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XII

Am nächsten Tag, einem Donnerstag, feierte Marja Konstantinowna den Geburtstag ihres Kostja. Mittags waren alle zu einer Pastete geladen und abends zur Schokolade. Als am Abend Lajewskij und Nadeschda Fjodorowna eintraten, fragte Herr von Koren, der schon im Wohnzimmer saß und Schokolade trank, den Doktor:

»Hast du schon mit ihm gesprochen?«

»Nein, noch nicht.«

»Also paß auf und genier dich nicht. Ich kann die Frechheit dieser Herrschaften wirklich nicht begreifen. Sie wissen doch sehr gut, wie diese Familie über ihr uneheliches Zusammenleben denkt, und doch kommen sie her.«

»Wenn man mit jedem Vorurteil rechnen wollte,« sagte Samoilenko, »so könnte man wirklich nirgends hingehen.«

»Ist denn die Abneigung der Masse gegen die außereheliche Liebe und Liederlichkeit nur ein Vorurteil?«

»Gewiß. Vorurteil und Gehässigkeit. Wenn die Soldaten eine Dirne sehen, so beginnen sie zu pfeifen und zu lachen. Frage sie aber: was sind sie selbst?«

»Nicht umsonst pfeifen sie. Daß die Mädchen ihre unehelichen Kinder erwürgen und dafür nach Sibirien kommen, daß Anna Karenina sich von einem Zug überfahren ließ, daß man in den Dörfern die Tore der Häuser, wo Mädchen, die gefehlt haben, wohnen, mit Pech beschmiert, daß uns beiden, wir wissen selbst nicht warum, an Katja ihre Unberührtheit gefällt und daß jeder das Bedürfnis nach reiner Liebe empfindet, obwohl er weiß, daß es eine solche Liebe nicht gibt, – sind das lauter Vorurteile? Das ist noch das einzige, was von der natürlichen Zuchtwahl geblieben ist, mein Lieber, und wenn es diese dunkle Macht nicht gäbe, die die Beziehungen zwischen den Geschlechtern reguliert, so hätten dir diese Lajewskijs schon gezeigt, was sie können, und die Menschheit wäre in zwei Jahren degeneriert.«

Lajewskij kam ins Wohnzimmer, begrüßte alle und lächelte gezwungen, als er Herrn von Koren die Hand reichte. Er wartete einen geeigneten Augenblick ab und sagte zu Samoilenko:

»Entschuldige, Alexander Dawidowitsch, könnte ich dich auf ein paar Worte sprechen?«

Samoilenko stand auf, legte den Arm um ihn, und sie gingen in das Kabinett des Hausherrn.

»Morgen ist Freitag,« sagte Lajewskij und kaute an seinen Nägeln, »hast du bekommen, was du mir versprochen hast?«

»Ich habe nur zweihundertundzehn. Den Rest bekomme ich heute oder morgen. Sei ganz ruhig.«

»Gott sei Dank,« seufzte Lajewskij, und seine Hände zitterten vor Freude, »du bist mein Retter, Alexander Dawidowitsch, und ich schwöre dir bei Gott, bei meinem Glück, oder wobei du willst, dieses Geld schick' ich dir sofort nach meiner Ankunft. Und auch die alte Schuld.«

»Hör' mal, Wanja,« sagte Samoilenko, faßte ihn an einem Knopf seines Rocks und wurde rot, »entschuldige, daß ich mich in deine Familienangelegenheiten mische, aber – warum reisest du nicht zusammen mit Nadeschda Fjodorowna?«

»Komischer Mensch, ist das denn möglich? Einer von uns muß unbedingt hier bleiben, sonst bocken die Gläubiger auf. Ich habe doch in den Läden hier etwa siebenhundert Rubel Schulden, wenn nicht noch mehr. Wart' nur, ich schick' ihnen das Geld und stopfe ihr Maul, dann kann sie auch abreisen.«

»So. – Aber warum schickst du sie nicht voraus?«

»Heiliger Herrgott, ist das denn möglich?« sagte Lajewskij erschrocken: »Sie ist doch ein Frauenzimmer, was soll sie dort allein machen? Was weiß sie? Das ist nur Zeitverschwendung und fortgeworfenes Geld.«

›Ganz vernünftig,‹; dachte Samoilenko, aber er erinnerte sich der Unterredung mit Herrn von Koren, bezwang sich und sagte mürrisch: »Ich kann dir nicht zustimmen. Entweder fahr mit ihr zusammen oder schick' sie voraus, sonst geb' ich dir das Geld nicht. Das ist mein letztes Wort.«

Er konzentrierte sich rückwärts, öffnete mit der Schulter die Tür und kam ganz rot und aufgeregt ins Wohnzimmer zurück.

›Freitag, Freitag,‹; dachte Lajewskij, als er ins Wohnzimmer trat. – ›Freitag.‹;

Man gab ihm eine Tasse Schokolade. Er verbrühte sich Lippen und Zunge mit dem heißen Getränk und dachte: ›Freitag, Freitag.‹;

Das Wort Freitag wollte ihm durchaus nicht aus dem Kopf. Er dachte nur an den Freitag, und ihm war nur das eine klar, nicht im Kopf, sondern irgendwo unter dem Herzen, daß er am Sonnabend nicht reisen könnte. Vor ihm stand, akkurat wie immer, Nikodim Alexandrowitsch mit seinen vorwärtsgekämmten Haaren und bat:

»Ach, bitte, bedienen Sie sich doch!«

Maria Konstantinowna zeigte den Gästen Katjas Schulzeugnisse und sagte singend:

»Es ist jetzt wirklich furchtbar schwer in der Schule. Es wird so viel verlangt –«

»Ach, Mama,« seufzte Katja, die sich vor Verlegenheit und Lobeserhebungen kaum zu bergen wußte.

Lajewskij sah sich die Zeugnisse gleichfalls an und lobte sie. Religion, russische Sprache, Betragen, die Einser tanzten vor seinen Augen, und alles das, vereint mit dem Freitag, der sich in ihm festgebohrt hatte, mit Nikodim Alexandrowitschs vorwärts gekämmten Löckchen und Katjas roten Wangen verkörperte sich ihm als die unbegrenzte, unbesiegbare Langeweile. Er hätte fast aufgeschrien und fragte sich: Soll ich denn wirklich, wirklich nicht abreisen?

Zwei Kartentische wurden aneinander gerückt und man setzte sich, um das Postspiel zu spielen. Lajewskij setzte sich auch.

›Freitag, Freitag,‹; dachte er, lächelte und zog einen Bleistift aus der Tasche. – ›Freitag.‹;

Er wollte seine Lage überdenken, wagte es aber nicht, zu denken. Schrecklich war ihm das Bewußtsein, daß der Doktor ihn auf dem Betrug ertappt hatte, den er so lange und sorgfältig vor sich selbst hatte verbergen können. Bei den Träumen von der Zukunft hatte er seinen Gedanken nie volle Freiheit gegeben. Er würde in den Zug steigen und abfahren. Damit entschied sich die Frage seines Lebens, und weiter dachte er nicht. Wie ein fernes, trübes Feuerchen auf weitem Felde blitzte zuweilen in seinem Kopf der Gedanke auf, daß er einst in ferner Zukunft in einer kleinen Petersburger Winkelgasse zu einer kleinen Lüge würde seine Zuflucht nehmen müssen, um von Nadeschda Fjodorowna loszukommen und seine Schulden zu bezahlen. Nur einmal würde er lügen, dann würde die volle Erneuerung eintreten. Und das war gut. Um den Preis einer kleinen Lüge würde er die große Wahrheit kaufen.

Jetzt aber, als der Doktor durch seine Bedingung so rauh auf den Betrug hingewiesen hatte, wurde ihm klar, daß er nicht nur einmal in ferner Zukunft würde lügen müssen, sondern auch heute und morgen und nach einem Monat und vielleicht bis an sein Lebensende. Tatsächlich, um fortzukommen, mußte er Nadeschda Fjodorowna, seine Gläubiger und seine Vorgesetzten anlügen. Um nachher in Petersburg Geld zu bekommen, mußte er seiner Mutter vorlügen, daß er mit Nadeschda Fjodorowna bereits auseinander sei. Und die Mutter würde ihm nicht mehr als fünfhundert Rubel geben. Also hatte er den Doktor schon betrogen, denn er würde nicht imstande sein, ihm das Geld so bald zu schicken. Und dann, wenn Nadeschda Fjodorowna nach Petersburg käme, würde er eine ganze Reihe von kleinen und großen Lügen brauchen, um von ihr loszukommen. Und wieder Tränen, Langeweile, ein verfehltes Leben, Reue. Es würde also gar keine Wiedergeburt geben. Ein Betrug und weiter nichts. Vor Lajewskijs Geist türmte sich ein ganzer Berg von Lüge. Um ihn mit einemmal zu überspringen und nicht so in kleinen Teilen zu lügen, hätte er sich zu einer energischen Maßregel entschließen müssen. Er hätte zum Beispiel, ohne ein Wort zu verlieren, aufstehen, seine Mütze nehmen und ohne Geld abreisen sollen. Aber Lajewskij fühlte, das vermochte er nicht.

›Freitag, Freitag,‹; dachte er. – ›Freitag.‹;

Die andern beschrieben kleine Zettel, falteten sie zusammen und warfen sie in einen alten Zylinderhut des Hausherrn, und als es genug war, ging Kostja als Postillon um den Tisch und teilte sie aus. Der Diakon, Katja und Kostja hatten komische Briefe bekommen, sie bemühten sich noch komischere Antworten zu schreiben und waren ganz begeistert.

»Wir müssen noch miteinander sprechen,« las Nadeschda Fjodorowna auf einem Zettel. Sie wechselte einen Blick mit Marja Konstantinowna, und die lächelte lindenblütenhaft und nickte ihr zu.

›Wovon sollen wir sprechen?‹; dachte Nadeschda Fjodorowna. – ›Wenn man nicht alles erzählen kann, dann hat das Sprechen überhaupt keinen Zweck.‹;

Vor diesem Besuch hatte sie Lajewskij die Krawatte gebunden, und die kleine Operation hatte ihre Seele mit Zärtlichkeit und Trauer erfüllt. Sein erregtes Gesicht, die zerstreuten Blicke, seine Blässe und die unverständliche Wandlung, die sich in letzter Zeit mit ihm vollzogen hatte, und ferner, daß sie ein schreckliches, schmachvolles Geheimnis vor ihm hatte, alles das kündete ihr, sie würden nicht mehr lange beisammen bleiben. Sie sah ihn an wie ein Heiligenbild, voll Furcht und Reue, und dachte: ›Verzeih, verzeih.‹; – Ihr gegenüber saß Atschmianow und wandte seine schwarzen, verliebten Augen nicht von ihr. Und wieder regten ihre Wünsche sie auf, sie schämte sich vor sich selbst und hatte die Furcht, daß selbst Kummer und Leid sie nicht von unreiner Leidenschaft retten würden, und daß sie wie ein Gewohnheitssäufer nicht mehr die Kraft hätte, zu widerstehen.

Um dieses Leben nicht weiterzuführen, das schimpflich für sie und beleidigend für Lajewskij war, beschloß sie fortzureisen. Sie wollte ihn unter Tränen anflehen, sie ziehen zu lassen, und sollte er sich widersetzen, würde sie heimlich von ihm gehen. Sie wollte ihm nichts davon erzählen, was geschehen war. Er sollte eine reine Erinnerung von ihr behalten.

»Ich liebe, liebe, liebe dich,« las sie. Der Zettel kam von Atschmianow.

Sie würde irgendwo in der Einsamkeit leben und arbeiten und Lajewskij anonym Geld schicken und gestickte Nachthemden und Tabak. Zu ihm zurückkehren wollte sie erst, wenn er alt wäre oder wenn er einmal gefährlich erkranken und eine Pflegerin brauchen sollte. Im Alter würde er erfahren, warum sie sich geweigert, seine Frau zu werden, und ihn verlassen hatte, dann würde er ihr Opfer zu schätzen wissen und ihr verzeihen.

»Sie haben eine lange Nase.« Das hatte ihr wahrscheinlich der Diakon geschrieben oder Kostja.

Nadeschda Fjodorowna malte sich aus, wie sie beim Abschied Lajewskij heftig umarmen, ihm die Hand küssen und ihm schwören würde, ihn ihr ganzes, ganzes Leben lang lieb zu behalten. Und nachher, in der Einsamkeit, unter fremden Leuten, würde sie jeden Tag daran denken, daß ihr irgendwo ein Freund lebte, ein geliebter Mensch, ein Reiner, Edler, Erhabener, der eine unbefleckte Erinnerung von ihr bewahrte.

»Wenn Sie mir nicht für heute ein Rendezvous bestimmen, erzähle ich alles Lajewskij und mache Ihnen einen öffentlichen Skandal.« Das kam von Kirillin.


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