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6. Kapitel.

Erzählt von dem Geschäftsreisenden Wilhelm Filbert.

Ich weiß nicht, weshalb ich plötzlich in Bexcliffe mein Glück versuchte, aber die Geschäfte waren schlecht gegangen und deshalb mochte ich nicht wie gewöhnlich am Donnerstag Abend nach Hause fahren, sondern wollte noch etwas zu verdienen versuchen. Ich war schon am Mittwoch hier zur Nacht geblieben und die Stadt machte mir einen so vertrauenerweckenden Eindruck.

Früher war es für mich stets eine große Freude gewesen, am Schlusse der Woche bei meinen Frauchen sein zu können, aber das hatte sich in den drei Jahren meiner Ehe gründlich geändert, denn jetzt waren Zank und Streit bei uns an der Tagesordnung. Im ersten Jahre der Ehe mit Lieschen war alles gut gegangen, aber ich verlor die Vertretungen von ein paar guten Geschäftshäusern ohne mein Verschulden, und wir mußten uns sehr einschränken, um leben zu können. Ich verdoppelte meine Anstrengungen, besuchte manchmal fünf verschiedene Städte an einem Tage und arbeitete vom frühesten Morgen bis in die sinkende Nacht, aber ich mußte manchmal froh sein, wenn ich am Schlusse der Woche noch zehn Schillinge mit nach Hause brachte. Sechs Monate lang ging das so fort, und wenn ich zu Tode erschöpft endlich am Ende der Woche zu Hause anlangte und hoffte, mich bei meiner Frau ausruhen zu können, so mußte ich die bittersten Vorwürfe und kränkendsten Worte hören, so daß mir mein Heim bald zur Hölle wurde. Ich hätte nicht heiraten sollen, wenn ich nicht genügend verdiente, um eine Frau ernähren zu können – das mußte ich hundertmal hören – und so war in unserer Ehe auf die Liebe der Haß gefolgt.

Ich hatte also schon die Woche über kein Wort mehr von zu Hause gehört, als ich in Bexcliffe mein Heil versuchte, denn bereits seit einem Jahre hatten meine Frau und ich jeden Briefwechsel eingestellt, und hier in Bexcliffe sollte mir endlich nach langer Zeit das Glück wieder einmal lächeln. Ich sprach bei der Firma Tillbury & String, Kolonialwaren en gros, vor und erkannte in dem einen Chef der Firma meinen alten Schulfreund Leonhard String wieder. Er schien hocherfreut, mich nach so langer Trennung wiederzusehen, und gab mir als besten Freundschaftsbeweis sehr große Aufträge für drei der von mir vertretenen Häuser. Ein so gutes Geschäft hatte ich schon seit einem Monat nicht mehr gemacht, und String stellte mir zudem die Übernahme des Alleinvertriebes meiner Häuser für Bexcliffe in Aussicht. Er erzählte mir auch, daß er Anna Banding geheiratet hätte und daß Annas Schwester, Gretchen, jetzt bei ihnen wohnte. Natürlich müßte ich abends zum Essen zu ihnen kommen und auch über Nacht da bleiben.

Meine Eltern waren Nachbarn der Bandings und wir Jungen und Mädels waren zusammen aufgewachsen, so daß das wieder einmal wie in alten Zeiten sein würde. Außerdem waren Gretchen und ich – doch das ist ja lange vorbei!

Er telephonierte sofort nach Hause und ich mußte ihm bestimmt versprechen, ihn spätestens um 6 Uhr aus dem Geschäft abzuholen. Jetzt hatte ich den ganzen Tag für mich übrig und wußte nicht recht, wie ich die Zeit verbringen sollte, als ich auf der Straße einen anderen alten Schulfreund traf. Wie sonderbar doch das Schicksal spielt! Der eine kommt in die Höhe und der andere kann sich nicht emporringen; und Ernst Wafer war es sehr gut gegangen! Er war jetzt Direktor in der Fabrik seines Vaters und ein reicher Mann, aber sonst war er derselbe gute alte Junge wie früher geblieben. Er legte seinen Arm in den meinigen und wir plauderten über die glücklichen Tage unserer Jugend – ich mußte ihm schließlich versprechen, bis zum Montag bei ihm zu bleiben. Ernst berichtete dann, er ginge gerade zu einer gerichtlichen Leichenschau, an der er Interesse hätte und fragte mich, ob ich ihn begleiten und dann später mit ihm frühstücken wolle.

»Das ist eine merkwürdige Einladung, alter Junge,« meinte er, »aber wo ich Dich nach so langer Zeit endlich einmal wiedersehe, lasse ich Dich auch nicht gleich wieder los, und wenn die Verhandlungen vertagt werden sollten, was leicht sein könnte, dann möchte ich mit Dir irgendwo im Grünen den Rest des Tages verleben.«

Da wir noch Zeit halten, so gingen wir zusammen in den Parkanlagen spazieren und ich mußte ihm von meinem bisherigen Leben erzählen. Ich berichtete ihm über alle meine Sorgen und schüttete mein Herz aus, denn wenn es mir auch in letzter Zeit etwas besser gegangen war und ich meine fünfzig Schillinge in der Woche verdient hatte, so mußte ich doch, um das zu erreichen, vom frühesten Morgen bis spät in die Nacht hinein arbeiten.

Und dann ereignete sich der zweite Glücksfall an diesem Tage, denn er erzählte mir, daß sich ihr Reisender für Ostengland wegen seines Alters vom Geschäft zurückziehen wolle und ich sofort diese Stelle haben könne, die außer zwanzig Schilling Reisespesen pro Tag jährlich 300 Pfund einbrächte. Ich schlug natürlich mit Freuden ein, denn für Wafers Tabak zu reisen ist keine Arbeit, sondern ein wahres Vergnügen, und als die Zeit der Gerichtsverhandlungen herankam, hatten wir alles Geschäftliche abgemacht.

Dem ersten Teil der Verhandlung habe ich wohl nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt, denn ich besinne mich nur, daß mich mein Freund dem berühmten, ebenfalls anwesenden Maler, Herrn Roystock, vorstellte. Erst die Aussage des Polizeiinspektors bereitete mir eine Überraschung. Die Leiche war als die Frau eines Geschäftsreisenden festgestellt worden, aber der Mann hatte bisher noch nicht benachrichtigt werden können, da er keine Adresse hinterlassen hatte. Da ich selbst eine große Anzahl von Reisenden mit Namen kannte, hörte ich aufmerksam zu, ob mir der Name bekannt sein würde – aber wer beschreibt meinen Schrecken, als mein eigener Name genannt wurde!

Die ermordete Frau war meine Gattin!

Was hatte das zu bedeuten? Louise, meine Frau, war in einem leeren Hause hundert Meilen von ihrem Heim entfernt in einer fremden Stadt ermordet worden! Ich fühlte, wie mir die Sinne schwanden und wie Wafer mich am Arme festhielt, da ich umzusinken drohte. Aber das ging rasch vorüber, ich trat vor die Schranke, unterbrach die Verhandlungen und rief mit lauter Stimme:

»Halt! Mein Name ist Wilhelm Filbert und ich bin der gesuchte Geschäftsreisende aus Manchester. Wenn das alles stimmt, was hier ausgesagt wurde, so handelt es sich um meine Frau!«

Es entstand eine lautlose Stille, dann redete man mir gut zu, da ich jedenfalls völlig verstört ausgesehen haben mag, und führte mich in ein Nebenzimmer, wo man mir alle möglichen Fragen vorlegte. Schließlich stellte man mich der Leiche gegenüber und trotz ihrer furchtbaren Verletzungen erkannte ich diese sofort – es war Louise. Unser Eheleben war nicht gerade das Glücklichste gewesen und es ist fraglich, ob ich sie, die mich durch List zur Ehe verleitet hatte, je geliebt hatte, aber als ich meine Frau so vor mir liegen sah, da hätte ich viel darum gegeben, sie wieder lebend vor mir zu sehen, denn man ist nicht drei Jahre verheiratet, ohne ein tieferes Gefühl für einander zu empfinden. Noch vor einer Woche glaubte ich sie glühend zu hassen, und jetzt brach ich zusammen und weinte wie ein Kind!

Als ich in den Verhandlungssaal zurückkehrte, vertagte der Vorsitzende die Sitzung für kurze Zeit, und Wafer und Leonhard String, den Ernst hatte herbeiholen lassen, nahmen sich meiner an. Sie führten mich in ein Wirtshaus in der Nachbarschaft, redeten mir gut zu, etwas zu mir zu nehmen und suchten mich zu trösten.

»Mach Dir keine Sorgen,« begann Leonhard schließlich, »Du kannst bei uns bleiben, solange es Dir paßt, und Anna und Gretchen werden sich deiner annehmen. Inzwischen werden wir nach Manchester an die Polizei telegraphieren, daß man auf dein Haus Obacht gibt, bis Du selbst in der Lage bist, Dich wieder darum zu kümmern.«

»Ich werde inzwischen mit den Geschäftshäusern, deren Vertretungen Du noch besorgst, verhandeln,« sagte Wafer, »und unser jetziger Reisender kann noch solange auf die Tour gehen, bis Du vollständig wiederhergestellt bist.«

Um drei Uhr kehrten wir wieder in den Sitzungssaal zurück und ich machte meine Aussagen. Während ich sprach, mußte ich unwillkürlich einen Mann anstarren, der der Verhandlung beiwohnte. Er hatte ein häßliches Säufergesicht mit einer verfärbten dicken Schwiele in den aufgedunsenen Zügen und schien auf jedes Wort, das ich aussagte, fieberhaft aufzupassen.

Dann wurde meine Nachbarin in Manchester, Frau Lander, vereidigt. Sie hatte meine Frau identifiziert und sagte aus, daß diese am Mittwoch Morgen in einer Droschke von Hause fortgefahren sei. Kaum hatte sie geendigt, als der schon erwähnte Mann mit dem Säufergesicht aufsprang und mit erregter Stimme ausrief:

»Ich wünsche vereidigt zu werden, denn ich habe Aussagen von Belang zu machen.«

Das geschah und er wurde nach seinem Namen gefragt:

»Eduard Revel.«

»Ihre Beschäftigung?«

»Versicherungsagent.«

»So sagen Sie aus, was Sie zu berichten haben.«

»Herr Vorsitzender, wenn die Ermordete Frau Filbert aus Manchester ist, dann ist es meine Schwester«.

Ich starrte den Mann entsetzt an. Meine Frau hat meines Wissens keinen Bruder, was hatte das also zu bedeuten?

»Aber das ist nicht alles,« fuhr jener fort, »ich wünsche den Mann, der meine Schwester ermordete, der Gerechtigkeit zu überliefern, deshalb muß ich die Polizei mit Tatsachen bekannt machen, die zur Entdeckung des Täters führen werden. Meine Schwester war nämlich in Wahrheit mit Herrn Filbert überhaupt nicht verheiratet, denn die Ehe war ungültig. Sie besaß bereits einen noch am Leben befindlichen Gatten.«

»Einen noch lebenden Gatten?« fragte der Vorsitzende, während ich wie zur Salzsäule erstarrt kein Wort hervorzubringen vermochte.

»Jawohl! und ihr erster Gatte befindet sich in diesem Augenblick hier im Zimmer; sein Name ist Gareth Roystock!«

Wir folgten unwillkürlich der ausgestreckten Hand des Trunkenboldes, der nach Roystock wies, mit den Augen; der Maler stand bleich wie der Tod und mit zusammengepreßten Lippen da, der Mann fuhr jedoch ungerührt fort:

»Ich spreche im Namen der Gerechtigkeit und will meine Schwester gerächt sehen, deshalb fordere ich die Polizei auf –«

»Halt,« unterbrach ihn der Vorsitzende, »kommen Sie zur Sache. Haben Sie noch weitere Aussagen zu machen?«

»Jawohl; ich sah einen Mann am Mittwoch Abend um halb 8 Uhr die Efeuvilla verlassen und folgte ihm bis zu seiner Wohnung.«

»Und wer war es? Kennen Sie seinen Namen?«

»Es war mein Schwager, Herr Gareth Roystock!«

Es entstand ein drückendes Schweigen, dann flüsterte der Vorsitzende kurze Zeit mit dem Polizeiinspektor und erhob sich sodann:

»Ich vertage nunmehr die Verhandlung, der Polizeiinspektor haftet dafür, daß Eduard Revel zu der neuen Verhandlung als Zeuge erscheint.«

Die Zuschauer entfernten sich langsam und ich hätte gern mit dem Manne, der sich Revel nannte, gesprochen, aber Leonhard wollte das nicht zugeben. Ich habe noch die dunkle Erinnerung, als hätte Ernst Wafer erregt mit Herrn Roystock gesprochen und ihn aus dem Saale zu entfernen versucht, aber ich weiß nicht, ob ihm das glückte, denn Leonhard führte mich fort und schob mich in eine Droschke, die uns rasch seiner Wohnung im Villenviertel der Stadt zuführte.



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