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Deutsch von Wladimir Czumikow
Die Kreisstadt N. hat ein Regierungsgebäude aus schmutzig roten Backsteinen, in dem abwechselnd die Kreisregierung, das Friedensgericht, die Gemeindeverwaltung, die Akzisebehörde, die Aushebungskommission und viele andere Behörden tagen. An einem feuchten Herbsttag hielt dort das Schwurgericht auf seiner Rundfahrt durch die Provinz eine Sitzung ab. Ueber das braunrote Regierungsgebäude hatte einmal ein höherer Beamter folgenden Witz gemacht:
»Da wohnt die heilige Justitia, die heilige Hermandad und die heilige Militia, das reine adlige Fräuleinstift.«
Im Sprichwort heißt es: viele Köche verderben den Brei. So geht es auch in diesem vielseitigen Hause. Wer nicht daran gewöhnt und kein Beamter ist, den verblüfft und peinigt es durch sein trübseliges Kasernengesicht, durch seine Baufälligkeit und den gänzlichen Mangel jeden Komforts innen und außen. Auch an den hellsten Frühlingstagen scheint ein finsterer Schatten darüber zu liegen, und in lichten Mondnächten, wenn die Bäume und die kleinen Privathäuser im dichten Schatten verschwimmen und in festen Schlummer sinken, erhebt es sich allein schwerfällig und häßlich mit seinen schweren Steinen über die bescheidene Landschaft und stört die allgemeine Harmonie und schläft nicht. Es ist, als könnte es die lastenden Erinnerungen an frühere ungesühnte Sünden nicht los werden. Innen sieht es aus, wie in einer Scheune, wirklich nicht anziehend. Merkwürdig, wie sich alle diese großartigen Herren Staatsanwälte, Richter und Vorsitzenden, die zu Hause wegen eines leichten Zugwindes, wegen eines Fleckchens auf dem Fußboden die größten Szenen machen, hier so leicht mit der ewig summenden Ventilation, dem widerlichen Gestank der Räucherkerzen und den schmierigen, ewig feuchten Wänden aussöhnen.
Die Schwurgerichtssitzung hatte um zehn Uhr früh begonnen. Ohne Zögern und mit merklicher Eile wurde in die Untersuchung eingetreten. Die Strafsachen tauchten nacheinander auf und wurden schnell erledigt. Niemand konnte einen einheitlichen und deutlichen Eindruck gewinnen von dieser bunten, schnell vorüberfließenden Menge von Gesichtern, Bewegungen, Reden, von Unglück, Wahrheit und Lüge. Bis zwei Uhr war viel getan. Zwei Leute waren zu Zuchthaus verurteilt, einer zu Gefängnis und Ehrverlust, einer war freigesprochen, und eine Sache hatte man vertagt.
Genau um zwei Uhr kündete der Vorsitzende die Verhandlung »gegen den Bauern Nikolai Charlamow wegen Ermordung seiner Frau« an. Die Zusammensetzung des Gerichtshofes blieb dieselbe wie bei der vorhergehenden Sache, nur der Verteidiger war ein anderer, ein junger, bartloser Referendar in einem Rock mit blanken Knöpfen.
»Führen Sie den Angeklagten herein,« befahl der Vorsitzende.
Aber der war vorbereitet und schritt schon auf seinen Platz zu. Es war ein hochgewachsener, kräftiger Bauer in den Fünfzigen mit gänzlich kahlem Kopf, apathischem, behaartem Gesicht und großem, rotem Bart. Hinter ihm her ging ein kleiner, treuherzig aussehender Soldat mit Gewehr.
Als sie fast bei der Anklagebank waren, passierte dem Begleitsoldaten ein kleines Malheur. Er stolperte plötzlich und ließ das Gewehr fallen, fing es aber noch rechtzeitig im Fluge auf. Dabei stieß er sein rechtes Knie heftig am Geländer. Im Publikum begann man zu kichern. Der Soldat wurde sehr rot, vor Schmerz, oder weil er sich wegen seiner Ungewandtheit genierte.
Nachdem an den Angeklagten die üblichen Fragen gerichtet, die Geschworenen ausgelost und die Zeugen aufgerufen und vereidigt waren, begann die Vorlesung der Anklageschrift. Der engbrüstige, blasse Sekretär, dem seine Uniform viel zu weit geworden war und der auf der Wange ein Pflaster trug, las mit leiser, tiefer Baßstimme, ohne jede Modulation, als fürchte er seine Brust zu überanstrengen. Ihm sekundierte der Ventilator, der unermüdlich hinter dem Gerichtstisch summte, das gab ein Geräusch, das der Stille im Saale einen narkotisch einschläfernden Charakter verlieh.
Der Vorsitzende, ein noch nicht alter Mann mit äußerst müdem Gesichtsausdruck und kurzsichtig, saß regungslos in seinem Stuhl und hielt die Hand an die Stirn, als wollte er die Augen vor der Sonne schützen. Beim eintönigen Gesumme des Ventilators und des Sekretärs dachte er über etwas nach. Als der Sekretär ein wenig verschnaufte, um eine neue Seite anzufangen, richtete er sich plötzlich auf und überflog das Publikum mit einem gleichgültigen Blick. Dann beugte er sich zum Ohr des neben ihm sitzenden Richters und fragte mit einem Seufzer:
»Sie sind wohl bei Demjanow abgestiegen, Matwej Petrowitsch?«
»Ja freilich,« antwortete der und richtete sich gleichfalls auf.
»Das nächste Mal steige ich wahrscheinlich auch da ab. Wahrhaftig, bei Tipjakow kann man tatsächlich nicht absteigen. Radau, Skandal die ganze Nacht. Getrampel, Gehuste, Kindergeplärr. Geradezu unmöglich.«
Der zweite Staatsanwalt, ein dicker, wohlgenährter, brünetter Mensch mit goldener Brille und schönem, gepflegtem Bart, saß regungslos wie eine Bildsäule, das Kinn in die Hand gestützt, und las Byrons Kain. Seine Augen waren voll durstiger Neugier und die Brauen hoben sich erstaunt immer höher und höher. Von Zeit zu Zeit lehnte er sich in den Stuhl zurück, schaute teilnahmslos vor sich hin und versank dann wieder in die Lektüre. Der Verteidiger führte das stumpfe Ende seines Bleistifts auf der Tischplatte spazieren und dachte mit seitwärts geneigtem Kopf nach ... Sein junges Gesicht drückte nichts aus, als unbewegliche, kalte Langweile, wie man sie bei Schuljungen findet und Beamten, die verpflichtet sind, tagaus tagein auf demselben Platze zu sitzen, dieselben Gesichter und dieselben Wände anzusehen. Die Rede, die er halten sollte, regte ihn nicht im geringsten auf. Und was bedeutete auch so eine Rede? Auf Befehl seiner Vorgesetzten, nach längst eingerosteter Schablone würde er sie im Bewußtsein ihrer Fruchtlosigkeit und Langweiligkeit vor den Geschworenen herunterleiern, und dann – dann würde er durch Schmutz und Regen zum Bahnhof jagen und in die Provinzialhauptstadt fahren, um über ein kleines wieder irgendwohin befohlen zu werden und dort eine neue Rede zu halten. Langweilig.
Der Angeklagte hustete zuerst nervös, wobei er seinen Aermel vor den Mund hielt, und war blaß, aber bald teilte sich auch ihm die allgemeine Stille, Monotonie und Langweile mit. Mit stumpfsinnigem Respekt schaute er auf die Uniformen der Richter und die ermüdeten Gesichter der Geschworenen und blinzelte gelassen mit den Augen. Die Einrichtung und Prozedur des Gerichts, deren Bilder ihn so gequält hatten, solange er noch im Gefängnis saß, wirkten jetzt äußerst beruhigend auf ihn. Er traf hier durchaus nicht das, was er erwartet hatte. Er war des Mordes angeklagt, aber hier begegnete ihm kein drohendes Gesicht, kein entrüsteter Blick, kein lauter Ruf nach Vergeltung, kein Hauch der Anteilnahme an seinem ungewöhnlichen Los. Keiner von denen, die über ihn zu Gericht saßen, schenkte ihm einen langen, neugierigen Blick. Die schmutzigen Fenster, die Wände, die Stimme des Sekretärs, die Stellung des Staatsanwalts, alles das war durchtränkt von bureaukratischem Gleichmut und atmete Kälte, als wäre so ein Mörder ein einfaches Kanzleirequisit, als säßen nicht lebendige Menschen über ihn zu Gericht, sondern eine unsichtbare, Gott weiß von wem in Gang gesetzte Maschine.
Der ruhig gewordene Bauer wußte nicht, daß man hier an die Dramen und Tragödien des Lebens gewöhnt war, wie in einem Hospital an den Tod, und daß gerade in dieser maschinenmäßigen Leidenschaftslosigkeit der ganze Schrecken und die ganze Unentrinnbarkeit seiner Lage gipfelte. Und hätte er nicht ruhig dagesessen, wäre er aufgestanden und hätte um Gnade gebeten, mit Tränen im Auge um Mitleid gefleht, sich bitter angeklagt, wäre er gestorben vor Verzweiflung, all das hätte sich an diesen durch die Gewohnheit abgestumpften Nerven gebrochen wie die Welle am Fels.
Als der Sekretär fertig war, wischte der Vorsitzende aus irgendeinem Grunde die Tischplatte vor sich mit der Hand ab, schaute den Angeklagten lange mit zugekniffenen Augen an und fragte dann endlich in mundfauler Weise:
»Angeklagter, bekennen Sie sich schuldig, am Abend des neunten Juli, bei Sonnenuntergang, Ihre Frau ermordet zu haben?«
Der Angeklagte stand auf, hielt seinen Rock auf der Brust zusammen und sagte:
»Nein.«
Darauf schritt das Gericht eilig zur Vernehmung der Zeugen. Geladen waren zwei Frauen, fünf Bauern und der Gendarmeriewachtmeister, der den Tatbestand aufgenommen hatte. Sie waren alle mit Schmutz bespritzt, müde von der Fußwanderung und dem Warten im Zeugenzimmer, verdrießlich und finster. Alle Aussagen stimmten überein. Charlamow hatte mit seiner Frau »ordentlich« gelebt, wie alle. Geschlagen hatte er sie nur, wenn er betrunken war. Am neunten Juli, bei Sonnenuntergang, hat man die alte Frau mit zerschmettertem Schädel im Flur gefunden. Neben ihr lag in einer Blutlache ein Beil. Als man Nikolai das Unglück mitteilen wollte, fand er sich weder in der Hütte noch auf der Straße. Das Dorf wurde abgesucht, alle Kneipen und Hütten, er wurde aber nicht gefunden. Er war fort und erschien nach zwei Tagen freiwillig auf dem Amt, bleich, zerrissen, zitternd am ganzen Körper. Da hatte man ihn gebunden und in den Gemeindearrest gesteckt.
»Angeklagter,« wandte sich der Vorsitzende an Charlamow, »können Sie dem Gericht erklären, wo Sie sich die beiden Tage nach dem Morde aufgehalten haben?«
»Auf dem Feld bin ich herumgeirrt. Ohne Essen und Trinken.«
»Warum haben Sie sich denn versteckt, wenn Sie den Mord nicht begangen hatten?«
»Ich hatte so einen Schreck gekriegt. Ich hatte Angst, daß man mich einsperren würde.«
Zuletzt wurde der Kreisarzt vernommen, der die ermordete alte Frau untersucht hatte. Er teilte dem Gericht alles mit, was ihm von seinem Befundprotokoll noch im Gedächtnis geblieben war, und was er sich heute früh auf dem Wege zum Gericht zusammenkomponiert hatte. Der Vorsitzende blinzelte zu ihm hinüber und betrachtete seinen neuen, schwarzen Anzug, seine gigerlhafte Krawatte, die Bewegung seiner Lippen, und unwillkürlich tauchte in seinem Gehirn der schläfrige Gedanke auf: Jetzt trägt doch jeder Mensch einen kurzen Rock, warum hat er sich einen langen machen lassen? Merkwürdig.
Hinter dem Stuhle des Vorsitzenden ertönte jetzt ein vorsichtiges Stiefelknarren. Der zweite Staatsanwalt kam an den Tisch, um irgendein Papier zu holen.
»Michail Wladimirowitsch,« der Staatsanwalt beugte sich zum Ohr des Vorsitzenden, »es ist ja einfach scheußlich, wie liederlich der Korejskij die Voruntersuchung geführt hat. Der leibliche Bruder des Angeklagten ist nicht vernommen, der Schulze ist nicht vernommen, der Situationsbericht im Hause ist gänzlich unklar –«
»Was ist da zu machen?« seufzte der Vorsitzende und lehnte sich in seinen Sessel zurück, »der Kerl ist eine Ruine, eine Sanduhr!«
»Apropos,« flüsterte der Staatsanwalt weiter, »sehen Sie mal hin, im Publikum, auf der vordersten Bank, der Dritte von rechts, der mit dem Schauspielergesicht – – das ist hier so der Rothschild. Der Mann hat fünfmalhunderttausend Rubel.«
»Wirklich? Man sieht's ihm nicht an. – Was meinen Sie, Herr Staatsanwalt? Machen wir jetzt eine Pause?«
»Bringen wir diese Sache erst zu Ende. Dann.«
»Wie Sie wünschen. – Also«, der Vorsitzende sah den Arzt an, »Sie sind der Ansicht, daß der Tod sofort eingetreten ist?«
»Ja, infolge einer bedeutenden Beschädigung der Gehirnmasse.«
Als der Arzt fertig war, blickte der Vorsitzende in den Raum zwischen dem Staatsanwalt und dem Verteidiger und sagte:
»Haben die Herren vielleicht noch Fragen zu stellen?«
Der Staatsanwalt wandte die Augen nicht von seinem Kain und schüttelte den Kopf, der Verteidiger aber erhob sich plötzlich, räusperte sich und fragte:
»Herr Doktor, können Sie mir vielleicht sagen, ob es möglich ist, aus der Beschaffenheit der Wunde auf – auf den Seelenzustand des Verbrechers Schlüsse zu ziehen? Das heißt, ich möchte wissen, ob die Größe der Verletzung einen Schluß darauf zuläßt, daß der Angeklagte im Affekt gehandelt hat?«
Der Vorsitzende richtete seine schläfrigen, gleichmütigen Augen auf den Verteidiger. Der Staatsanwalt riß sich vom Kain los und sah den Vorsitzenden an. Sie schauten nur, aber kein Lächeln, keine Verwunderung, kein Unwille – nichts drückten ihre Gesichter aus.
»Mag sein,« stotterte der Arzt, »wenn man das Maß von Kraft in Betracht zieht, mit der – äh, äh – der Verbrecher den Hieb geführt hat – – übrigens, Sie verzeihen, ich habe Ihre Frage nicht ganz verstanden.«
Der Verteidiger bekam keine Antwort auf seine Frage, hielt das aber auch gar nicht für notwendig. Er wußte selbst am besten, daß diese Frage nur unter dem Einfluß der Stille, der Langweile und der summenden Ventilation in seinem Gehirn entstanden und über seine Lippen getreten war.
Als der Arzt abgetreten war, machte das Gericht sich an die Besichtigung der Ueberführungsgegenstände. Zunächst wurde ein Rock in Augenschein genommen, auf dessen Aermel sich ein dunkler Blutfleck befand. Ueber die Entstehung des Fleckens befragt, sagte der Angeklagte aus:
»Drei Tage vor dem Tode meiner Frau ließ Penjkow sein Pferd zur Ader. Ich war dabei, natürlich, um zu helfen, und da habe ich den Fleck abbekommen.«
»Aber Penjkow hat soeben ausgesagt, daß er sich Ihrer Anwesenheit bei dem Aderlaß nicht zu entsinnen vermöchte.«
»Ja, ich weiß nicht.«
»Setzen Sie sich.«
Nun wurde das Beil in Augenschein genommen, mit dem die alte Frau ermordet worden war.
»Das ist nicht mein Beil,« erklärte der Angeklagte.
»Wessen sonst?«
»Ja, ich weiß nicht. Ich habe überhaupt kein Beil gehabt.«
»Ein Bauer kommt nicht einen Tag lang ohne Beil aus. Außerdem hat Ihr Nachbar Iwan Timofejitch, mit dem Sie zusammen den Schlitten repariert haben, ausgesagt, daß es Ihr Beil wäre.«
»Davon weiß ich nichts, aber,« Charlamow streckte die Hände mit gespreizten Fingern abwehrend aus, »bei Gott, dem allmächtigen Schöpfer, ich weiß überhaupt nicht, wie lange es her ist, daß ich kein eigenes Beil mehr habe. Ich habe einmal genau so eins gehabt, vielleicht war es etwas kleiner, aber mein Sohn Prochor hat es verloren. Zwei Jahre, bevor er zu den Soldaten mußte, ist er mal in den Wald gefahren, um Holz zu holen. Da hat er mit den Burschen gebummelt und das Beil verloren.«
»Gut, setzen Sie sich.«
Dieses systematische Mißtrauen, die Unlust, ihn anzuhören, erbitterten und beleidigten Charlamow augenscheinlich. Er zwinkerte mit den Augen, und auf seine Wangen traten rote Flecken.
»Bei Gott,« fuhr er fort und reckte seinen Hals empor; »wenn Sie's nicht glauben wollen, so fragen Sie doch bitte meinen Sohn Prochor. – Proschka, wo ist das Beil?« fragte er plötzlich mit rauher Stimme und wandte sich jäh an den Begleitsoldaten: »Wo ist es?«
Es war ein schwerer Augenblick. Alle setzten sich gleichsam oder wurden niedriger. Durch alle Köpfe, soviele im Gerichtssaale waren, zuckte wie ein Blitz derselbe schreckliche, unmögliche Gedanke. Der Gedanke, es könne hier ein verhängnisvoller Zufall walten. Und keiner wagte es, dem Soldaten ins Gesicht zu sehen. Keiner wollte diesem Gedanken Glauben schenken, jeder meinte sich verhört zu haben.
»Angeklagter, es ist nicht erlaubt, mit dem Posten zu sprechen,« sagte der Vorsitzende hastig.
Keiner sah das Gesicht des Wachsoldaten, und der Schrecken flog durch den Saal, unsichtbar, als hätte er eine Maske vorgelegt. Ein Gerichtsbeamter stand leise auf und verließ auf den Zehen, mit der Hand balancierend, den Saal. Einen Augenblick später erschollen schwere Schritte und gedämpfte Laute, das Geräusch einer Postenablösung.
Alles erhob wieder den Kopf und mühte sich auszusehen, als wäre nichts passiert. Man ging wieder an die Arbeit ...