Paul Busson
Die Wiedergeburt des Melchior Dronte
Paul Busson

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Die Blumen waren längst verblüht, rote und gelbe Blätter tanzten von den Bäumen, und der eisige Boreas trieb die ersten Flocken an die Fenster der Stube, in der Zephyrine mit ihren Schmerzen lag.

In der Nacht hatte sich Fieber eingestellt, die rasch herbeigerufene Wehmutter schüttelte den Kopf und sagte:

»Die Frau gefällt mir gar nicht, es muß und muß eiligst ein Doktor herzu! Sie ist auch allzu schwach, um auf dem Stuhl niederzukommen.«

In der Nähe gab es nur einen tüchtigen Arzt, den weißhaarigen Doktor Anselm Hosp, und den ließ ich eiligst herbeiholen.

Während ich im Zimmer nebenan wartete und mir die Ohren zuhielt, um die gellenden Schreie und das irre Stöhnen meiner Frau nicht hören zu müssen, verfinsterte sich meine Hoffnung auf einen guten Ausgang immer mehr. Die Schmerzen und Wehen dauerten nunmehr schon tagelang an; der arme Leib Zephyrines war furchtbar aufgetrieben, und Krämpfe gingen über ihn hin. Es war kein Zweifel, daß dem einfachen und natürlichen Verlauf der Geburt ein Hindernis im Wege stand, dessen Art auch die weise Frau nicht erkennen konnte. Dann fiel mir auf, daß der mir verhaßte Geruch von bitteren Mandeln noch immer im Hause haftete. Zephyrine, der ich die Phiole mit den Tropfen Postremos gleich nach dem häßlichen Auftritt im Garten gebracht hatte, behauptete damals, das Kristallfläschchen umgestoßen und zerbrochen zu haben, weshalb auch der Mandelgeruch nicht weichen wolle. Warum machte mir auf einmal das Denken an das Geschenk des Buckels solche Angst?

Der alte Arzt kam mit einer großen schwarzen Tasche, in der Instrumente klirrten. Dieses scharfe Klirren ging mir durch Mark und Bein. Ich trat leise mit ihm an das Lager der Kreißenden und erschrak, als ich das verzerrte, verfallene, mit kaltem Schweiß bedeckte Gesicht meiner Zephyrine sah, in dem ihre großen, hellen Augen irrten und flackerten. Scharfumrissene dunkelrote Flecken hoben sich von den blutlosen Wangen ab.

»Du –«, seufzte sie kaum vernehmlich.

Ich trat ganz nahe zu ihr und flüsterte:

»Liebste, bekenne die Wahrheit – hast du von des Buckligen Trank gekostet?«

Ein schwaches Lächeln huschte über ihr leidendes Gesicht.

»Nur drei Tropfen – jeden Tag –«

»Warum tatest du's?« fuhr ich sie an. »Warum sagtest du die Unwahrheit, als ich nach dem Fläschchen des Giftmischers fragte?«

»Du – wolltest – so – gerne – einen – Sohn«

Wie ein Hauch kamen die Worte zu mir. Dann trat ein Ausdruck der Qual in die weitgeöffneten Augen, der Leib streckte sich, die Hände griffen nach den geknoteten Tüchern, die zu ihrer Bequemlichkeit und Stütze an den Bettpfosten hingen. Und wie sie aufschrie –!

Der Doktor nahm eine kurze Untersuchung vor und winkte mich dann ins Nebenzimmer.

»Herr Baron«, sagte der Arzt, »ich muß Ihnen leider eröffnen, daß es sich um eine Verlagerung der Frucht handelt und deshalb die Notwendigkeit der sectio caesarea eingetreten ist.«

Ich taumelte zurück.

»Der Kaiserschnitt?« stammelte ich.

Der Doktor sah zu Boden.

»Dieser blutige Eingriff, der, richtig vorgenommen, von kräftigen und gesunden Frauen meist überstanden wird, ist in unserem Falle wegen der furchtbaren Schwäche der Frau Baronin und namentlich bei dem hohen Fieber, dessen Ursache in einer von außen kommenden Vergiftung des Geblütes liegen muß, eine gefährliche und ungewisse Operation. Das kann ich Ihnen nicht verhehlen. Außerdem muß ich sogleich und nur mit Hilfe der Hebamme operieren, obschon ein zweiter Arzt vonnöten wäre. Aber bis ein Wagen zur Stadt und wieder zurückfährt, getraue ich mich nicht mehr zu warten.«

Mir war es, als hätte mich ein dröhnender Hieb auf die Stirne getroffen. Wie, Zephyrine in Todesgefahr? Das war nicht möglich. Das war unsinnig. Was hätte denn aus mir werden sollen? Wo blieb dann der Sinn des Lebens? Hatte mir der Mann aus dem Morgenlande, dessen ich alltäglich mit großer Dankbarkeit dachte, mit seiner Erscheinung in der Griechengasse deshalb das höchste Glück meines Lebens angezeigt, damit ich es nun so grausam verlieren und ich in die Abgründe namenlosen Schmerzes gestoßen werden sollte? Nein, das konnte nicht sein, das war unmöglich. Wenn sie starb, starb auch ich.

Ein Schrei der schrecklichsten Pein riß mich aus meinen Betrachtungen. Ich wollte dem Doktor ins Zimmer meiner Frau folgen, aber er winkte mir ernst und entschieden, draußen den Ausgang seines schrecklichen Vornehmens zu erwarten.

Ich ließ mich, allen Willens bar, auf einen Stuhl fallen und sah stumpfen Blickes in das Flockentreiben draußen. Eine Glocke rief mit tiefem Klang in den sinkenden Schimmer des Herbsttages, und ein Hund begann zu heulen. Ich erkannte ihn an der Stimme. Er hieß Amando und war Zephyrines Liebling. Dieses hohe, gezogene Heulen machte mich fast wahnsinnig und erhöhte meine Furcht, da mir das Ahnungsvermögen treuer Tiere wohlbekannt war. Dazwischen kamen schluchzende Laute, unterdrückte Schreie aus dem Nebenzimmer. Ich hörte den Arzt in irgendeiner anstrengenden Tätigkeit ächzen, halblaute Befehle erteilen, vernahm die klagenden Ausrufe der Hebamme, das Klingen von Gefäßen und metallenen Dingen, Wässerplätschern und Stühlerücken. Schreckliche Dinge gingen vor dort drinnen.

Dann schrie eine Frau auf. Aber es war nicht Zephyrine, die schrie. Es war die Wehmutter. Weshalb schrie sie? Deutlich war zu vernehmen, wie der Arzt sie mit zornigunterdrückter Stimme zurechtwies.

Ich hielt mich, am ganzen Körper zitternd, an der Lehne meines schweren Stuhles fest.

Dann ward es still drinnen, totenstill.

Der Arzt trat heraus und sah wirr um sich. Im Schein der Wachskerzen, die ich entzündet hatte, nahm ich wahr, daß sein Gesicht von Schweiß troff. Seine Hände zeigten rötliche Spuren.

Wortlos blickte ich auf seinen Mund.

»Sie bedürfen innerer Stärke«, sagte er langsam, und über sein Antlitz breitete sich ein feierlicher Glanz. »Treten Sie ein und bringen Sie das Opfer, den eigenen Schmerz zu verbergen, damit die Sterbende ohne Seelenmarter entschlafen kann.«

Ich fühlte ein brennendes Weh, das mir den Atem benahm, biß die Zähne zusammen und ging langsam in das Nebenzimmer. Durch den Schleier der Tränen, die trotz aller Vorsätze unaufhaltsam aus meinen Augen rannen, sah ich auf einem kleinen Tisch, mit einem blutfleckigen Leilach zugedeckt, etwas liegen, dessen bloße Umrisse Entsetzen durch meine Nerven jagten. Dann trat ich ans Bett und kniete nieder.

Zephyrine öffnete mit großer Anstrengung die Augen. Ihr Gesicht war weiß wie Schnee, die zarten Lippen waren von ihren eigenen Zähnen zerrissen. Ich faßte ihre Hand, die leicht und kühl war wie ein Rosenblatt, und preßte sie an mein Herz. Da lächelte sie. Flüsternd bewegten sich ihre Lippen.

»Es – ist – ein – kleiner Sohn – wie ich es – vom Himmel – erbeten – und für mich ein Füchslein – eine kleine Aglaja – Später darf ich die Kinder – sehen – gelt –?«

Der Arzt, der auf der anderen Seite des Bettes stand, winkte mir »Ja«.

»Gewiß, Liebste –, sobald du geschlafen hast«, sagte ich und dachte, das Herz müsse mir zerspringen.

Aber auf einmal trat Furcht in ihren Blick. Sie versuchte sich aufzurichten, fiel aber kraftlos zurück.

»Oder – muß – ich – sterben?«

»Zephyrine!« rief ich und bedeckte ihre Hand mit Küssen »Sprich nicht so – du versündigst dich. Alles steht vortrefflich. Nur schlafen mußt du, ruhen und neue Kraft gewinnen nach dem, was du gelitten hast.«

»Ich – habe es – gern – erlitten – für dich – und für mich«, lächelte sie. »Ich bin so – froh – wenn ich bei – euch bleiben – darf.« Ihre Hand zog mit seltsamer Kraft mich näher heran. »Aber ich will – daß dein Gesicht – mir nahe – bleibt –«

Ich näherte mich ihr, soweit es möglich war. Ihre müden Augen weiteten sich plötzlich, hefteten sich mit einem Ausdruck dürstenden Verlangens auf mich, hielten mich fest – starr blieb ihr Blick in meine Augen gesenkt.

Lange saß ich so.

Dann trat jemand hinter mich und berührte meinen Arm.

Es war der Arzt.

»Sie haben sich wacker gehalten, armer Herr Baron. Sie ist leicht und selig hinübergegangen.«

Und jetzt erst sah ich, daß auf dem engelschönen Gesicht Zephyrines der heilige Abglanz der Ewigkeit lag.

Ich konnte nicht weinen, nicht denken.

Aglaja lag vor mir. Weiß und schön. Weiß und schön, wie ich ihr Bild im Herzen trug.

Läutete die Glocke noch immer? Oder war es das tobende Blut, das in meinen Ohren summte?

»Fühlen Sie sich stark genug, um die Ursache des Todes zu betrachten?« riß mich der Arzt aus meinem Brüten.

Es war alles so gleichgültig, da sie tot war.

Aber der Anblick, der mir nun zuteil wurde, war so schrecklich, daß er mir einen schluchzenden Schrei erpreßte. Ich wich zurück und fühlte es kaum, daß mein Kopf an den Türpfosten stieß. Da lag –

Ein kleiner wohlgebildeter Rumpf lag da. Und dieser kleine Leib trug auf den Schultern zwei Hälse, und auf den Hälsen saßen zwei Köpfe.

Der eine hatte feines, dunkles Haar, der andere goldrote Löckchen.

»Zudem ist dieses seltsame Monstrum ein echter Zwitter, Mann und Frau zugleich –«

Ich wehrte ab, rannte an der weinenden Wehmutter vorbei ins andere Zimmer, warf mich über den Tisch, und ein trockenes Schluchzen würgte mich im Halse.

Der Arzt setzte sich schweigend neben mich und wartete.

Als ich meine Haltung wiedergewonnen hatte, erzählte ich ihm von den Tropfen, die jener Elende uns aufgeschwatzt und die ich in sträflichem Leichtsinn unvernichtet gelassen hatte.

Doktor Hosp dachte lange nach und sagte dann:

»Ich erinnere mich, einmal gehört zu haben, daß es einem italienischen Arzt gelungen sein soll, durch bestimmte Gifte in Schwangeren monströse Mißbildungen der Frucht zu erzeugen. Aber es scheint mir doch wenig glaublich, daß solche Eingriffe in die geheimste Werkstatt der Natur –«

Ein furchtbarer Gedanke stieg in mir auf.

Ohne mich weiter um den Doktor zu kümmern, ohne auf seine ängstlichen Fragen nach meinem Beginnen zu hören, riß ich die Tür des Waffenschrankes auf, entnahm ihm ein Doppelpistol, riß Hut und Mantel vom Haken und stürmte in den Schneefall hinaus.

Gerade als ich aus dem Garten trat, kam ein Wagen langsam gefahren.

Ich schrie dem Kutscher zu, er solle mich, so schnell die Pferde laufen könnten, zum Faßlhause fahren –. Er sah mich dumm an. Ich nahm etliche Goldstücke, drückte sie ihm in die Hand. Tief zog er den Hut, der Schlag klappte.

Die Peitsche pfiff, die Pferde griffen aus.

Als ich zu mir kam, stand ich im halbdunklen Flur des Hauses. Jemand fuhr mir mit einem nassen Schwamm, der nach Lavendelessig roch, übers Gesicht.

Nur ein Wort dröhnte in meinem Kopf

»– Abgereist –«

»Ja, Herr, so glauben Sie mir doch –«, sagte eine behäbige Frau. »Gott sei Dank, daß der Gauner fort ist. Schon vor zwei Monaten ist er bei Nacht und Nebel davon, und seine Sachen hat das Gericht geholt.«

Ich hörte noch etwas von einem jungen Mädchen, das nach einem verbotenen Eingriff, den Postremo vorgenommen hatte, gestorben sei.

Abgereist!

Ich stieß ein wahnsinniges Gelächter aus.

Man brachte mich zu dem wartenden Wagen, und ich fuhr.

Der Schnee wirbelte, der Wind pfiff zu den offenen Fenstern herein. Die Häuser zogen mit nachtblinden Fenstern vorüber. Sie war tot, sie war ja tot!

Nie mehr – – – .

 


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