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Georgy drehte sich nach ihr herum. Sie hatte plötzlich Mut bekommen.
»Lisbeth,« sagte sie, »Du hast mir niemals viel über diese Bekanntschaft mit Hektor Anstruthers erzählt. Ich möchte gern wissen, wie es sich damit verhalten hat. Du kennst ihn, wie es den Anschein hat, sehr gut.«
»Ich wünschte,« rief Lisbeth fast verdrießlich aus, »daß ich ihn niemals kennen gelernt hätte.«
Das vertrauensvolle Herz, das in der Brust des an ihrer Seite sitzenden Mädchens schlug, machte nervöse Sätze.
»Lisbeth ist's gewesen,« sprach sie bei sich selbst; »Lisbeth ist's gewesen.«
»Ich wünschte,« wiederholte Lisbeth, mürrisch nach dem Meer hinüberschielend, »er wäre mir niemals vor die Augen getreten.«
»Warum denn?« lautete Georgys friedliche Frage.
»Weil – weil es für uns eine schlimme Sache gewesen ist,« antwortete Lisbeth mit stärkerer Ungeduld als je zuvor.
Georgy blickte zu ihr auf mit einer Miene, die nicht ganz frei war von Betrübnis.
»Ich frage wiederum: warum denn?« riskierte sie mit ihrer sanften Stimme zu fragen.
Sie konnte wirklich die Frage nicht unterdrücken.
Aber eine Weile lang gab Lisbeth keine Antwort.
Sie war aufgestanden und lehnte gegen den Felsen.
Auf ihrem Gesicht lag ein wunderlicher Zug, in ihren Augen ein Ausdruck von wunderlicher Finsterheit.
Endlich verfiel sie in ein kurzes, scharfes Lachen, gleich als ob sie sich durch Trotz vor Aufgeregtheit schützen zu können meinte.
»O! Wie würdest Du Dich entsetzen, wenn ich Dir sagen wollte warum,« sagte sie.
»Soll das heißen,« fragte jetzt Georgy – »daß Du – nicht nett zu ihm gewesen bist?«
»Es soll heißen,« lautete ihre seltsame Erwiderung – »es soll heißen, daß ich es gewesen bin, die sein Leben für alle Zeiten zerstört hat.«
Sie machte dies Geständnis frei und unumwunden: sie konnte nicht an sich halten.
Und erregt war sie, heftig erregt.
Sie vermochte dieser unschuldigen Georgy und ihrer unentwegten Gläubigkeit nicht länger mehr Stand zu halten.
Langsam war sie seit Monaten dieser Stimmung zugesteuert, und nun schien sich aller innere und äußere Einfluß wider die ihr angeborene hartnäckige Heimlichthuerei aufzulehnen.
Vielleicht thaten in letzter Linie auch Pen'yllan, das Meer, der Strand, der Himmel dazu das ihrige.
Auf alle Fälle mußte sie dieses Mal die Wahrheit sagen und hören, was diese unschuldige Georgy dazu wohl sagen würde.
»Ich habe ihm sein Leben zerstört,« wiederholte sie. »Ich habe ihm seinen Glauben gebrochen. Ich glaube, daß mich der Tadel trifft für jede schlimme Wandlung, welche die letzten paar Jahre in ihm bewirkt haben. Ich, Lisbeth – ich selbst. Hörst Du, was ich da sage, Georgy?«
Das Gesicht unter Georgys Strohhut war ziemlich blaß, aber es war nicht von Furcht erfüllt und zeigte kein Entsetzen.
»Du warst zu jung,« stotterte sie, »um zu verstehen.«
»Zu jung?« wiederholte Lisbeth. »Ich war niemals jung in meinem Leben. Ich ward schon alt geboren. Ich ward als Frau geboren, ward kalt und streng geboren. Das war die Sache. Wäre ich gewesen wie andere Mädchen, so würde er mein Herz gerührt haben, nachdem er mich an meiner Eitelkeit getroffen, oder er hätte mich auch zuerst im Herzen treffen können. Du – Du würdest ihn geliebt haben mit Deiner ganzen Seele. Willst Du die ganze Geschichte hören, Georgy?«
»Ganz gern. Bloß,« – und dabei erhob sie ihr Gesicht mit einem hellen, entschlossenen, liebevollen Blick – »bloß kannst Du mich nicht dazu bringen, daß ich hart oder schlecht von Dir denken soll. Das also versuche nicht, Lisbeth.«
Lisbeth sah sie mit einem ganz neuen Ausdruck im Gesicht an, der nichtsdestoweniger einen Schatten von ihrer alten Verwunderung zeigte.
»Ich glaube wirklich nicht, daß ich es vermöchte,« sagte sie. »Es läßt sich sehr schwer mit Dir reden; zum mindesten finde ich es schwer, über diese Sache mit Dir zu reden. Du bist so neu bei der ganzen Sache. Hättest Du bloß einen matten Anflug von Unaufrichtigkeit oder Unliebenswürdigkeit an Dir, würdest Du Deinem Glauben bloß dann und wann ein bißchen untreu, so würde ich ja wissen, wie ich daran bin und wie ich mich zu verhalten habe; aber so, wie die Sache zur Zeit liegt, wird man absolut nicht klug aus Dir. Trotz alledem: da hast Du die ganze Geschichte, wie sie sich zugetragen hat.«
Sie legte die Hände auf den Rücken und lehnte sich fest an den Felsen – dann erzählte sie den Verlauf ihres Verhältnisses von Anfang bis zu Ende in ihrer kühlsten, kecksten Weise, sogar mit einer halb trotzigen Miene.
Hätte sie von einer fremden Person erzählt, wie es derselben ergangen, so hätte sie keinen höheren Grad von ätzender Satire aufbieten, hätte nicht rücksichts- und schonungsloser sein können, hätte es sich nicht weniger angelegen lassen sein können, keine häßliche Seite zu mildern, keine grelle Farbe abzuschwächen.
Sie stellte das Mädchen Lisbeth vor ihrer Zuhörerin aufs Tüttelchen genau so hin, wie Lisbeth Crespigny in ihrem siebzehnten Lebensjahre gewesen war.
Selbstsüchtig, verhärtet, seicht und hohl, alles auf einmal; unruhig, undankbar, eine halbreife Kokette, die trotz all ihrer Ungelecktheit doch viel zu reif war für ihr Alter.
Sie schilderte den ehrlichen, kindlichen jungen Menschen, der ihrem unreifen Liebreiz einzig und allein deshalb zum Opfer gefallen war, weil er zu harmlos und romantisch war, in irgend einem weiblichen Wesen etwas anderes als eine Göttin zu sehen.
Sie beschrieb seine Aufrichtigkeit, seine selbstlose Willigkeit, ihre Launen zu ertragen und keinerlei Unrecht oder Sünde in ihnen zu erblicken; seine naive Zuneigung für jedes Ding und jedes Wesen, das an der Liebe, die er für sie im Herzen trug, Anteil nahm; seine Raschheit im Glauben an sie, seine Säumigkeit im Zweifeln an ihr; seine Offenherzigkeit und Treue, die das Erwachen um so schwerer erträglich gestaltet hatte, als es sich ihm endlich aufgezwungen hatte.
Sie ließ das kleinste Unrecht nicht unerzählt, das sie ihm zugefügt hatte, und überging die geringfügigste Tyrannei nicht, die sie gegen ihn ausgeübt hatte.
Sie erzählte thatsächlich die ganze Geschichte so, wie sie sie jetzt ansah; nicht wie sie sie in jenem seichten, der eigenen Herrschaft überlassenen Mädchenalter angesehen hatte: und als sie alles berührt und erzählt und mit jener letzten Scene im Garten unter Tante Clarissas Rosen geschlossen hatte, da hielt sie inne.
Und hierauf folgte eine stille Pause.
Georgys Wimpern waren feucht und ihre Wangen nicht minder.
Eine Thräne fiel auf ihre rote Halsschleife.
Es war doch gar so traurig und schmerzlich.
Armer Hektor! wieder und dann natürlich auch: arme Lisbeth!
Lisbeth verdiente, wenn man sie mit ihren eigenen Augen ansah, kein Mitleid; aber das warme junge Herz hatte des Mitleids genug für sie und geizte nicht damit.
Irgendwas war irgendwo nicht ganz mit rechten Dingen zugegangen, nicht ganz ohne Schuld und Fehl.
So schien es in der That; aber – arme Lisbeth!
Sie hatte doch Lisbeth selbst so lieb, und Mama doch auch, und dann die drei Damen Tregarthyn doch auch! Und soviel andere Leute hatten Lisbeth von Herzen lieb!
Und dann machte sie Lisbeths Stimme stutzig.
Es war eine neuartige Stimme, eine zitterige, merkwürdige Stimme, ganz so, als wenn sie in krankhafter Gemütsstimmung sich befunden hätte.
»Du weinst natürlich, Georgy? Na, das wußte ich ja, daß Du weinen würdest!«
»Ich habe vorhin geweint.«
Eine Pause, lang genug, einem Seelenschmerz Raum zu geben – und dann –
»Nun, da Du weinst, so, denke ich, darf ich auch weinen. Es ist merkwürdig genug, daß ich sollte weinen können; aber –«
Und zu Georgys Verwunderung und Beunruhigung legte Lisbeth ihre Hand gegen den rauhen Felsen und preßte ihr Gesicht dagegen.
»Lisbeth!« rief das Mädchen.
»Verzeih einen Augenblick!« sagte Lisbeth. »Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Es ist mir etwas ganz neues. Ich – ich –«
Es war in der That etwas neues und dauerte nicht sehr lange.
Als sie den Kopf emporgerichtet und sich wieder umdrehte, waren ihre Wimpern auch feucht; sie war sogar blaß.
»Ach, Lisbeth!« sagte Georgy, Mitleid mit ihr fassend – »Du bist traurig.«
Lisbeth lächelte matt.
»Ich war niemals vorher traurig, gleichviel, was ich auch gethan hatte; niemals in meinem ganzen Leben,« lautete ihre Antwort. »Ich hatte mir zum Grundsatz gemacht, daß sich jeder nur um sich selbst kümmern sollte, wie ich es ja auch that. Aber jetzt – Nun ja, ich nehme an, ich bin traurig – um Hektor Anstruthers' willen und vielleicht auch ein bißchen um meiner selbst willen. Es wird mir niemand wieder eine so vernünftige Liebe antragen. Sehr wenigen Frauen wird eine solche Liebe einmal angetragen; aber ich bekam immer mehr als meinen Teil von allem. Es ist das die Art so, wie es mir geht. Ich vermute, daß ich unter einem glücklichen Stern geboren worden bin. Georgy! wie denkst Du jetzt über mich?«
Georgy stand auf und gab ihr in der allerernsthaftesten Weise einen Kuß.
»Was?« rief Lisbeth mit einem Lächeln des Zweifels – »Du kannst nicht moralisieren und bessern und die Heilige spielen, auch jetzt noch nicht? Denke doch nur, was Du mir für eine beredte Vorlesung halten könntest! Ich habe manchmal den Gedanken gehabt, daß ich bloß geschaffen worden, einer Moral als Kern zu dienen oder einer Erzählung als Dekoration! Sieh doch, wie unbedacht, wie rücksichtslos ich doch im Grunde bin! Du solltest jetzt doch über mich herfallen, Georgy! Es ist doch Deine Pflicht und Schuldigkeit als wohlerzogene junge Dame des gegenwärtigen Zeitenlaufs!«
»Dann,« sagte Georgy hierauf, »kann ich eben meine Pflicht nicht erfüllen. Du bist so ganz anders wie andere Menschen. Wie kann ich mich anmaßen zu verstehen, was Dich bestimmt hat, Dinge zu thun, zu denen andere Menschen keine Versuchung in sich fühlen? Und dann weißt Du doch, wie lieb ich Dich habe, Lisbeth!«
»Du bist ein gutes, braves, reines Herzchen!« rief Lisbeth, über deren blasses Gesicht eine jähe Röte schoß. »Und die Welt ist um tausendmal besser dadurch, Daß Du auf ihr wandelst. Ich selbst, ich bin besser zufolgedessen, und daß es mir not thut, gebessert zu werden, das weiß der Himmel! Hier, laß mich Deine Hand nehmen und laß uns nach Hause gehen!«
Und als sie, wie ein paar Kinder, am Strande entlang nach Hause schritten, da sah Georgy, daß in den Augen des unberechenbaren Wesens wieder Thränen standen.
Sie sprachen hiernach nicht viel über das Thema, das sie an jenem Tage beschäftigt hatte.
Dieser klugen, jungen Dame, Miß Edmond, sagte ihr Gefühl, daß es ein Gegenstand von viel zu delikater Natur wäre, als daß man ihn so ohne weiteres berühren dürfe.
Es war so lange Zeit hindurch Lisbeths persönliches Geheimnis gewesen, daß sie selbst nach dieser vertrauensvollen Mitteilung nicht anders konnte, als die ganze Sache noch immer als Lisbeths Geheimnis anzusehen.
Vielleicht hatte sie im stillen noch die Empfindung, daß es sich auch ihrerseits dabei um gewisse kleine Vertraulichkeiten handelte, die sie selbst Lisbeth kaum hätte anvertrauen wollen – gleich als ob sie persönliches Besitztum von ihr gewesen wären.
Jenes gelegentliche Bekenntnis zum Beispiel, das sie in dem Schlafzimmer an jenem ersten Abend abgelegt hatte, den sie zusammen dort zugebracht.
Wie froh war sie gewesen, das Lisbeth es übergangen hatte, wie wenn sie es gar nicht sonderlich bemerkt hätte.
Aber wenngleich das Thema nicht erörtert wurde, läßt sich annehmen, daß es überhaupt nicht berührt, sondern in Vergessenheit begraben worden wäre? Ganz gewiß nicht.
Während diese zurückhaltende junge Dame, Miß Esmond, wenig redete, dachte sie viel und gründlich.
Sie hatte beständig ein Problem vor Augen, um dessen Zustandekommen sie sich allen Ernstes die lebhafteste Mühe gab – um sein Zustandekommen nämlich mit Hilfe ihrer geliebten Lisbeth sowohl, wie jener stolzen Persönlichkeit des Herrn Hektor Anstruthers, die ja doch beide in ihren Herzenssachen so unglücklich gewesen waren.
War's denn nicht möglich, daß diese beiden interessanten Wesen nicht dazu gebracht, nicht dazu geführt würden, – nun, wenn auch nicht den schönsten Abschluß für die Sache zu finden – so doch dazu, besser von einander und über die unglückliche Vergangenheit und über die Welt im allgemeinen zu denken?
Wäre es denn nicht schrecklich, der Gedanke, daß so viel poetisches Material vergeudet worden wäre? Daß diese beiden, die so glücklich hätten sein können, vom Schicksal auseinander getrieben bleiben sollten und daß ihr Roman lückenhaft und unvollständig bleiben sollte, wie's in dem unbefriedigendsten von allen Romanen nicht schlimmer sein konnte?
Wahrscheinlich fühlte das Mädchen, nachdem sie, wenn auch mit leisem Weh, jene Knospe ihres eigenen Liebesromans jäh hatte verblühen lassen, das Bedürfnis nach einem fremden Liebeshandel als Beschäftigung für ihren Geist; und wenn es an dem war, so war es ganz natürlich und in hohem Maße reizend, daß sie sich zu ihrer Freundin wendete.
Hektor würde sich ja doch an einem dieser herrlichen Tage zum Besuch einfinden, und dann würde vielleicht Pen'yllan mit den alten vertrauten Örtlichkeiten sein Herz weich stimmen, wie es ihrem Dafürhalten nach mit Lisbeths Herz nicht anders der Fall gewesen war.
Ganz sicher würden ihn alte Erinnerungen weich stimmen und williger machen, ihm angethanes Unrecht zu verzeihen.
Miß Georgy malte sich thatsächlich mancherlei recht hübsche Bilder vor ihr geistiges Auge, in denen die Figuren Lisbeths und ihres ehemaligen Liebhabers immer die hervorragenden Züge bildeten: Lisbeth an dem Rendezvousorte, während die Brise, die vom Meere herüber strich, ihr das schöne Haar um das Haupt wehte und das bleiche Gesicht mit heller Röte färbte, dessen geheimnisvolle Augen von jenem absonderlichen Thränennebel erfüllt waren.
Lisbeth, die sich in einer ihrer weichen Stimmungen befand und jene seltsamen, trotzigen, unvermuteten Redensarten hören ließ, die um deswillen so bezaubernd wirkten, weil man sich ihrer so ganz und gar nicht versah: und Hektor Anstruthers, der daneben stand und lauschte.
Solche interessante Vorgänge, wie diese, malte sie sich aus, und wenn sie sich solche Vorgänge ausgemalt hatte, dann schöpfte sie thatsächlich aus dem eingebildeten Vorhandensein derselben eine gewisse Art von Trost.