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Die Rosen auf Miß Clarissas Blumenbeeten fielen eine nach der andern ab, und so auch zuletzt die blässeste Herbstblume: die Blätter fielen von den Bäumen, und die Stürme von der See herüber fingen an in eisigen Böen zu blasen.
Aber Lisbeth hielt wacker Stand.
Regentage schleppten sich mühsam zu Ende und kalte Witterung trat ein, aber sie gab auch dann nicht nach, als Mrs. Despard ihr Erstaunen meldete und Georgy in wöchentlichen Episteln ihr Bitten über Bitten vortrug.
Der winterliche Schlendrian in dem Tregarthynschen Haushalte war nicht aufregend, aber er war eine Art von Schutzwehr.
Besser Langeweile und Öde als etwas Schlimmeres! Vielleicht daß es beizeiten, im Frühling, anders werden würde.
Und doch konnte sie nicht sagen, daß sie eine Besserung ihres Gemütszustandes gefunden hätte!
Und was ihr körperliches Befinden anbetraf – nun!
Tante Clarissa hatte freilich Ursache, heimlich über sie zu seufzen.
Wenn sie vordem blaß und mager gewesen war, so hatte sie seitdem weder Fleisch noch Farbe bekommen.
Sie verharrte voller Verzweiflung bei ihren langen Spaziergängen und kam von ihnen nach Hause, abgespannt und hohläugig.
Sie ging im Garten spazieren, um sich zu schonen, und war nicht weniger ermüdet.
Sie folgte Dr. Puddifoots Verordnungen bis auf das Tüttelchen, und wurde, zum Leidwesen der Misses Tregarthyn, nicht besser.
Thatsächlich, wie jener große Mann, der Dr. Puddifoot, bemerkte, »war etwas von Grund aus faul.«
Es war ein ungleicher, mehr als kläglicher Kampf, aber er gelangte zu seinem Ende; und wie alle solchen Beendigungen, war's ein Ende plötzlicher, unvermuteter, fast phantastischer Art.
Lisbeth hatte sich ein solches Ende für ihre selbstauferlegte Buße niemals gedacht.
Keine solche Möglichkeit hatte sich ihrem Geiste geboten.
Zu Romantik neigte sie nicht und hatte sich Thatsächlichkeiten selbst als Grenzen gesetzt.
Als sie an einem kalten, ungemütlichen Dezemberabend an ihrem Schlafstubenfenster saß, kam sie auf eine wunderliche Laune.
Es war ein Tag, so rauh und garstig, wie man ihn sich häßlicher gar nicht vorstellen kann. Der Wind blies in Böen über die See, die Möven zogen schwerfällig unter dem grauen Himmel hin, ein bißchen totes Laub drehte sich in Wirbeln auf der Straße, und doch nahm diese Laune Besitz von Lisbeth, als sie hinaussah und sich diese vollständige Einsamkeit und Trostlosigkeit vor Augen führte.
Seit Georgy Pen'yllan verlassen hatte, war sie noch niemals wieder in der Nähe des alten Stelldichein-Platzes gewesen.
Sie war immer in entgegengesetzter Richtung spazieren gegangen, und nun fiel es ihr mit einemmal ein, doch lieber einmal in der anderen Richtung zu gehen und zuzusehen, wie sich die Dinge in ihrer augenblicklichen Stimmung wohl ausnehmen möchten.
Kaum fünf Minuten nach der Zeit, wo ihr der Einfall gekommen war, sah Miß Clarissa etwas draußen am Wohnstubenfenster entlang huschen, und das entlockte ihr den Ruf:
»Aber, Lisbeth! Schon wieder ausgehen und noch dazu an einem solchen Tage! Du meine Güte! Wenigstens hoffe ich doch, daß sie sich warm angezogen hat!«
Lisbeth eilte weiter gegen den feuchten, kalten Wind, mit tollem Behagen an der Unannehmlichkeit ihrer Lage.
Die Dünen waren feucht, der Weg schlecht zu gehen; und doch war sie nicht traurig.
Was lag ihr daran?
Sie war gerade in der Stimmung, eine Art hämischer Freude über äußere Jämmerlichkeiten zu empfinden.
Der Stelldicheins-Platz sah traurig genug aus, als sie ihn erreichte.
Sie bahnte sich den Weg zu dem Felsenwinkel hin und stand dort, den Blick auf die See hinaus gerichtet, von einer seltsamen Kälte durchschauert.
Sie hatte nicht erwartet, den Ort so zu finden, wie er in seinem Sommergewande aussah; aber sich einer solchen Trostlosigkeit gegenüber zu sehen, darauf war sie kaum vorbereitet.
Alles war grau – die See schäumte grau, grau waren die Möven, die am Himmel hinflogen, grau war der tief herunter hängende Himmel.
»Es wäre doch besser gewesen, wenn ich zu Hause geblieben wäre,« sagte sie.
Und doch konnte sie sich nicht schlüssig werden, zurückzukehren.
Gegen einen Felsen gelehnt, fröstelnd und von traurigen Empfindungen erfüllt, zögerte sie noch – und so kam es denn, daß der Mann, der in der Annäherung begriffen war, ihrer Gestalt zuerst ansichtig wurde.
Lisbeth sah diesen Mann nicht.
Es verlangte sie jetzt nicht darnach, jemand zu sehen, gleichviel, ob es ein Mann oder ein Weib war.
Die Möven waren ihr jetzt liebere Gefährten als die Menschen, und sie glaubte wirklich, ganz allein hier zu weilen, bis Schritte auf dem Sande, die aus nächster Nähe zu ihr drangen, sie veranlagten, sich mit ungeduldiger Bewegung umzudrehen.
Der Mann – er war keine Elle mehr von ihr entfernt – zog den Hut und blieb stehen. Der Mann war Hektor Anstruthers.
Auf die Dauer eines Augenblicks sprach keiner von den beiden Menschen ein Wort. Lisbeth dachte, ihr Herz müsse aufgehört haben zu schlagen.
Sie war kalt geworden wie Marmor.
Als sie sich hinreichend beherrschte, um überhaupt denken zu können, war ihr erster Gedanke Georgy.
»Was ist denn los?« rief sie. »Ist jemand krank? Etwa Georgy?«
»Georgy ist ganz gesund,« gab er zur Antwort.
Dann trat er dicht zu ihr heran und hielt ihr seine Hand entgegen mit einem seltsamen melancholischen Lächeln.
»Ich bitte um Verzeihung, daß ich Sie beunruhigt,« sagte er. »Bitte um Verzeihung, daß ich hierher komme ohne Entschuldigung – aber ich habe keine Entschuldigung. Wollen Sie keinen Händedruck mit mir tauschen, Lisbeth?«
Sie vollzog die Förmlichkeit so flink wie irgend möglich und trat dann zurück, ihr Shawltuch um den Leib schlagend.
Es durchfröstelte sie noch zufolge einer anderen Empfindung als Kälte.
Wäre sie nur wohlbehalten zu Hause gewesen!
Wenn niemand in Gefahr schwebte, wozu um alles in der Welt war er dann gekommen?
»Ich war ein wenig erschreckt,« sagte sie. »Pen'yllan ist in der Regel zur Winterszeit für die Menschheit nicht sonderlich amüsant, und darum schien es mir die natürlichste Erklärung, daß Georgy krank wäre und Sie zu mir geschickt hätte.« Nach einer kurzen Pause und einem Seitenblick aus ihn setzte sie hinzu: »Sie sehen aus, als wären Sie selbst krank gewesen.«
Gewiß sah er so aus.
Er sah mager und hohläugig, vergrämt und abgespannt aus.
Seine Augen zeigten einen gefährlichen Glanz und sein Wesen eine aufregende Ruhelosigkeit.
Er war auch kein so seiner junger Herr mehr, der immer aussah wie aus dem Ei geschält – es ließ sich sogar eine gewisse äußere Vernachlässigung an ihm bemerken.
»Tante Clarissa muß sich recht geängstigt haben, als sie Ihrer ansichtig wurde,« fuhr Lisbeth fort, während sie sich bestrebte, ein ehrsames Lächeln zu zeigen.
»Ich habe Miß Clarissa nicht gesehen,« entgegnete er. »Ich bin zuerst hierher gekommen.«
Das war so unheilverkündend, daß Lisbeth einen Teil ihres Mutes verlor.
Sie wußte, daß es, wenn er so sprach, nicht seine Absicht war, den äußeren Schein aufrecht zu erhalten.
Aber sie versuchte es noch mit einer anderen schwächlichen Bemühung.
»Dann thäten wir doch besser, nach Hause zu gehen,« bemerkte sie.
»Nein,« versetzte er rasch. »Ich habe Ihnen etwas zu sagen.«
Sie fühlte jetzt selbst, daß sie ihrer Kräfte verlustig ging.
Aber was lag daran? mochte er doch sagen, was er wollte!
Vielleicht war es eine Sache, die Georgy betraf.
Sie hatte ein trauriges Gefühl, als sei sie bereit für das Schlimmste.
»Reden Sie weiter!« sagte sie.
»O!« rief er in bitterer, ungeduldiger Hast – »wappnen Sie sich wider mich! ich weiß, daß Sie das thun werden. Spotten Sie über meine Narrheit; auch darauf bin ich vorbereitet. Aber ich werde sprechen. Es ist das Verhängnis. Ich bin ein Narr: aber sprechen muß ich.«
»Wollen Sie sagen, weshalb Sie hierher gekommen?« fiel ihm Lisbeth ins Wort.
»Ich bin hierher gekommen, weil es mich anderwärts nicht hält, nicht duldet. Sie sind mein Verhängnis, sage ich Ihnen,« rief er fast zornig. »Sie werden mich nicht zur Ruhe kommen lassen. Als ich Ihnen an jenem Abend die Hände küßte, ließ ich meinem Wahnsinn freien Lauf. Ich hatte versucht, mir selbst einzureden, daß ich keine Liebe für Sie hätte: aber das heilte mich und bewies mir, wie sehr ich mich getäuscht hatte. Ich habe niemals aufgehört, Sie zu lieben, vom ersten Augenblicke an; und Sie –«
Die Worte erstarben ihm auf den Lippen.
Sie blickte, als hätte er ihren Blick nie zuvor gesehen. Sie lehnte gegen den Felsen, als wenn ihr eine Stütze not thäte. Plötzlich wurden ihre Augen und Wimpern feucht und sie fing an leicht zu zittern. Er zürnte sich selbst, das Gewissen schlug ihm. Was für ein grobes Subjekt er doch war!
»Nicht so!« rief er. »Sie zu erschrecken war nicht meine Absicht.«
Sie schlug mit kläglichem Blicke die Augen auf; ihre Lippen teilten sich, wie wenn sie sprechen wollte: aber sie sprach nicht. Sie war sogar schwächer als er gedacht hatte. Sie war nie zuvor so hilflos und so erschüttert gewesen. Sie wich vor ihm zurück und ihr Gesicht auf den Felsen sinken lassend, brach sie in hysterische Thränen aus.
Er hielt nicht ein, sich zu fragen, was das zu bedeuten hätte. Er hatte für Nerven bei Frauen kein Verständnis. Er begriff bloß, daß sie sich gefügt hatte, daß etwas anders geworden war, daß sie ihrer Kraft verlustig ging, und daß sie weinte. Im Augenblick hielt er sie in seinen Armen mit dem leidenschaftlichen Ausrufe:
»Lisbeth! Lisbeth!«
Und als nun der kleine Strohhut mit seinem blauen Bande herniederglitt von dem bleichen Gesichtchen, das an seiner Brust lag, da beugte er sich nieder und bedeckte dieses blasse, von Thränen feuchte Gesichtchen mit unbedachten Küssen, mit Küssen ohne Zahl und ohne Ende.
Im ersten Augenblick kümmerte es ihn nicht, was der reichste bringen würde, noch was er sich vielleicht selbst durch solches Beginnen auflüde – so sinnlos war er zufolge lang verhaltener Liebe und lange gelittener Kümmernis.
Er fand auch die kleine schmale Hand unter dem Shawltuch und bedeckte auch sie mit Küssen und wollte sie nicht wieder frei geben.
»Sei nicht grausam gegen mich, Lisbeth!« flehte er, als sie versuchte, die Hand ihm zu entziehen – und so wurde sie gezwungen, sie ihm zu lassen. »Sei nicht grausam gegen mich!« sagte er und hielt die Hand noch immer, als sie sich endlich erholte und nun dastand, aufrecht, aber elend und beschämt, doch weit weniger elend als sie vordem gewesen.
»Sie – Sie sind der Grausame von uns beiden!« stotterte sie. »Was soll ich Ihnen noch sagen? Sie haben mir zum Sagen nichts übrig gelassen.«
Sie stand, nach hinten über gebeugt, halb erschreckt durch seine Heftigkeit.
Er hatte mit bitteren Worten den Anfang gemacht und war binnen fünf Minuten zu dem Schlusse gekommen, daß er sie in die Arme preßte.
Es war ihre Strafe, daß sie solche Demütigung erleiden mußte.
»Sprich nicht,« rief er. »Laß mich alles sagen. Ich liebe Dich. Es ist Verhängnis!«
Sie konnte sich nicht wehren, die phantastische Seite hiervon zu bemerken, und lächelte, obwohl sie den Kopf hängen ließ, – ein Lächeln, das nicht frei war von schwachem Mutwillen.
»Machen Sie – mir etwa – einen Antrag?« wagte sie zu fragen, in der Hoffnung, sich wieder sammeln zu können.
Er konnte das nicht aushalten; aber sie wollte nicht, daß er von neuem hervorbräche, und ihr keine Möglichkeit lasse zur Geltendmachung ihres Rechts, um die Oberhand in diesem Kampfe zu ringen.
»Sie sagten mir, daß Sie hergekommen seien wider Ihren Willen, weil es Sie draußen nicht gehalten hätte. War das wahr?« fragte sie.
Sie konnte sich eines Siegesbewußtseins nicht erwehren – und dies Bewußtsein leuchtete ihr aus den Zeugen.
»Ich freue mich darüber,« sagte sie. »Ich freue mich. Das ist mir Rettung – Rettung in so hohem Maße.«
»Und ich darf bleiben?« rief er in seiner alten, stürmischen Weise. »Lisbeth –«
Obwohl er ihre Hand fest umschlossen hielt, so gelang es ihr doch, sich zu bücken unter dem Vorwande, den blaugebänderten Hut aus dem Sande aufzuheben.
»Sie brauchen nicht zu gehen,« antwortete sie.
Und damit war es zu Ende.
Die drei Misses Tregarthyn sahen einander an in heller Verzweiflung, als die beiden nach Verlauf einer Stunde in das Wohnzimmer hereintraten.
Aber Hektor ergriff, was ihm zu Recht gehörte, mit unverhohlener Kühnheit, und dafür bewunderte Lisbeth ihn im stillen von ganzem Herzen.
»Ich ging nach dem Strande hinaus, um Miß Crespigny dort zu finden, und ich fand sie,« gab er zur Antwort. »Hier ist sie, Miß Clarissa, Miß Millicent, Miß Hetty! Sie hat mir ihr Jawort gegeben. Schenken Sie uns Ihren Segen!«
Das Trio fiel über ihre geliebte Lisbeth her und umarmte und herzte und küßte sie, wie sie es bei früherem Anlasse gethan: aber diesmal duldete sie es lieber.
An diesem Abend lag Lisbeth bis ein Uhr wach und schrieb einen langen Brief an Georgy Esmond; in seltsam weicher und reuiger Stimmung versuchte sie, einmal offen und wahr zu sein.
»Ich werde Hektor Anstruthers heiraten und mich bemühen, besser zu werden. Du weißt was ich meine, wenn ich sage: besser. Ich meine damit, ich möchte als Lisbeth Anstruthers ein ganz anderes Wesen sein als ich als Lisbeth Crespigny gewesen. Meinst Du, Georgy, daß ich jemals eine ›gute‹ Frau abgeben kann wie Du und Deine Mutter. Wenn ich je eine ›gute‹ Frau sein werde, so werde ich es euch beiden zu danken haben.«
Und die Thränen, die sie über diesem Briefe vergoß, waren keine Thränen des Unglücks. »Vielleicht,« sagte sie, »macht die Liebe mich, wie andere Frauen, zu einem zärtlichen Geschöpf.«
Und das bewirkte die Liebe.