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»Mrs. Despard wird herunter kommen, sobald sie hört, daß Sie da sind,« sagte sie und dann fuhr sie fort, den Brief zusammen zu legen und zurück in sein Couvert zu legen.
Und bei dieser Gelegenheit sah er, daß der Brief den Poststempel Pen'yllan trug.
Was hatte eine solche Laune wie diese zu bedeuten? fragte er sich mit Ungeduld, während er den neuen Ausdruck in Ihrem Gesicht und die schwere Last, die an ihren verdüsterten Augen hing, mit einem Blicke in sich aufnahm.
Dies war keins von ihren sonstigen Manövern.
Es war jetzt niemand hier anwesend, der sie hätte sehen können, und selbst wenn jemand dagewesen wäre, was hätte sie damit erreichen oder bezwecken können, daß sie über den Brief aus Pen'yllan Thränen vergoß? Weshalb um alles in der Welt vergoß sie Thränen?
Er hatte sie nie zuvor in seinem Leben Thränen vergießen sehen. Er hatte oft gedacht, daß etwas dergleichen an sich ganz unmöglich sei, denn dazu war sie doch viel zu harten Sinnes.
Konnte es etwa der Fall sein, daß sie schließlich in Wirklichkeit gar nicht so harten Sinnes wäre? und daß jene drei harmlosen alten Damen imstande wären, ihr Herz zu rühren?
In der nächsten Minute lachte er aber über die Verschrobenheit der Idee, und Lisbeth, die zufällig gerade in demselben Augenblick die Augen aufschlug und sie mit kaltem Ausdruck auf sein Gesicht heftete, bemerkte sein Lächeln.
»Was ist Ihnen denn?« fragte sie.
Ein gewisser Dämon bemächtigte sich da seiner im Nu. Wie, wenn er ihr seine Meinung offen sagen und zusehen würde, welche Antwort sie ihm gäbe?
Die beiden kannten einander. Warum sollten sie diesen Vorwand, einander nichts zu sein als gewöhnliche Bekanntschaften, die kein unerquickliches kleines Drama hinter sich hätten, aufrecht erhalten?
»Ich dachte so bei mir, was für ein interessantes Schaf ich im Grunde abgegeben habe in dieser ganzen letzten Zeit,« sagte er.
Sie gab ihm keine Antwort, hielt aber die Augen noch immer fest auf ihn gerichtet.
»Ich bemühte mich, mir Klarheit über Ihre Traurigkeit zu schaffen auf die nämlichen Gründe hin, die ich bei anderen Frauen für Schmerz und Traurigkeit zu finden gewöhnt bin. Ich war halb und halb zu dem Glauben geneigt, daß etwas in dem Briefe, den Sie da haben, Ihr Herz ergriffen hätte, wie es der Fall vielleicht gewesen sein würde bei Georgy Esmond. Aber ich habe den Gedanken beizeiten wieder fallen lassen.«
»Sie haben ihn beizeiten wieder fallen gelassen,« sagte sie in einer wunderlichen, langsamen Weise. »Das war recht von Ihnen.«
Es trat ein kurzes Stillschweigen ein, während dessen er fühlte, daß er, wie sonst, durch seinen Sarkasmus nichts gewonnen hätte; und dann reichte sie ihm plötzlich ihre kleine Hand hin, in welcher Miß Clarissas Brief lag, und hielt ihn gewissermaßen bei sich fest.
»Hätten Sie Lust, das zu lesen?« sagte sie. »Nehmen wir an, Sie thun's. Tante Clarissa ist eine alte Freundin von Ihnen. Sie spricht so zärtlich und liebevoll von Ihnen wie immer.«
Er konnte den Blick nicht verstehen, den ihr Auge zeigte, als sie diese Worte sprach. Es war ein wunderlicher, berechnender Blick, und er hatte eine Bedeutung für sich allein, wie kaum ein anderer: aber es lag ein Rätsel in dem Blicke, dessen Lösung ihm nicht möglich war.
»Nehmen Sie ihn,« sagte sie, als sie sah, daß er zauderte. »Ich weiß schon, was ich sage. Ich möchte, Sie läsen ihn von Anfang bis zu Ende. Es wird Ihnen gut thun.«
So unbehaglich ihm auch zu Mute war, so nahm er den Brief doch. Und noch ehe er zwei Seiten gelesen hatte, war's ihm zu Mute genau so, wie Lisbeth gewollt hatte, daß ihm zu Mute würde. Der schlimmste unter uns Menschen dürfte durch lautere, selbstlose Güte gerührt werden.
Miß Clarissas schlichte, liebevolle Auslassungen gegen ihre liebe gute Lisbeth waren in gewissem Grade pathetisch in ihrer Weise.
Sie war so dankbar für die Zärtlichkeit und Liebe, die in dem letzten Brief ihres lieben Mädchens zu lesen war; so herzig und lieb waren ihre beredten Entschuldigungen, daß der Brief ziemlich lange hatte auf sich warten lassen; ihr gütiges altes Herz war von den Vorzügen des in Frage stehenden lieben Wesens so ausschließlich eingenommen, daß Anstruthers, als er nun bis zum Schlusse dieser Epistel gelangt war, sich in ganz unbeschreiblicher Weise weich gestimmt fühlte, wiewohl er tatsächlich nicht imstande gewesen wäre zu sagen warum.
Er war nicht der Meinung, als sei er weicher gestimmt in Bezug auf Lisbeth selbst; aber es war nichtsdestoweniger wahr, daß er ihr gegenüber weicher fühlte, wenn auch in einer heimlich-verstörten Weise.
Lisbeth hatte sich von ihrem Sitz erhoben und stand jetzt vor ihm, als er ihr den Brief wieder behändigte, und ihre Augen trafen jetzt wieder die seinen genau so, wie es vordem der Fall gewesen war.
»Die guten Tanten, sehen Sie, haben mich so recht von Herzen lieb,« sagte sie; »sie glauben sogar, ich fühlte eine wirkliche Zuneigung zu ihnen; sie meinen, ich wäre dessen in eben dem Maße fähig wie Georgy Esmond. Die arme Georgy! die arme Tante Clarissa! die arme Tante Millicent! Die armen, armen Menschen fürwahr!« Und sie hörte plötzlich zu reden auf und wendete sich von ihm weg zu dem Feuer hin.
Aber in der anderen Minute schon sprach sie wieder.
»Ich möchte wohl wissen, ob ich einer solchen Empfindung fähig wäre,« sagte sie – »ich möchte das wirklich gern wissen.«
Er konnte ihr Gesicht bloß von der Seite sehen; aber etwas im Klang ihrer Stimme veranlaßte ihn, eine heftige Erwiderung zu geben.
»Weiß es der liebe Himmel,« sagte er, »ich weiß es nicht. Ich verstehe Sie nicht und werde Sie nimmer verstehen.«
Da wendete sie sich plötzlich nach ihm herum und zeigte ihm ihr ganzes Gesicht, auf dem eine seltsame, erregte Blässe lag, dessen Augen weit aufgerissen waren und durch Thränen hindurchblitzten.
»Das ist die Wahrheit,« sagte sie. »Sie verstehen nicht. Ich verstehe mich selbst nicht; aber – Nun! ich habe Ihnen vormals, als es mir so behagte, Lügen genug gesagt. Jetzt will ich Ihnen einmal die Wahrheit sagen. Ihr Irrtum war schließlich kein so großer Irrtum, daß Sie Ursache hatten, sich in Vergleich mit einem Tiere zu stellen, das durch geistige Begabung nicht eben hervorragt. Mein Herz ist ergriffen worden, gerade so, wie es einem besseren Weibe geschehen dürfte – fast ganz in der Weise, wie es mit Georgys Herz der Fall sein dürfte. Und dieser Brief ist die Ursache gewesen, daß dieses Herz ergriffen wurde – dieser Herzenserguß der armen alten Tante Clarissa – und das wieder war die Ursache, weshalb ich Thränen weinte, als Sie in das Zimmer hereintraten – das ist die Ursache, weshalb ich noch jetzt weine.«
Und nachdem sie diese unvermutete Beichte abgelegt hatte, schritt sie aus dem Zimmer, genau in den Augenblick, als Mrs. Despard hereintrat.
Bei dem nächsten Besuche, den er bei der ihm befreundet gewordenen Familie Esmond abstattete, fand Mr. Anstruthers, daß das niedliche Köpfchen der lieblichen Miß Georgy von einem neuen Projekte erfüllt war.
Hatte er denn die Neuigkeit noch nicht gehört? Ei! sie begäbe sich zusammen mit Lisbeth nach Pen'yllan, und dort wollten sie bei den Damen Tregarthyn bleiben.
Miß Clarissa hätte einen Brief geschrieben, ein wahres Muster von Herzensgüte und Zärtlichkeit und Liebe, so zärtlich und liebevoll und herzensgut, als wenn sie ihr ganzes Leben lang schon bekannt mit ihr gewesen wäre.
War das nicht herrlich und köstlich?
»Um so viel reizender, wissen Sie, als wenn man sich nach irgend einem von den albernen Modeorten begäbe,« sagte Miß Georgy mit hell funkelnden Augen, während die lieblichste aller frisch erblühten Rosen sich auf ihren Wangen malte. »Ich will damit keineswegs sagen, daß ich von Undankbarkeit erfüllt wäre gegen das arme alte Brighton und was wir sonst noch von solchen Örtlichkeiten haben; aber das wird doch einmal, wissen Sie, etwas ganz neues sein.«
»Und das neue,« bemerkte Anstruthers hierzu, »ist nun einmal immer besser als das alte.«
»Neues ist rar,« antwortete Georgy mutwillig. »Neue Tugenden beispielsweise sind besser als alte Thorheiten. Neue Entschlüsse, lieb und nett und leutselig zu sein, statt der alten Gewohnheit, unwirsch und hart zu sein. Neue –«
»Ich streiche die Segel,« fiel Hektor ihr ins Wort. »Und erkläre, daß ich mit Ihnen übereinstimme und Ihnen recht gebe. Das thue ich ja immer Ihnen gegenüber, Georgy,« setzte er in weicherem Tone hinzu.
Das arme, niedliche Gesicht errötete so tief und grell wie eine Klatschrose, und die süßen Augen trafen die seinen mit harmloser Verstörtheit.
»Nicht immer,« sagte Georgy. »Sie geben mir nicht recht, wenn ich Ihnen vorhalte, daß Sie nicht so gut sind, wie Sie sein sollten und wie Sie sein könnten, wenn Sie's versuchen wollten.«
»Bin ich denn ein gar so schlimmer Patron?« sagte er, näher zu ihr tretend – »ach, Georgy etc. etc. –« bis er thatsächlich, ohne es zu wollen, und ohne es hindern zu können, auf jenem höchst gefahrvollen Boden zu wandeln begann, von welchem ich bereits gesprochen habe.
Es war ihm im Verlauf der letzten paar Tage thatsächlich der Gedanke gekommen, daß er vielleicht doch – möglicherweise, bloß möglicherweise gerade – daß er vielleicht doch gar so unrecht nicht thäte, wenn er sich zu einer zarten Leidenschaft für Georgy begeistern ließe.
Vielleicht konnte er ihr zuletzt eine bessere Liebe weihen, als er Lisbeth Crespigny jemals geweiht hatte.
Es würde eine Liebe sein von stillerer, ruhigerer Art.
War denn eines Mannes zweite Liebe nicht immer größer und stärker als die erste und war sie zu gleicher Zeit nicht immer auch ausdauernder und tiefer?
Aber vielleicht konnte er sie ausgestalten zu einer Liebe, die ihrer würdiger war.
Wohlgemerkt! er war nicht seicht und nicht grob genug zu meinen, daß in dem Falle alles recht sein würde, zur Verwirklichung dieses Einfalls zu gelangen, gleichviel, ob eine falsche, erheuchelte Empfindung oder der erste beste Anschein von Zärtlichkeit vorläge.
Es kam nur daher, weil er sich darnach sehnte, irgendwie Anker zu werfen, und weil er dies warmherzige junge Wesen so ernstlich bewunderte und so fest auf sie baute, daß er sich instinktiv zu ihr hinwandte.
Sie wäre, so sprach er bei sich, viel zu gut für ihn, und einzig und allein ihre Güte wäre es, die ihn helfen könnte, über seine vielen Fehler hinweg zu sehen; aber vielleicht würde sie über diese Fehler hinweg sehen, und vielleicht würde noch rechtzeitig aus der Asche dieser unglücklichen Leidenschaft seiner Jugend ein Phönix erstehen, mild und hehr genug, ihres Frauentums würdig zu sein.
So ward er um einiges mehr noch zärtlich und weich gestimmt, und so malte sich seine neue Zärtlichkeit selbst aus seinem hübschen Gesichte, vermischt mit einem gewissen Bedauern darüber, daß er dessen verlustig ginge, was Pen'yllan und die drei Misses Tregarthyn gewinnen sollten.
»Werden Sie mir gestatten, Ihnen dort einen Besuch zu machen?« fragte er zuletzt – »werden Sie –«
Aber da hielt er inne, denn er gedachte Lisbeths. Wie würde sie sich zu einem solchen Plane verhalten?
»Warum sollten Sie denn nicht nach Pen'yllan hinunterkommen?« sagte Georgy, während eine liebliche Röte ihr Gesicht malte – »ich habe doch von Ihnen gehört, daß Sie von den Misses Tregarthyn mehr als einmal dazu aufgefordert worden sind. Und die Damen scheinen Sie doch auch so gern zu haben, und ich weiß ja doch auch, daß Mama und Papa sich von ganzem Herzen freuen würden, wenn Sie hinunterkommen und sich nach uns umsehen und dann wieder zurückeilen und ihnen über alles neue Bericht erstatten wollten. Und was Lisbeth anbetrifft, nun, so hat doch Lisbeth niemals gegen irgend etwas Einwendungen zu machen. Ich denke, sie ist Ihnen doch von Herzen gut, wenn Sie gut und brav sind. Kommen Sie also auf jeden Fall!«
Und sie schien seinen Vorschlag aufzufassen als eine so natürliche und angenehme Sache, daß ihm keine andere Alternative bliebe, als ihn für seine Person aus dem nämlichen Gesichtspunkte zu betrachten – und so wurde denn abgemacht, daß er ihnen binnen einer gewissen Zeit nach Pen'yllan nachreisen solle.