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Lajewskij bekam zwei Zettel. Er entfaltete den ersten und las: »Reise nicht, mein Engel.«
Wer konnte ihm das schreiben? Samoilenko natürlich nicht. Auch der Diakon nicht, der konnte ja nicht wissen, daß er abreisen wollte. Am Ende Herr von Koren?
Der Zoolog beugte sich über den Tisch und zeichnete eine Pyramide. Lajewskij schien es, als leuchteten seine Augen. Wahrscheinlich hat Samoilenko sich verplappert, dachte er.
Auf dem anderen Zettel stand in derselben unruhigen Schrift mit den langen Schwänzen und Schnörkeln: »Ich weiß jemand, der am Sonnabend nicht reist.«
›Albernes Machwerk,‹; dachte Lajewskij. – ›Freitag, Freitag.‹;
Ihm stieg etwas in die Kehle. Er lockerte an seinem Kragen und hüstelte, aber statt des Hustens brach ein Lachen hervor.
»Hahaha,« lachte er – »Hahaha!« – ›Warum tu' ich das?‹; dachte er. – »Hahaha!«
Er versuchte, an sich zu halten, bedeckte den Mund mit der Hand, aber das Lachen drohte ihm Hals und Brust zu zersprengen, er konnte die Hand nicht vor dem Mund lassen.
›Wie dumm ist das doch!‹; dachte er und wand sich vor Lachen, ›bin ich denn verrückt geworden?‹;
Sein Lachen klang immer höher und höher und ging schließlich in eine Art Gebell über. Lajewskij wollte aufstehen, aber seine Beine parierten ihm nicht, und seine rechte Hand tanzte wider seinen Willen ganz sonderbar auf dem Tisch umher, griff zitternd nach den Zetteln und zerknitterte sie. Er sah erstaunte Augen, Samoilenkos ernstes, erschrockenes Gesicht und den Blick des Zoologen, der voll war von kaltem Spott und Hohn, und begriff, daß er einen hysterischen Anfall hatte.
›Wie scheußlich, welche Blamage,‹; dachte er und fühlte warme Tränen auf seinem Gesicht. ›Herrgott, die Schande! So was hab' ich doch sonst nie gehabt.‹;
Er wurde umfaßt und irgendwohin geführt. Dabei stützte jemand von hinten seinen Kopf. Dann blitzte ein Glas vor seinen Augen auf und schlug an seine Zähne, Wasser lief ihm auf die Brust hinunter. Er erblickte ein kleines Zimmer, mitten darin zwei Betten nebeneinander, überdeckt mit sauberen, schneeweißen Decken. Er warf sich auf das eine und schluchzte auf.
»Ruhig, ruhig,« redete Samoilenko ihm zu, »das kann passieren, kann passieren.«
Ganz kalt vor Schrecken, am ganzen Körper zitternd und voll schlimmer Ahnungen stand Nadeschda Fjodorowna am Bett und fragte:
»Was fehlt dir? Was denn? Um Gottes willen, sprich doch!«
›Kirillin hat ihm am Ende was geschrieben,‹; dachte sie.
»Es ist nichts,« sagte Lajewskij lachend und weinend, »geh hinaus, mein Schatz.«
Sein Gesicht drückte weder Haß noch Ekel aus: er wußte also nichts. Nadeschda Fjodorowna beruhigte sich etwas und ging ins Wohnzimmer.
»Regen Sie sich nicht auf, meine Liebe,« sagte Marja Konstantinowna, setzte sich neben sie und ergriff ihre Hand, »das geht vorüber. Die Männer sind ebenso schwach wie wir armen Frauen. Sie beide leben jetzt in einer Krisis. Das ist so verständlich! Nun, meine Liebe, ich warte auf Ihre Antwort. Wollen wir über die Sache reden.«
»Nein, nein,« sagte Nadeschda Fjodorowna und horchte auf Lajewskijs Schluchzen, »ich fühle mich nicht wohl, erlauben Sie mir, nach Hause zu gehen.«
»Um des Himmels willen, meine Liebe,« sagte Marja Konstantinowna erschrocken, »Sie werden doch nicht glauben, daß ich Sie ohne Abendessen fortlasse? Essen Sie doch zuerst etwas.«
»Ich fühl' mich nicht wohl,« flüsterte Nadeschda Fjodorowna und hielt sich mit beiden Händen an der Stuhllehne, um nicht hinzufallen.
»Er hat die Epilepsie!« sagte Herr von Koren lustig und kam ins Wohnzimmer. Aber als er Nadeschda Fjodorowna erblickte, wurde er verlegen und ging hinaus.
Als der Anfall vorüber war, saß Lajewskij auf dem fremden Bett und dachte: ›Die Blamage, ich hab' losgeheult wie ein kleines Mädchen. Jetzt komme ich allen lächerlich und scheußlich vor. Ich werde mich durch die Hintertür drücken. Uebrigens, das würde aussehen, als legte ich meinem Anfall eine ernste Bedeutung bei. Ich sollte eigentlich einen Scherz aus der Geschichte machen.‹;
Er besah sich im Spiegel, saß noch eine Weile, dann ging er ins Wohnzimmer.
»Da bin ich auch wieder!« sagte er lächelnd. Er schämte sich schrecklich und hatte das Gefühl, als schämten sich auch die anderen in seiner Gegenwart. »Solche Sachen kommen vor,« fuhr er fort und setzte sich, »ich sitze da und, wissen Sie, plötzlich fühl' ich einen entsetzlichen stechenden Schmerz in der Seite. Unerträglich, meine Nerven hielten es nicht aus und – und da kam diese dumme Geschichte. Ja, unsere nervöse Zeit, da ist nichts zu wollen.«
Beim Abendessen trank er Wein und unterhielt sich. Dazwischen aber seufzte er zitternd und strich sich mit der Hand über die Seite, als wollte er zeigen, daß er noch immer Schmerzen hätte. Und niemand außer Nadeschda Fjodorowna glaubte ihm, und er empfand das.
Um zehn Uhr machte man einen Spaziergang über den Boulevard. Nadeschda Fjodorowna fürchtete eine Unterredung mit Kirillin und hielt sich die ganze Zeit an der Seite Marja Konstantinownas oder der Kinder. Sie war noch ganz schwach vor Schrecken und traurigen Gedanken, sie fühlte ein Fieber kommen und setzte gequält und mühsam einen Fuß vor den andern, ging aber nicht nach Hause, weil sie sicher war, daß Kirillin oder Atschmianow ihr folgen würden, oder beide zugleich. Kirillin ging neben Nikodim Alexandrowitsch hinter ihr und trällerte halblaut:
»Ich laß nicht mit mir spie–len. Ich laß nicht mit mir spie–len.«
Vom Boulevard ging man am Strand entlang zum Pavillon und bewunderte lange das Meeresleuchten. Herr von Koren begann zu erzählen, wodurch dieses Leuchten entstände.