude weckten, wie er sie schon lange nicht gefühlt. Nadeschda Fjodorowna war bleich und abgehärmt. Sie begriff seine milde Stimme und seine sanften Bewegungen nicht. Sie beeilte sich, ihm alles zu erzählen, was mit ihr geschehen war. – Ihr schien, als höre er nicht gut und verstände sie nicht. Sie hatte geglaubt, er würde sie verfluchen und totschlagen, wenn er alles erführe. Aber er hörte zu, streichelte ihr Gesicht und ihr Haar, sah ihr in die Augen und sagte:
»Ich habe niemand als dich.«
Nachher saßen sie lange aneinandergeschmiegt im Garten und schwiegen oder phantasierten von dem zukünftigen glücklichen Leben in kurzen, abgebrochenen Sätzen. Und es war ihnen, als hätten sie niemals zuvor so lang und so schön gesprochen.