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Deutsch von Alexander Eliasberg
Abenddämmerung. Große, nasse Schneeflocken wirbeln träge um die soeben angezündeten Straßenlaternen und legen sich als weiche Decke auf die Dächer, die Pferderücken, die Schultern und Mützen. Der Droschkenkutscher Jona Potapow ist weiß wie ein Gespenst. Er hat sich zusammengekrümmt, soweit es ein lebendiger Körper überhaupt kann, und sitzt unbeweglich auf dem Bock. Wenn auf ihn auch ein ganzer Schneeberg herabgefallen wäre, so hätte er es wohl nicht für nötig gefunden, den Schnee von sich abzuschütteln ... Auch sein Pferd ist weiß und unbeweglich. Mit seiner Unbeweglichkeit, seinen eckigen Formen und den stockgeraden Beinen erinnert es an ein Pferdchen aus Lebkuchenteig, wie man es für eine Kopeke kauft. Es scheint in seine Gedanken versunken zu sein. Ein Wesen, das man vom Pfluge, von der gewohnten, grauen Umgebung losgerissen und in diese Hölle voller entsetzlicher Lichter, unaufhörlichen Lärms und rennender Menschen hineingeworfen hat, muß denken ...
Jona und sein Pferdchen stehen längst unbeweglich da. Sie sind schon am Vormittag hinausgefahren, haben aber noch immer nichts verdient. Da senkt sich aber über die Stadt die Abenddämmerung. Die blassen Farben werden lebhafter, und das Straßenleben tönt lauter.
»Kutscher, in die Wyborgsche Straße!« hört Jona. »Kutscher!«
Jona fährt zusammen und sieht durch die vom Schnee verklebten Wimpern einen Offizier im Mantel mit Kapuze.
»In die Wyborgsche Straße!« wiederholt der Offizier. »Schläfst du, oder was? In die Wyborgsche Straße!«
Zum Zeichen des Einverständnisses zupft Jona an den Zügeln, und das bewirkt, daß vom Rücken des Pferdes und von seinen eigenen Schultern ganze Haufen von Schnee herabfallen. Der Offizier setzt sich in den Schlitten. Der Kutscher schmatzt mit den Lippen, reckt wie ein Schwan den Hals, richtet sich auf und fuchtelt mehr aus Gewohnheit, als weil es nötig wäre, mit der Peitsche. Das Pferdchen reckt gleichfalls den Hals, krümmt seine stockgeraden Beine und setzt sich unsicher in Bewegung ...
»Wo fährst du hin, Verfluchter!« hört Jona gleich am Anfang aus der dunklen, hin und her flutenden Menge rufen. »Wohin jagen dich die Teufel? Fahr doch rechts!«
»Du verstehst nicht zu fahren! Fahre rechts!« schimpft der Offizier.
Auch der Kutscher einer vornehmen Equipage schimpft; ein Passant, der die Straße durchquerte und mit der Schulter in die Schnauze des Pferdchens hereingerannt ist, blickt ihn böse an und schüttelt sich den Schnee vom Aermel. Jona sitzt auf dem Bock wie auf Nadeln, arbeitet mit den Ellenbogen und blickt wie ein Betrunkener, als verstünde er nicht, wo er sich befinde und was er hier zu suchen habe.
»Was für Schurken sind sie doch alle!« spottet der Offizier. »Alle geben sich Mühe, mit dir zusammenzustoßen oder unter dein Pferd zu geraten. Es ist wohl eine Verabredung zwischen ihnen.«
Jona sieht sich nach dem Fahrgast um und bewegt die Lippen ... Er will anscheinend etwas sagen, aber aus seiner Kehle kommt nur ein Röcheln.
»Was?« fragt der Offizier.
Jona verzerrt die Lippen zu einem Lächeln, strengt seine Kehle an und röchelt:
»Herr, mir ist in der vorigen Woche, was ich sagen wollte ... mein Sohn gestorben.«
»Hm! ... Woran ist er gestorben?«
Jona wendet sich mit dem ganzen Oberkörper zum Fahrgast um und sagt:
»Wer kennt sich da aus! Wahrscheinlich an Fieber ... Drei Tage ist er im Spital gelegen und dann gestorben ... Es ist Gottes Wille.«
»Rechts fahren, Teufel!« ertönt es im Dunkeln. »Bist wohl verrückt geworden, alter Hund? Wo hast du deine Augen?!«
»Fahr zu ...« sagt der Fahrgast. »So kommen wir bis morgen nicht hin. Gib mal dem Pferd die Peitsche!«
Der Kutscher reckt wieder den Hals, erhebt sich vom Bock und schwingt mit schwerfälliger Grazie die Peitsche. Dann sieht er sich einigemal nach dem Fahrgast um, aber jener hält die Augen geschlossen und scheint gar nicht geneigt, ihm zuzuhören. Nachdem er den Fahrgast in die Wyborgsche Straße gebracht hat, bleibt er vor einem Wirtshause stehen, krümmt sich zusammen und erstarrt auf seinem Bock ... Nasser Schnee färbt wieder ihn und sein Pferdchen weiß. So vergeht eine Stunde und noch eine Stunde ...
Auf dem Bürgersteige gehen, fluchend und laut mit den Galoschen klopfend, drei junge Leute; zwei von ihnen sind groß und schlank, der Dritte klein und bucklig.
»Kutscher, zur Polizeibrücke!« schreit mit zittriger Stimme der Bucklige. »Zwanzig Kopeken für uns drei!«
Jona zupft an den Zügeln und schmatzt mit den Lippen. Zwanzig Kopeken sind zwar viel zu wenig, aber er denkt jetzt nicht an Geld ... Ihm ist es ganz gleich, ob er einen Rubel oder fünf Kopeken bekommt, wenn er nur Fahrgäste hat. Die jungen Leute treten, einander stoßend und unflätig schimpfend, vor den Schlitten und wollen sich alle drei auf einmal hineinsetzen. Nun ist die Frage, wer von den Dreien stehen soll. Nach langem Schimpfen und Streiten kommen sie zur Entscheidung, daß der Bucklige stehen muß, da er der kleinste ist.
»Nun, fahr zu!« gellt der Bucklige, sich hinter Jona stellend und ihm in den Nacken atmend. »Hau zu! Was du doch für eine Mütze hast, Bruder! Eine ärgere gibt es wohl in ganz Petersburg nicht ...«
»Hihi, hi!« lacht Jona. »Es ist halt so eine!«
»Du, es ist halt so eine, fahr zu! Wirst du den ganzen Weg so fahren? Ja? Und wenn ich dir eine herunterhaue? ...«
»Der Kopf will mir zerspringen ...« sagt einer von den beiden Langen. »Gestern bei den Dukmassows habe ich mit Waßjka zu zweit vier Flaschen Kognak ausgetrunken.«
»Ich begreife nicht, wozu du lügst!« regt sich der andere Lange auf. »Er lügt wie ein Vieh.«
»Gott strafe mich, es ist wahr ...«
»Es ist ebenso wahr, wie daß die Laus hustet.«
»Hi, hi!« grinst Jona. »Das sind mir lustige Herren!«
»Daß dich der Teufel! ...« empört sich der Bucklige. »Wirst du einmal fahren, du alte Cholera, oder nicht? Ist das ein Fahren? Gib doch mal deinem Gaul die Peitsche! Ordentlich!«
Jona fühlt hinter seinem Rücken den zappelnden Körper und die zittrige Stimme des Buckligen. Er hört die an ihn gerichteten Schimpfworte, sieht die Menschen, und das Gefühl der Einsamkeit wird weniger drückend. Der Bucklige flucht, bis ihm ein besonders kompliziertes, sechsstöckiges Schimpfwort im Halse stecken bleibt und er einen Hustenanfall bekommt. Die beiden Langen beginnen über irgendeine Nadeschda Petrowna zu sprechen. Jona sieht sich nach ihnen um. Er wartet eine kurze Pause ab, sieht sich noch einmal um und stammelt:
»Mir ist aber in der vergangenen Woche ... was wollt ich noch sagen? ... mein Sohn gestorben!«
»Wir alle werden sterben ...« bemerkt der Bucklige seufzend und wischt sich nach dem Hustenanfall den Mund ab. »Fahr zu, fahr zu! Meine Herren, so kann ich wirklich nicht weiter fahren! Wann bringt er uns hin?«
»Treib ihn doch ein bißchen an ... In den Buckel!«
»Du, alte Cholera, hörst du es? Kriegst von mir in den Buckel! ... Wenn man euch anständig behandelt, so muß man selbst zu Fuß laufen! ... Hörst du, du alter Drachen? Oder machst du dir nichts aus unseren Worten?«
Jona bekommt einen Stoß in den Nacken, den er mehr hört als fühlt.
»Hi, hi ...« kichert er. »Das sind mir lustige Herren ... Gott gebe Ihnen Gesundheit!«
»Kutscher, bist du verheiratet?« fragt einer der Langen.
»Ich? Hi, hi ... das sind mir lustige Herren! Jetzt habe ich nur noch eine Frau: die feuchte Erde ... Hi, hi ... Das heißt das Grab! ... Mein Sohn ist eben gestorben, und ich lebe noch ... Eine wunderliche Sache, der Tod hat sich in der Türe geirrt ... Statt zu mir, ist er zu meinem Sohn gekommen ...«
Jona wendet sich um, um zu erzählen, wie sein Sohn gestorben ist, aber in diesem Augenblick atmet der Bucklige erleichtert auf und erklärt, daß sie Gott sei Dank am Ziel sind. Nachdem Jona seine zwanzig Kopeken bekommen hat, blickt er lange den drei Nachtschwärmern nach, bis sie in einem dunklen Torweg verschwinden. Wieder ist er allein, wieder tritt für ihn Stille ein ... Der Gram, der für kurze Zeit nachgelassen hatte, kommt wieder und drückt ihm die Brust mit noch größerer Kraft zusammen. Jonas Augen schweifen unruhig und schmerzlich über die Menge, die sich zu beiden Seiten der Straße bewegt: ob sich nicht unter diesen Tausenden von Menschen wenigstens einer findet, der ihn anhört? Aber die Menge wogt, ohne ihn und seinen Gram zu bemerken ... Es ist ein großer, keine Grenzen kennender Gram. Wenn Jonas Brust zerspränge und sein Gram herausflösse, so würde er wohl die ganze Welt überschwemmen, und doch kann ihn kein Mensch sehen. Er findet in einer so winzigen Schale Platz, daß man ihn selbst bei Licht nicht sieht ...
Jona erblickt einen Hausknecht mit einem Sack und entschließt sich, ihn anzusprechen.
»Mein Lieber, wie spät mag es jetzt sein?« fragt er ihn.
»Zehn ... Was stehst du da? Fahr weiter!«
Jona fährt einige Schritte weiter, krümmt sich zusammen und gibt sich ganz seinem Gram hin ... Sich an die Menschen zu wenden, hält er nun für zwecklos. Es vergehen aber keine fünf Minuten, als er sich wieder aufrichtet, den Kopf schüttelt, als ob er plötzlich einen brennenden Schmerz fühlte, und an den Zügeln zupft ... Er kann es nicht länger aushalten.
– Nach Hause, – sagt er sich: – Nach Hause!
Das Pferdchen scheint seinen Gedanken erraten zu haben und läuft Trab. Nach eineinhalb Stunden sitzt Jona neben einem großen, schmutzigen Ofen. Auf dem Ofen, auf dem Fußboden, auf den Bänken, überall schnarchen Menschen. Die Luft ist dumpf und stickig ... Jona blickt auf die Schlafenden, kratzt sich und bedauert, daß er so früh heimgekehrt ist ...
– Nicht einmal für den Hafer habe ich heut zusammengefahren, – denkt er sich. – Daher kommt auch der Gram. Ein Mensch, der seine Sache versteht ... der selbst satt ist und auch ein sattes Pferd hat, ist immer ruhig ...
In einer Ecke erhebt sich ein junger Kutscher; er räuspert sich verschlafen und streckt die Hand nach dem Wassereimer aus.
»Willst du trinken?« fragt Jona.
»Gewiß will ich trinken ...«
»So ... Wohl bekomm's ... Mir ist aber, mein Lieber, mein Sohn gestorben ... Hast du es schon gehört? Diese Woche im Spital ... Ist das eine Geschichte!«
Jona sieht hin, welchen Effekt seine Worte gemacht haben, kann aber nichts bemerken. Der junge Kutscher hat sich schon die Decke über den Kopf gezogen und schläft. Der Alte seufzt und kratzt sich ... Ebenso wie der Junge trinken wollte, so will er erzählen. Es ist schon bald eine Woche, daß sein Sohn gestorben ist, und er hat darüber noch mit niemand ordentlich gesprochen ... Eine solche Sache will ausführlich und umständlich erzählt sein ... Er muß berichten, wie sein Sohn erkrankt ist, wie er sich gequält hat, was er vor dem Tode gesagt hat, wie er gestorben ist ... Er muß die Beerdigung schildern und seine Fahrt ins Spital, um die Kleider des Verstorbenen zu holen. Im Dorfe ist ihm noch die Tochter Anißja geblieben ... Auch von ihr muß er sprechen ... Gibt es denn wenig Dinge, von denen er sprechen kann? Der Zuhörer muß aber seufzen, ächzen und jammern ... Noch besser ist es mit den Frauenzimmern zu sprechen. Die sind zwar dumm, aber fangen schon nach zwei Worten zu heulen an.
– Soll ich nicht nach dem Pferde schauen? – denkt sich Jona. – Zum Schlafen hab ich noch immer Zeit ...
Er zieht sich an und geht in den Stall, wo sein Pferd steht. Er denkt an den Hafer, ans Heu, an das Wetter ... An den Sohn kann er aber, wenn er allein ist, nicht denken ... Mit einem andern kann er über ihn wohl sprechen, aber selbst an ihn zu denken, sich ein Bild zu malen, ist ihm viel zu unheimlich ...
»Du kaust?« fragt Jona sein Pferd, ihm in die glänzenden Augen blickend. »Gut, kau nur ... Wenn wir nicht für Hafer zusammengefahren haben, wollen wir Heu fressen ... Ja ... Alt bin ich schon zum Fahren ... Mein Sohn hätte fahren sollen und nicht ich ... Der war ein richtiger Droschkenkutscher ... Er hätte noch so lange leben können ...«
Jona schweigt eine Weile und fährt dann fort:
»Ja, so ist es, Freund Stute ... Kusjma Jonytsch ist nicht mehr ... Ist verschieden ... Ist so mir nichts, dir nichts gestorben ... Sagen wir mal, du hast ein Füllen und bist diesem Füllen die leibliche Mutter ... Und plötzlich ist dieses selbe Füllen gestorben ... Das tut doch weh?«
Das Pferdchen kaut, hört zu und atmet seinem Herrn in die Hände ...
Jona kommt in Schwung und erzählt ihm alles ...