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Zu Hause angelangt gingen Lajewskij und Nadeschda Fjodorowna in ihre dunkle, schwüle, langweilige Wohnung. Sie schwiegen beide. Lajewskij machte Licht, und Nadeschda Fjodorowna setzte sich in Mantel und Hut auf einen Stuhl und sah ihn traurig und schuldbewußt an.
Er merkte, daß sie eine Erklärung von ihm erwartete, aber das schien ihm zu langweilig, nutzlos und ermüdend. Ihm tat es schon leid, daß er so heftig gewesen war. Er griff in seine Tasche und fühlte dort zufällig den Brief, den er ihr schon jeden Tag hatte vorlesen wollen, und dachte, daß er ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenken könnte, wenn er ihr jetzt diesen Brief zeigte.
›Es wird Zeit, Klarheit in unsere Beziehungen zu bringen,‹; dachte er. ›Ich geb' ihr den Brief. Was kommt, das kommt.‹; Er zog ihn hervor und reichte ihn ihr hin. »Lies. Das geht dich an.«
Als er das gesagt hatte, ging er in sein Kabinett und legte sich im Dunkeln auf den Diwan, ohne Kopfkissen. Nadeschda Fjodorowna las, und ihr war, als senkte sich die Decke, als zögen sich die Wände um sie zusammen. Es wurde plötzlich eng, dunkel und grausig. Eilfertig bekreuzigte sie sich dreimal und flüsterte:
»Lieber Gott, schenk' ihm die ewige Ruhe.«
Dann fing sie zu weinen an.
»Wanja,« rief sie, »Iwan Andrejitsch!«
Es kam keine Antwort. Sie meinte, Lajewskij wäre wieder hereingekommen und stünde hinter ihrem Stuhl. Und sie schluchzte auf und sagte:
»Warum hast du mir nicht früher gesagt, daß er gestorben ist? Ich wäre nicht zum Picknick gefahren und hätte nicht so entsetzlich gelacht. Die Männer haben mir schlechte Dinge gesagt. Welche Sünde, welche Sünde! Rette mich, Wanja, rette mich. Ich bin verrückt. Ich bin verloren.«
Lajewskij hörte ihr Schluchzen. Ihm war unerträglich schwül, und sein Herz klopfte heftig. Verstimmt stand er auf, stellte sich mitten ins Zimmer, tastete in der Dunkelheit nach dem Stuhl am Tisch und setzte sich.
»Dieses Gefängnis,« dachte er, »ich muß fort, ich halt' es nicht aus.«
Zum Kartenspielen war es zu spät, und Restaurants gab es nicht in der Stadt. Er legte sich wieder hin und hielt sich die Ohren zu, um das Schluchzen nicht zu hören. Plötzlich fiel ihm ein, daß er zu Samoilenko gehen könnte. Um nicht an Nadeschda Fjodorowna vorbei zu müssen, stieg er durchs Fenster in den Garten, dann über den Zaun und ging die Straße hinunter. Es war finster. Gerade war ein Schiff angekommen, nach den Lichtern zu schließen, ein großer Passagierdampfer. Die Ankerkette klirrte. Vom Ufer aus schoß ein rotes Licht auf das Schiff zu. Das war das Zollboot.
Die Passagiere schlafen in ihren Kajüten, dachte Lajewskij und beneidete die fremden Leute um ihre Ruhe.
In Samoilenkos Haus waren die Fenster offen. Lajewskij schaute in eins hinein, dann in ein anderes. Drinnen war es still und dunkel.
»Alexander Dawidytsch, schläfst du?« rief er, »Alexander Dawidytsch!«
Drinnen wurde gehustet, und der Doktor rief erschrocken:
»Wer da? Herrgottsakrament!«
»Ich bin's, Alexander Dawidytsch, entschuldige.«
Nach einer kleinen Weile öffnete sich eine Tür; das bleiche Licht eines Nachtlämpchens erglänzte und die riesige Gestalt Samoilenkos erschien ganz in Weiß, mit weißer Nachtmütze.
»Was willst du?« fragte er schweratmend und schlaftrunken, und fuhr sich durch die Haare. »Wart', ich schließe gleich auf.«
»Bemüh' dich nicht, ich komm' durchs Fenster.«
Lajewskij stieg ins Fenster, trat auf Samoilenko zu und reichte ihm die Hand.
»Alexander Dawidytsch,« sagte er mit zitternder Stimme, »rette mich. Ich flehe dich an und beschwöre dich: hab' Verständnis für meine Lage. Sie ist qualvoll. Wenn das noch ein paar Tage so fortgeht, so erwürge ich mich selbst wie einen Hund!«
»Wart' einmal. Worum handelt es sich eigentlich?«
»Mach' Licht.«
»Ach,« seufzte Samoilenko und zündete ein Licht an. »Himmel, Himmel, es ist schon zwei Uhr, mein Lieber.«
»Entschuldige, ich kann aber nicht zu Hause sitzen,« sagte Lajewskij und spürte von dem Licht und der Anwesenheit Samoilenkos eine große Erleichterung. »Alexander Dawidytsch, du bist mein einziger, mein bester Freund. All meine Hoffnung ruht auf dir. Ob du willst oder nicht, hilf mir um Gottes willen heraus. Ich muß um jeden Preis fort von hier. Leih' mir das Geld dazu.«
»Ach du lieber Gott,« seufzte Samoilenko und fuhr sich durchs Haar. »Beim Einschlafen wurde ich durch das Gepfeife gestört, ein Schiff ist angekommen, und dann du – Brauchst du viel?«
»Wenigstens dreihundert Rubel. Ihr muß ich hundert lassen, und für die Reise brauch' ich zweihundert. Ich schulde dir schon vierhundert, aber ich schick' dir alles, alles.«
Samoilenko strich sich den Bart, streckte die Beine von sich und dachte nach.
»Ja,« murmelte er sinnend, »dreihundert, ja – Aber ich hab' nicht so viel. Ich muß es von jemand leihen.«
»Leih' es um Gottes willen,« sagte Lajewskij, der es Samoilenko am Gesicht ansah, daß er bereit wäre, ihm das Geld zu geben, und es auch sicher tun würde. »Treib' es auf. Ich geb' es dir sicher wieder. Ich schick' es dir, sobald ich nach Petersburg komme. Da kannst du ganz ruhig sein. – Hör' mal Sascha,« sagte er dann wie neu belebt, »wollen wir ein Glas Wein trinken.«
»Ja, das können wir.«
Sie gingen ins Eßzimmer.
»Und wie ist's mit Nadeschda Fjodorowna?« fragte Samoilenko und stellte drei Flaschen und einen Teller mit Pfirsichen auf den Tisch. »Bleibt sie am Ende da?«
»Das richte ich alles ein, alles,« sagte Lajewskij und fühlte eine unerwartete Freude, »ich schick' ihr nachher Geld, und sie kommt nach. Und dort wollen wir schon Klarheit in unsere Beziehungen bringen. Prosit, alter Freund.«
»Halt,« sagte Samoilenko, »probier' erst diesen. Der ist aus meinem Weinberg, diese Flasche ist von Nawaridse und die da von Achatulow. Versuch' alle drei Sorten und sag' mir aufrichtig deine Meinung. Meiner kommt mir etwas sauer vor. Was? Findest du nicht?«
»Ja, Alexander Dawidytsch, du hast mir Ruhe gegeben. Ich danke dir. Ich bin wie neu belebt.«
»Ist er sauer?«
»Weiß der Teufel, ich weiß nicht. Aber du bist ein großartiger, merkwürdiger Mensch!«
Samoilenko sah ihm in das bleiche, erregte, gutmütige Gesicht. Ihm fiel Herrn von Korens Ansicht ein, daß man solche Leute vertilgen müßte, und Lajewskij kam ihm wie ein schwaches, schutzloses Kind vor, das jeder beleidigen und vernichten konnte.
»Aber wenn du hinkommst, söhne dich mit deiner Mutter aus,« sagte er, »das ist nicht gut so.«
»Ja, ja, natürlich.«
Es trat ein Schweigen ein. Als die erste Flasche geleert war, sagte Samoilenko:
»Du solltest dich auch mit Herrn von Koren aussöhnen. Ihr seid doch beide vortreffliche, kluge Menschen und haßt euch wie Katze und Hund.«
»Ja, er ist ein vortrefflicher, kluger Mensch,« stimmte Lajewskij zu, er war jetzt in der Stimmung, jeden zu loben und jedem zu vergeben, »er ist ein bedeutender Mensch, aber ich kann mich mit ihm nicht einigen. Nein! Unsere Naturen sind zu verschieden. Ich bin eine welke, schwache, abhängige Natur, vielleicht könnte ich ihm in einem guten Augenblick die Hand hinstrecken, er aber würde mir voll Verachtung den Rücken kehren.«
Lajewskij trank einen Schluck, ging ein paarmal auf und ab, blieb dann mitten im Zimmer stehen und sagte:
»Ich verstehe Herrn von Koren ausgezeichnet. Er ist eine harte, kräftige, despotische Natur. Du weißt, daß er immer von seiner Expedition spricht. Und das sind keine leeren Reden. Er braucht die Einöde, die Mondnacht: ringsum in Zelten und unter freiem Himmel schlafen, hungrig und krank, von schweren Märschen ermattet, seine Kosaken, Begleiter, Träger, der Arzt, der Geistliche. Er allein schläft nicht und sitzt wie Stanley auf seinem Feldstuhl und fühlt sich als König der Einöde und Herr dieser Leute. Er zieht immer, immer weiter, seine Leute stöhnen und sterben einer nach dem andern, er aber zieht immer weiter. Endlich geht er selbst zugrunde, aber dennoch bleibt er Herrscher und König der Einöde. Denn das Kreuz auf seinem Grabe sehen die Karawanen dreißig, vierzig Meilen weit, und es herrscht über der Wüste. Schade, daß dieser Mensch nicht unter die Soldaten gegangen ist. Er wäre ein ausgezeichneter, genialer Feldherr geworden. Er wäre imstande, seine Kavallerie in einem Fluß zu ersäufen, um aus den Leichen Brücken zu bauen. Und solch eine Kühnheit nützt im Krieg mehr als alle Taktik usw. Oh, ich versteh' ihn ausgezeichnet. Sag' mal, warum treibt er sich hier herum? Was sucht er hier?«
»Er studiert die Fauna des Meeres.«
»Nein! Nein, alter Freund, nein,« seufzte Lajewskij, »mir hat einmal auf dem Dampfer ein durchreisender Gelehrter erzählt, daß das Schwarze Meer nur eine kärgliche Fauna hat und in seiner Tiefe wegen des Ueberflusses an Schwefelwasserstoff ein organisches Leben unmöglich wäre. Alle ernsthaften Zoologen arbeiten auf den biologischen Stationen in Neapel oder Villa Franca. Herr von Koren aber ist selbständig und eigensinnig. Er arbeitet am Schwarzen Meer, weil dort sonst niemand arbeitet. Er hat mit der Universität gebrochen und will von den Gelehrten und seinen Kollegen nichts wissen, weil er in erster Linie Despot und in zweiter Zoolog ist. Und du wirst sehen, er wird noch großen Lärm in der Welt machen. Den zweiten Sommer schon lebt er in diesem stinkigen Nest, weil er lieber der erste in einem Dorf als der zweite in der Stadt sein will. Hier ist er König und großes Tier. Er hält die ganze Stadt an der Leine und beugt alles unter seine Autorität. Er hat sich alle dienstbar gemacht, mischt sich in fremde Angelegenheiten, kümmert sich um alles, und alle haben Furcht vor ihm. Ich entziehe mich seinen Händen, das fühlt er und haßt mich darum. Hat er dir nicht gesagt, ich müßte vertilgt oder ins Zuchthaus gesteckt werden?«
»Ja, freilich,« lachte Samoilenko.
Lajewskij lachte gleichfalls und trank noch einen Schluck.
»Auch seine Ideale sind despotischer Natur,« sagte er lachend und biß in einen Pfirsich. »Wenn gewöhnliche Sterbliche fürs allgemeine Wohl arbeiten, so haben sie dabei ihre Nächsten im Auge, mich, dich, kurz die Menschen. In Herrn von Korens Augen dagegen sind die Menschen junge Hunde, zu geringfügige Kleinigkeiten, um den Zweck seines Lebens zu bilden. Er arbeitet, unternimmt seine Expedition und bricht sich dabei den Hals, nicht im Namen der Nächstenliebe, sondern im Namen abstrakter Begriffe, wie Menschheit, die zukünftigen Geschlechter, eine ideale Menschenrasse. Er bemüht sich um die Verbesserung der Menschenrasse, und in dieser Beziehung sind wir für ihn nur Sklaven, Kanonenfutter, Zugvieh ... Die einen möchte er ausrotten oder ins Zuchthaus sperren, die anderen mit der Disziplin an Händen und Füßen binden: er würde uns, wie ein zweiter Araktschejew, zwingen, auf Trommelsignale aufzustehen und schlafen zu gehen, würde Eunuchen anstellen, um unsere Keuschheit zu bewachen, und auf jedermann schießen, der die Schranken unserer engen, konservativen Moral überschreitet, – und alles zur Verbesserung der Menschenrasse ... Und was ist das, die menschliche Rasse? Eine Illusion, eine Fata-Morgana. Alle Despoten waren Illusionisten. Alter Freund, ich verstehe ihn ausgezeichnet. Und ich schätze ihn und leugne seine Bedeutung nicht. Auf solche Leute wie er stützt sich diese Welt. Und wäre sie uns allein überlassen, wir würden aus ihr bei all unserer Gutmütigkeit und unseren edlen Absichten das machen, was die Fliegen da aus diesem Bild machen. Jawohl.«
Lajewskij setzte sich neben Samoilenko und sagte aufrichtig hingerissen:
»Ich bin ein leerer, nichtiger, heruntergekommener Mensch! Die Luft, die ich atme, diesen Wein, die Liebe, mit einem Wort mein ganzes Leben habe ich mir bis zum heutigen Tag um den Preis von Lüge, Faulheit und Kleinmut gekauft. Bis heute hab' ich die anderen und mich selbst betrogen, ich habe darunter gelitten, und meine Leiden waren billig und schlecht. Vor Korens Haß beuge ich scheu den Rücken, weil ich zuzeiten mich selbst hasse und verachte.«
Lajewskij ging wieder erregt auf und ab und sagte:
»Ich bin froh, daß ich meine Fehler einsehe und bekenne. Das wird mir zum Siege helfen und einen anderen Menschen aus mir machen. Teurer Freund, wenn du wüßtest, wie leidenschaftlich, wie sehnsüchtig ich nach meiner Wiedergeburt dürste. Ich schwör's dir, ich werde ein Mensch sein. Ja! Ich weiß nicht, spricht der Wein aus mir oder ist's wirklich so, aber mir scheint, als hätte ich schon lange keine so hellen und reinen Augenblicke durchlebt wie eben jetzt bei dir.«
»Es ist Schlafenszeit, Freundchen,« sagte Samoilenko.
»Ja, ja. Entschuldige – gleich.«
Lajewskij suchte auf Stühlen und Fensterbrettern nach seiner Mütze.
»Danke,« murmelte er aufatmend, »danke. Freundliche und gute Worte sind besser als Almosen. Du hast mich neu belebt.«
Er fand seine Mütze, blieb stehen und sah Samoilenko unentschlossen an.
»Alexander Dawidowitsch, alter Freund,« sagte er bittend.
»Nun?«
»Erlaub' mir, bitte, bei dir zu übernachten.«
»Sei so gut. Warum denn nicht?«
Lajewskij legte sich auf dem Diwan schlafen und unterhielt sich noch lange mit dem Doktor.