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Träume

Deutsch von Alexander Eliasberg

 

Zwei Dorfpolizisten, der eine schwarzbärtig, untersetzt und so kurzbeinig, daß man, wenn man ihn von hinten anschaut, glaubt, seine Beine beginnen viel tiefer als bei den anderen Menschen, der andere mager und steif wie ein Stecken, mit schütterem rötlichen Bärtchen, geleiten einen Landstreicher, der alle Angaben über seine Personalien verweigert, in die Kreisstadt. Der eine hat einen wackelnden Gang, blickt nach allen Seiten, kaut bald an einem Strohhalm und bald an seinem Aermel, klopft sich auf die Hüften, summt etwas vor sich hin und hat überhaupt ein sorgloses und leichtsinniges Aussehen; der andere sieht dagegen, trotz seines schmächtigen Gesichts und der schmalen Schultern, solid, ernst und ungemein gesetzt aus; er erinnert an einen altgläubigen Popen oder an einen Krieger auf einer altertümlichen Ikone: »Gott hat ihm für seine Weisheit die Stirne vergrößert,« d. h. er hat eine Glatze, was die erwähnte Aehnlichkeit noch verstärkt. Der erste heißt Andrej Ptacha, der andere – Nikandr Ssaposchnikow.

Der Mann, den sie geleiten, entspricht nicht ganz der Vorstellung, die man gewöhnlich von einem Landstreicher hat. Es ist ein kleines, schmächtiges, kränkliches Männchen, mit farblosen, unbedeutenden und höchst unbestimmten Gesichtszügen. Seine Brauen sind dünn, der Blick demütig und sanft, der Schnurrbart beginnt erst zu sprossen, obwohl der Landstreicher schon über dreißig ist. Er geht unsicher und gebückt und hat die Hände tief in die Aermel gesteckt. Der Kragen seines abgeriebenen tuchenen, gar nicht bäuerlichen Mantels ist bis zum Rande seiner Mütze aufgestellt, so daß sich nur seine kleine rote Nase allein herauswagt. Er spricht mit einer einschmeichelnden Tenorstimme und hüstelt jeden Augenblick. Es ist schwer, sehr schwer, in ihm einen Landstreicher, der seinen richtigen Namen verschweigt, zu erkennen. Eher ist es ein heruntergekommener, von Gott vergessener Popensohn, ein wegen Trunksucht entlassener Schreiber, ein Kaufmannssohn oder Neffe, der seine schwachen Kräfte auf der Bühne versucht hat und nun nach Hause wandert, um den letzten Akt der Parabel vom verlorenen Sohn aufzuführen; nach der stumpfen, geduldigen Art, mit der er gegen den fürchterlichen Herbstschmutz kämpft, könnte man ihn auch für einen fanatischen Laienbruder halten, der von einem russischen Kloster zum andern zieht, überall ein »friedliches und sündloses Leben« sucht und es nirgends findet ...

Die Wanderer sind schon längst unterwegs, scheinen sich aber immer auf dem gleichen Stück Erde zu befinden. Vor sich sehen sie an die fünf Klafter der schmutzigen, schwarzbraunen Straße, hinter sich die gleichen fünf Klafter der gleichen Straße, aber dann erhebt sich, wohin sie auch blicken, eine undurchdringliche Mauer weißen Nebels. Sie gehen und gehen, und es ist immer die gleiche Erde, die weiße Mauer kommt nicht näher, und es ist, als blieben sie auf dem gleichen Fleck. Ab und zu taucht ein weißer, eckiger Stein auf, oder ein Loch im Boden, oder eine Tracht Heu, die jemand im Vorbeifahren fallen gelassen hat; eine große Pfütze leuchtet für wenige Augenblicke auf; manchmal erscheint unerwartet ein Schatten mit unbestimmten Umrissen; je näher man herankommt, um so kleiner und dunkler wird er; und wenn man ihn erreicht, so ist es ein schiefer Werstpfahl mit abgeriebener Ziffer oder eine verkümmerte Birke, so naß und nackt wie ein Bettler an der Landstraße. Die Birke flüstert etwas mit den Resten ihres gelben Laubes, ein Blättchen löst sich vom Zweig und schwebt träge zur Erde ... Und dann kommen wieder Nebel, Schmutz und braunes Gras am Straßenrande. An den Grashalmen hängen trübe, unschöne Tränen. Es sind nicht die Tränen der stillen Freude, die die Erde weint, wenn sie im Sommer die Sonne begrüßt oder begleitet und mit denen sie beim Morgenrot die Wachteln, Wiesenschnarrer und die schlanken, langbeinigen Schnepfen tränkt. Die Füße der Wanderer versinken in schwerem, klebrigem Kot. Jeder Schritt kostet große Anstrengung.

Andrej Ptacha ist etwas erregt. Er mustert immer wieder den Landstreicher und sucht zu begreifen, warum dieser lebendige, nüchterne Mensch seinen Namen und seine Abstammung verheimlicht.

»Bist du rechtgläubig?« fragt er ihn.

»Gewiß,« antwortet der Landstreicher sanft.

»Hm ... man hat dich also getauft?«

»Was denn sonst? Ich bin doch kein Türke. Ich geh auch zur Kirche, kommuniziere und beobachte die Fasttage. Ich halt' mich streng an die Religion ...«

»Nun, und wie heißt du?«

»Nenne mich wie du willst, mein Lieber.«

Ptacha zuckt die Achseln und schlägt sich erregt auf die Hüften. Der andere Polizist, Nikandr Ssaposchnikow bewahrt ein solides Schweigen. Er ist nicht so naiv wie Ptacha und kennt offenbar sehr gut die Gründe, die einen rechtgläubigen Menschen zwingen, seinen Namen und seine Abstammung zu verheimlichen. Sein ausdrucksvolles Gesicht bleibt kühl und streng; er hält sich etwas abseits von den beiden, erniedrigt sich nicht zum müßigen Geschwätz mit seinen Weggenossen und scheint allen und allem, selbst dem Nebel zeigen zu wollen, wie verständig und gesetzt er ist.

»Gott allein weiß, was man von dir halten soll,« dringt Ptacha in ihn weiter. »Ein Bauer bist du nicht, ein Herr bist du auch nicht, bist so ein Mittelding ... Neulich wusch ich im Teich die Siebe und fing so ein fingergroßes Vieh mit Flossen und Schwanz. Zuerst glaubte ich, es sei ein Fisch, dann sehe ich – verrecken soll es! – daß es Pfoten hat. Ist weder Fisch noch Schlange, der Teufel allein weiß, was es ist ... So einer bist auch du ... Von welchem Stande bist du?«

»Ich bin Bauer, aus dem Bauernstande,« antwortet der Landstreicher seufzend. »Meine Mama war eine Leibeigene. Ich sehe wirklich nicht wie ein Bauer aus; so ein Los war mir eben zugefallen, lieber Mensch. Mamachen lebte bei den Herrschaften als Kindermädchen und hatte alles, was sie nur wollte; ich aber bin ihr Fleisch und ihr Blut und lebte mit ihr im Herrschaftshause. Sie liebte mich und verzog mich und wollte mich unbedingt aus dem einfachen Stande auf eine höhere Stufe bringen. Ich schlief in einem Bett, bekam jeden Tag ein richtiges Mittagessen und trug eine Hose und Halbschuhe wie ein adliges Kind. Was Mamachen selbst aß, das bekam auch ich; wenn die Herrschaften ihr ein Kleid schenkten, so nähte sie es für mich um ... Ein schönes Leben war das! In meinen Kinderjahren habe ich so viel Konfekt gegessen, daß man dafür, wenn man es heute verkaufte, ein ordentliches Pferd kaufen könnte. Mamachen lehrte mich auch lesen und schreiben, flößte mir von Kind auf Gottesfurcht ein und erzog mich so, daß ich auch heute nicht imstande bin, ein unhöfliches, bäuerisches Wort zu sagen. Ich trinke auch keinen Schnaps, mein Lieber, kleide mich reinlich und kann mich in guter Gesellschaft anständig benehmen. Wenn Mamachen noch am Leben ist, so gebe ihr der Herr Gesundheit, und wenn sie verschieden ist, so schenke Gott ihrer Seele in seinem Reiche, wo die Gerechten ruhen, den ewigen Frieden!«

Der Landstreicher entblößt seinen spärlich mit kurzen Härchen bewachsenen Kopf, hebt die Augen zum Himmel und macht zweimal das Zeichen des Kreuzes.

»Herr, schenke ihr ewigen Frieden an benedeiter Stätte!« spricht er mit gedehnter Stimme, die wie die eines alten Weibes klingt. »Rechtfertige sie, Herr, deine Magd Xenia, vor deinem Gericht! Wenn nicht mein liebes Mamachen, so wäre ich heut ein einfacher, dummer Bauer. Was du mich auch fragst, mein Lieber, in allen Dingen weiß ich Bescheid: in den weltlichen Schriften, und in den göttlichen, und in allen Gebeten und im Katechismus. Ich lebe auch nach der Schrift ... Ich tue keinem Menschen was zuleide, bewahre mein Fleisch in Reinheit und Keuschheit, beobachte die Fasten und nehme die Speisen zur festgesetzten Zeit ein. Mancher andere Mensch kennt nur das eine Vergnügen: Schnaps zu trinken und Radau zu machen. Wenn ich aber freie Zeit habe, so setze ich mich in ein Winkelchen und lese irgendein Büchlein. Ich lese und weine dabei ...«

»Warum weinst du denn?«

»Weil es so rührend geschrieben ist! Manches Buch kostet bloß fünf Kopeken, und wenn man es liest, so weint und stöhnt man unaufhörlich.«

»Ist dein Vater tot?« fragte Ptacha.

»Ich weiß es nicht, mein Lieber. Ich kenne meinen Vater nicht, was soll ich es verschweigen? Ich bin der Ansicht, daß ich ein uneheliches Kind meiner Mama bin. Mamachen hat ihr ganzes Leben bei den Herrschaften verbracht und einen einfachen Bauern nicht heiraten wollen ...«

»Und hat einen Herrn erwischt,« bemerkt Ptacha spöttisch.

»Sie hat sich nicht in acht genommen, das stimmt. Sie war wohl fromm und gottesfürchtig, aber ihre Jungfräulichkeit hat sie nicht bewahrt. Es ist natürlich Sünde, eine schwere Sünde, das weiß ich wohl, dafür fließt aber in mir vielleicht adliges Blut. Vielleicht bin ich nur auf dem Papier Bauer, meiner Natur nach aber ein adliger Herr.«

Der »adlige Herr« sagt das alles mit leiser, süßlicher Tenorstimme; er runzelt dabei seine schmale Stirn und gibt mit seinem roten erfrorenen Näschen quietschende Töne von sich. Ptacha hört zu, blickt ihn erstaunt an und zuckt fortwährend die Achseln.

Nachdem sie sechs Werst zurückgelegt haben, setzen sich die Polizisten und der Landstreicher auf einen Erdbuckel, um auszuruhen.

»Selbst ein Hund kennt seinen Namen,« murmelt Ptacha. »Ich heiße Andrej, er – Nikandr, jeder Mensch hat seinen heiligen Namen, den er niemals vergessen darf! Niemals!«

»Wer braucht meinen Namen zu wissen?« seufzt der Landstreicher und stützt die Wange mit der Faust. »Und was für einen Nutzen habe ich davon? Wenn man mich wenigstens laufen ließe; aber ich werde es nur noch schlimmer haben als jetzt. Ich kenne ja das Gesetz, Brüder. So bin ich ein Landstreicher, der seinen Namen verheimlicht, und kann höchstens nach Ostsibirien verschickt werden und dreißig oder vierzig Knutenhiebe bekommen. Wenn ich ihnen aber meinen richtigen Namen sage, so stecken sie mich wieder ins Zuchthaus. Ich kenne das!«

»Warst du denn schon einmal im Zuchthaus?«

»Ja, lieber Freund. Vier Jahre lang ging ich mit einem rasierten Kopf herum und trug Ketten.«

»Wofür?«

»Für Menschenmord, lieber Freund! Als ich noch ein Junge war, so an die achtzehn Jahre alt, tat meine Mutter einmal aus Versehen dem Herrn statt eines Brausepulvers Arsenik ins Glas. In der Kammer standen so viele Schachteln, und es war gar nicht schwer, eine falsche zu erwischen ...«

Der Landstreicher seufzt, schüttelt den Kopf und sagt:

»Meine Mutter war wohl gottesfürchtig, aber wer kann sich da auskennen? Eine fremde Seele ist doch wie ein finsterer Wald! Vielleicht war es ein Versehen, vielleicht konnte sie auch die Kränkung nicht ertragen, daß der Herr einer anderen Magd seine Gnade schenkte ... Vielleicht hat sie es ihm auch mit Absicht ins Glas getan, das weiß Gott allein! Ich war damals klein und verstand vieles nicht ... Heute kann ich mich erinnern, daß der Herr sich eine andere Geliebte nahm und daß Mamachen sich darüber sehr grämte. Zwei Jahre lang dauerte dann der Prozeß ... Mamachen bekam zwanzig Jahre Zuchthaus, und ich als Minderjähriger nur sieben.«

»Wofür denn das?«

»Als Mitschuldiger. Ich war es doch, der das Glas dem Herrn brachte: Mamachen bereitete das Brausepulver vor, und ich reichte es ihm. Aber ich sage das, Brüder, wie ein Christ vor seinem Gott; ihr sollt es niemand wiedererzählen ...«

»Uns wird auch kein Mensch danach fragen,« versetzt Ptacha. »Du bist also aus dem Zuchthaus entlaufen, nicht wahr?«

»Gewiß, lieber Freund. Wir sind unser vierzehn Mann entlaufen. Gott gebe ihnen Gesundheit: sie sind entlaufen und haben auch mich mitgenommen. Sag nun selbst, mein Lieber, was habe ich für einen Vorteil, meinen Namen zu nennen? Man wird mich doch wieder ins Zuchthaus stecken. Bin ich aber ein Zuchthäusler? Ich bin ein kränklicher, verzärtelter Mensch und bin gewohnt, reinlich zu essen und reinlich zu schlafen. Wenn ich zu Gott bete, pflege ich ein Lämpchen oder ein Lichtchen anzuzünden, und um mich herum muß es still sein. Wenn ich mich zum Boden verneige, so darf der Boden nicht schmutzig oder bespien sein. Für Mamachen verneige ich mich beim Morgen- und beim Abendgebet je vierzigmal.«

Der Landstreicher zieht die Mütze und bekreuzigt sich.

»Sollen sie mich nur nach Ostsibirien verschicken,« sagt er. »Davor habe ich keine Angst!«

»Ist es denn besser?«

»Was ganz anderes! Im Zuchthause sitzt man wie ein Krebs im Korbe: es ist eng, ein Gedränge, man kann kaum atmen, eine richtige Hölle, die Himmelskönigin bewahre uns davor! Wenn du ein Räuber bist, so wirst du auch wie ein Räuber behandelt: schlimmer als jeder Hund. Kannst weder ruhig essen, noch schlafen, noch beten. Ganz anders ist es, wenn man einfach verschickt wird. Wenn man mich verschickt, so werde ich mich wie jeder andere in eine Dorfgemeinde aufnehmen lassen. Die Behörde ist nach dem Gesetz verpflichtet, mir einen Landanteil zu geben ... jawohl! Das Land kostet dort, wie die Leute erzählen, nichts: es hat den gleichen Wert wie Schnee – nimm soviel du willst! Ich bekomme also, mein Lieber, Land für einen Acker und für einen Gemüsegarten und für ein Haus ... Ich werde wie die anderen Menschen mein Feld bestellen, pflügen, säen, werde mir Vieh und die ganze Wirtschaft anschaffen, auch Bienen, Schafe, Hunde ... Einen sibirischen Kater, damit die Mäuse und Ratten meine Vorräte nicht fressen ... Werde mir ein Haus bauen und Heiligenbilder kaufen ... So Gott will, heirate ich und bekomme Kinder.«

Der Landstreicher blickt nicht auf seine Zuhörer, sondern auf die Seite. Wie naiv seine Zukunftsträume auch sind, so ist der Ton, in dem er erzählt, so aufrichtig und herzlich, daß man ihm glauben muß. Der kleine Mund des Landstreichers ist von einem Lächeln verzerrt, und sein ganzes Gesicht, die Augen und das Näschen im seligen Vorgeschmack des fernen Glückes erstarrt. Die Polizisten lauschen ihm und sehen ihn ernst, nicht ohne Teilnahme an. Auch sie glauben ihm alles.

»Vor Sibirien habe ich keine Angst,« fährt der Landstreicher fort. »Sibirien ist das gleiche Rußland, dort ist der gleiche Gott und der gleiche Zar wie hier, und man spricht auch die gleiche Christensprache, die ich jetzt mit euch spreche. Es ist dort nur mehr Freiheit, und die Leute leben reicher als hier. Alles ist dort besser. Die dortigen Flüsse, zum Beispiel, sind viel, viel besser als die hiesigen! Eine Menge Fische und Wild gibt es dort! Mein größtes Vergnügen ist es aber, Brüder, Fische zu fangen. Ich kann auf Brot verzichten, wenn man mir nur erlaubt, mit einer Angel am Flusse zu sitzen. Bei Gott. Ich angele mit einer gewöhnlichen Angel und mit einer Hechtangel, fange die Fische auch mit Reusen und, wenn der Eisgang beginnt, mit dem Hamen. Ich selbst habe nicht die Kraft, mit dem Hamen umzugehen, und dinge mir für fünf Kopeken einen Mann dazu. Mein Gott, ist das ein Vergnügen! Wenn man einen Aal oder eine Aesche gefangen hat, so ist es, wie wenn man seinen eigenen Bruder erblickt hätte. Und jeder Fisch verlangt eine eigene Kunst: den einen fängt man mit lebendem Köder, den anderen mit einer Larve, den dritten mit einem Frosch oder einer Grille. Das muß man alles wissen! Nehmen wir zum Beispiel den Aal. Der Aal ist kein vornehmer Fisch, er beißt auch auf einen Kaulbars an; der Hecht liebt den Gründling, der Dickkopf – einen Falter. Es gibt kein größeres Vergnügen, als eine Aesche an einer reißenden Stelle zu fangen. Man nimmt eine Schnur von zehn Ellen ohne Senkblei, mit einem Falter oder einem Käfer, so daß der Köder auf der Oberfläche schwimmt. Man steht ohne Hose im Wasser und läßt den Köder mit der Strömung schwimmen; und plötzlich gibt es einen Ruck – eine Aesche! Aber da muß man scharf aufpassen, daß die Verdammte den Köder nicht wegreißt. Sobald sie nur einmal angebissen hat, muß man die Schnur sofort herausziehen. Keinen Augenblick darf man warten. Gott, wie viel Fische hab ich schon in meinem Leben gefangen! Als ich auf der Flucht war, pflegte ich, wenn die anderen Arrestanten im Walde schliefen, zum Fluß zu gehen. Die Flüsse sind dort breit und schnell, und die Ufer steil. An den Ufern stehen dichte Wälder. Die Bäume sind so groß, daß der Kopf schwindelt, wenn man hinaufblickt. Nach den hiesigen Preisen ist jede Fichte zehn Rubel wert.«

Der elende Mensch verstummt unter dem Andrange seiner Träume, der farbenreichen Bilder der Vergangenheit und der süßen Vorahnung des Glückes und bewegt nur die Lippen, wie wenn er sich selbst etwas zuflüsterte. Ein stumpfes, seliges Lächeln weicht nicht von seinem Gesicht. Die Polizisten schweigen. Sie sind in ihre Gedanken vertieft und halten die Köpfe gesenkt. In der herbstlichen Stille, wenn der von der Erde aufsteigende kalte, unfreundliche Nebel sich auf die Seele legt, wenn er wie eine Kerkermauer vor den Augen steht und dem Menschen von der Begrenztheit seines Willens zeugt, – ist es so süß, an breite, schnelle Ströme mit schönen steilen Ufern, an undurchdringliche Wälder und grenzenlose Steppen zu denken. Langsam und ruhig malt sich die Phantasie aus, wie am frühen Morgen, wenn der Abglanz des Morgenrots den Himmel noch nicht verlassen hat, auf dem menschenleeren, steilen Ufer sich als winziger Punkt ein Mensch fortbewegt; die hundertjährigen riesengroßen Fichten, die sich zu beiden Seiten des Stromes übereinandertürmen, blicken den freien Menschen stumm und streng an; Wurzeln, große Steine und stechende Büsche versperren ihm den Weg, er ist aber an Geist und Körper stark, er fürchtet weder die Fichten, noch die Steine, noch seine Einsamkeit, noch das hallende Echo, das jeden seiner Schritte wiederholt.

Die Polizisten malen sich die Bilder eines freien Lebens aus, das sie noch nie gelebt haben; ob sie sich dunkel an etwas, was sie einmal gehört haben, erinnern oder ob sie die Vorstellungen von dem freien Leben zugleich mit dem Fleisch und Blut von ihren fernen freien Vorfahren ererbt haben, das weiß Gott allein!

Nikandr Ssaposchnikow, der bisher noch kein Wort gesagt hat, bricht als erster das Schweigen. Ob er den Landstreicher um sein gespenstisches Glück beneidet oder ob er in der Tiefe seiner Seele fühlt, daß die Träume vom Glück zu dem grauen Nebel und dem schwarzbraunen Schmutz gar nicht passen, – blickt er den Landstreicher streng an und sagt:

»Es ist ja alles sehr schön, Bruder, aber du kommst nie hin. Wie sollst du auch? Höchstens dreihundert Werst wirst du noch gehen und dann deinen Geist aufgeben. Siehst doch selbst, was für ein Kadaver du bist! Bist nur sechs Werst gegangen und kannst dich noch immer nicht verschnaufen!«

Der Landstreicher wendet sich langsam zu Nikandr um, und das selige Lächeln verschwindet von seinem Gesicht. Er blickt erschrocken und schuldbewußt auf das solide Gesicht des Polizisten, scheint sich an etwas zu erinnern und läßt den Kopf sinken. Wieder tritt Schweigen ein ... Alle drei sind nachdenklich geworden. Die Polizisten spannen ihren ganzen Geist an, um das zu erfassen, was sich höchstens Gott allein vorstellen kann: die unermeßlichen Entfernungen, die sie von den freien Ländern trennen. Im Kopfe des Landstreichers drängen sich klare und deutliche Bilder, die viel schrecklicher sind als alle Entfernungen. Er sieht vor sich unendliche Gerichtsverhandlungen, Gefängnisse und Zuchthäuser, Sträflingsbaracken, ermüdende Stationen unterwegs, kalte Winter, Krankheiten und das Sterben seiner Weggenossen ...

Der Landstreicher zwinkert schuldbewußt mit den Augen, wischt sich mit dem Aermel die mit kleinen Schweißtropfen bedeckte Stirne und pustet, wie wenn er eben aus einem heißen Dampfbade herausgesprungen wäre; dann wischt er sich die Stirne mit dem anderen Aermel und sieht sich scheu um.

»Du kommst wirklich nie hin!« bestätigt Ptacha. »Was bist du für ein Geher? Schau nur dich selbst an: Haut und Knochen! Wirst sterben, Bruder!«

»Gewiß wird er sterben! Wo will er hin?« sagt Nikandr. »Er wird auch gleich ins Lazarett kommen ... Ganz gewiß!«

Der Landstreicher blickt erschrocken auf die strengen, leidenschaftslosen Gesichter seiner unheilkündenden Weggenossen und bekreuzigt sich schnell, mit glotzenden Augen, ohne die Mütze zu ziehen ... Er zittert am ganzen Leibe, schüttelt den Kopf und windet sich wie eine Raupe, auf die man getreten ist ...

»Nun, es ist Zeit, weiter zu gehen,« sagte Nikandr, sich erhebend. »Wir haben ausgeruht!«

Nach einer Minute marschieren die Wanderer wieder über die schmutzige Landstraße. Der Landstreicher hat sich noch mehr zusammengekrümmt und die Hände noch tiefer in die Aermel gesteckt. Ptacha schweigt.


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