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Dreizehntes Kapitel.
Marcelles Beichte

Die ärztliche Untersuchung hatte stattgefunden und die Konskribierten von Kromlaix kannten bereits ihr Schicksal. Gildas Derval war überaus tauglich befunden worden und hielt es seither für unerläßlich, seine kriegerische Begeisterung im Wirtshaus zu kräftigen. Er taumelte wie ein richtiger Veteran. Sein Herzenswunsch, daß auch Hoël angenommen werde, war ebenfalls in Erfüllung gegangen. Dieser hatte, wie wir wissen, die Nummer 27 gezogen und da zwei junge Bursche, welche niedrigere Zahlen gezogen hatten, untauglich befunden wurden, außerdem auch Rohan sich nicht stellte, mußte er mit noch zwei anderen einspringen. Der Korporal war begeistert, die beiden Bursche redeten sich in eine kriegerische Stimmung hinein; aber Mutter Derval war untröstlich, denn in einigen Tagen sollten ihre Söhne den Marschbefehl erhalten.

Mittlerweile suchte das ganze Dorf des widerspenstigen »Nummer Eins« habhaft zu werden. Von St. Gurlott war eine Abteilung Gendarmen unter Führung des alten Jacques Pipriac gekommen, die Kromlaix Tag und Nacht durchstreiften und denen die Konskribierten, soweit es in ihrer Macht stand, Detektivdienste leisteten. Alles vergebens. Rohan schien vom Erdboden verschwunden zu sein.

»Sakrament noch einmal hinein!« schrie Pipriac die alte Gwenfern eines Tages an, nachdem er zum vierten- oder fünftenmal ihre Hütte durchsucht hatte. »Wenn ich den Kerl erwische, soll er mir büßen! Alte, du hast ihn irgendwo versteckt, leugne es nicht! Heraus mit ihm!«

Die Leute durchstachen mit ihren Bajonetten die Matratzen, durchstöberten alle Schränke, Schubladen und Truhen, suchten an Orten, wo sich kein Hund verkriechen würde und wetterten und fluchten gegen Rohan, bis Mutter Gwenfern es nicht mehr mit anhören konnte und bitterlich weinend ausrief: »Schmach über Sie, Sergeant Pipriac! Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß Sie gegen seines Vaters Sohn so grausam sein könnten!«

Der Sergeant, ein kleines, untersetztes, einäugiges Kerlchen mit scharfgebogener Schnapsnase, zwirbelte den ergrauten Schnurrbart und brummte: »Zum Teufel auch, der Mensch und Soldat muß doch zuerst seine Pflicht erfüllen! Alte, dein Sohn ist ein Narr und wenn ich nicht hinter ihm her wäre, würde ein anderer die Sache in der Hand haben, der ihm noch schlimmer zusetzen könnte. Ich habe Gott gedankt, daß man mich geschickt hat, den fahnenflüchtigen Sohn meines besten Freundes zu suchen. Du weißt, ich meine es gut mit ihm. Sei gescheit und sag' mir, wo er steckt, ich schwöre es dir bei den Gebeinen des heiligen Triffine, daß ihm kein Leid geschieht und daß er noch ein tapferer Soldat unseres Kaisers wird!«

»Ich habe Ihnen schon versichert, daß er nicht hier ist und daß ich seinen Aufenthaltsort nicht kenne. Vielleicht ist er nach England geflüchtet« …

»Alle Teufel, nach England?!«

»Ich vermute es, Sergeant Pipriac,« stöhnte die Witwe.

»Bah, das ist nicht so leicht, wie du glaubst, und er wird wohl nicht so dumm gewesen sein, sich in das Land der wilden Bestien zu flüchten! Ich sage dir, er ist hier! Ich weiß – nein, ich rieche es, wie der Hund die Ratte riecht. Verflucht, daß der Sohn meines braven Kameraden, Raoul Gwenfern, ein solcher Feigling ist!«

»Er ist kein Feigling, Sergeant!« fuhr die Witwe erregt auf.

»Er ist's! Er verkriecht und versteckt sich aus Furcht.«

»Mein Sohn Rohan weiß nicht, was Furcht ist, aber er wird nie Soldat werden!«

»Wenn ich ihn beim Kragen hätte, na, ich würde ihm ordentlich meine Meinung sagen,« bemerkte der alte Haudegen ärgerlich. »Weshalb nimmt er sich kein Beispiel an seinen Vettern Hoël und Gildas? Das sind tüchtige Bursche, jeder so stark, daß er einen Ochsen erwürgen könnte. Ihr Onkel, der Korporal, das ist aber auch ein ganzer Mann!« Dann wandte er sich an seine im Schornstein suchenden Leute: »Habt acht! Vorwärts, marsch! Der Fuchs ist uns entwischt.« An der Thüre drehte er sich noch einmal zurück: »Guten Tag, Mutter Gwenfern, wir werden wiederkommen! Nicht weil wir es wollen, sondern weil's der Kaiser befiehlt. Folge meinem Rate und überrede deinen Sohn – morgen kann's schon zu spät sein. Noch einmal Adieu! Marsch, ihr Leute!«

Die Witwe blieb allein. Gedankenvoll starrte sie ins lodernde Feuer. Sie war ein großes, starkes Weib mit aschfarbigem Gesicht und schneeweißem Haar. Man hielt sie allgemein für mürrisch und ungesellig, denn sie verkehrte selbst mit ihrer einzigen Schwester, der Witwe Derval, so gut wie gar nicht. Sie kannte deren Kinder kaum. In Wirklichkeit war sie eine herzensgute Frau, nur ging sie in der Liebe für ihr einziges Kind auf.

Als sie dem Sergeant sagte, daß sie Rohans Aufenthalt nicht kenne, sprach sie die lautere Wahrheit. Sie hatte ihn seit mehreren Tagen nicht gesehen und hoffte wirklich, daß er ins Ausland geflüchtet war. Die Ärmste hatte keine Ahnung, wie schwer es für Flüchtlinge war, sich den wachsamen Augen der Spione und der hohen Obrigkeit zu entziehen. Sie kränkte sich über seinen offenen Widerstand und noch mehr darüber, daß das ganze Dorf ihn für einen Feigling hielt; selbst seine nächsten Verwandten sprachen verächtlich über ihn. Man brachte ihr zu allen Stunden des Tages Neuigkeiten zu, die ihr das Blut in den Adern gerinnen machten. Jedermann behauptete, daß man Rohan früher oder später doch erwischen werde und daß er ein Kind des Todes sei, denn man würde ihn wie einen tollen Hund erschießen.

Ach, wenn er sich doch nur vom Anfang an in sein Schicksal ergeben und auf die Hilfe Gottes gebaut hätte! Wieviele waren in den Krieg gezogen und dann doch heil heimgekehrt, oder wenn auch nicht heil, so doch als Invaliden wie Onkel Ewen. Sie grollte dem Kaiser, jedoch nur so, wie sie in bösen Tagen Gott zu grollen pflegte, denn der Kaiser war wie Gott – so groß, so erhaben und so weit entfernt!

Vor dem Feuer sitzend, grübelte und grübelte sie, dabei dem Sturm lauschend, der seit Nachmittag tobte und das Meer aufpeitschte. Zu ihren Füßen kauerte mit geschlossenen Augen Jannedik, die Ziege, der Liebling ihres Sohnes und jetzt ihre einzige Gesellschafterin.

Das schmale Zimmer mit der spärlichen Einrichtung – einem groben ungehobelten Eichentisch, einigen Stühlen und Bänken – machte einen düsteren Eindruck. Das flackernde Feuer warf seine Schatten auf den gestampften Lehmboden und die rauchgeschwärzten Balken. An den Wänden hingen Fisch- und Vogelfangnetze und sonstiges Handwerkzeug, ein buntes Muttergottesbild mit dem Jesukindlein und andere Heiligenbilder.

Plötzlich erhob sich die Ziege, spitzte die Ohren und lauschte. Jannedik war eine ganz besondere Ziege – wachsam wie ein Schäferhund und auch so klug, nur daß sie nicht bellen konnte. Und sie hatte auch diesmal recht. Jemand näherte sich der Thüre und drückte auf die Klinke. Mutter Gwenfern blickte sich zuerst gar nicht um, denn sie war es in den letzten Tagen gewohnt, daß die Nachbarn ungebeten ein und ausgingen und dachte, daß irgend jemand ihr wieder eine Hiobspost bringe. Erst als sie bemerkte, daß Jannedik wieder ihren Platz eingenommen habe, wandte sie ihren Kopf ein wenig der Thür zu und sah, daß ihre Nichte Marcelle ihren großen, vom Regen durchnäßten Mantel abnahm und an den Nagel hängte.

Sie hatten sich seit dem verhängnisvollen Abend, an welchem Marcelle Rohan die Kokarde anheftete, nicht gesehen, und damals war Mutter Gwenfern sehr erbittert und böse gewesen. Marcelles Anblick brachte ihr die furchtbare Scene in Erinnerung, sie erbleichte, ihr Herz begann heftig zu klopfen, und ohne ihre Nichte zu begrüßen, starrte sie wieder mit thränenumflorten Blicken ins Feuer.

»Ich bin's, Tante Luise,« sagte Marcelle sanft.

Keine Antwort. Die Witwe zürnte der ganzen Familie Derval und ärgerte sich über Marcelles Besuch.

»Der Gedanke war mir schrecklich, dich, Tante Luise, bei diesem Sturm hier einsam und allein zu wissen. Obgleich der Onkel nicht wollte, daß ich komme, machte ich mich dennoch auf den Weg. O, mein Gott, wie schrecklich ist es doch, wenn die ganze Welt gegen eines Menschen einzigen Sohn ist!«

»Und noch schrecklicher ist es, wenn die eigenen Verwandten uns hassen und verfolgen,« fuhr die Witwe bitter auf. »Es war ein böser Tag, als meine Stiefschwester Margarid einen Derval heiratete, denn ihr seid euch alle gleich, nur daß Ewen Derval der schlimmste der ganzen Sippe ist. Wenn du eines Tages vielleicht selbst verheiratet sein solltest, dann wirst du begreifen, was ich jetzt leide und wirst mich bedauern!«

Marcelle kam näher und setzte sich an die äußerste Kante der Bank, auf welcher ihre Tante hockte. Diese zog sich noch mehr in sich zusammen und starrte dann wieder ins Feuer. Auch Marcelle blickte gedankenvoll in die Glut, neigte sich ein wenig vor, um ihre erstarrten Finger zu erwärmen und entgegnete dabei vorwurfsvoll: »Du bist ungerecht, Tante! Ach, wenn du nur wüßtest, wie sehr ich dich jetzt schon bedauere! Auch Onkel Ewen bedauert dich; er kränkt sich so sehr, daß er seit Tagen keinen Bissen gegessen hat. Unser Haus ist nicht minder düster als dieses, denn meine beiden Brüder Hoël und Gildas müssen in den nächsten Tagen einrücken; Mutter sitzt und weint Tag und Nacht so wie du hier.«

Diese beiden ins Feuer starrenden Frauen – die eine alt und grau, die andere jung und frisch – boten einen seltsamen Anblick. Jannedik schien ihre eigene Meinung über die Sache zu haben, denn sie erhob sich ruhig und legte ihren großen Kopf zwischen Marcelles Knie. Eine lange Pause trat ein; Sturm und Meer tobten draußen um die Wette. Endlich fragte die Witwe noch immer in bitterem Ton: »Wozu bist du gekommen, Mädchen? Was hat dich endlich zu mir gebracht?«

»Kannst du es denn nicht erraten, Tante Luise? Ich bin gekommen, um zu fragen, ob Rohan in Sicherheit ist?«

»So! Nun, wenn du gar so neugierig bist, so wisse, ja, er ist in Sicherheit!« antwortete die Alte mit kurzem, hartem, bitterem Lachen. »Ich weiß nur zu gut, wozu du gekommen bist, Marcelle Derval! Man hat dich geschickt, um auszukundschaften, wo mein armer Junge versteckt ist. Du willst ihn an Ewen Derval und seine übrigen Feinde verraten. Dein Gang war vergebens. Möge Gott dich für diese Schlechtigkeit bestrafen, obgleich deine Mutter von meinem Blute ist!«

Von keinem anderen Menschen auf der Welt hätte die stolze, leidenschaftliche Marcelle sich diese erniedrigende Verdächtigung gefallen lassen; jetzt legte sie nur sanft ihre Hand auf den Arm der Tante und bat: »Um der Barmherzigkeit willen, sprich nicht so!«

Ein gewisses Etwas in ihrer Stimme veranlaßte die Witwe, aufzublicken. Sie sah in die thränenüberströmten Augen Marcelles und zuckte zusammen. Das Mädchen war sonst nicht weinseliger Natur – was mochte das zu bedeuten haben?

»Weshalb weinst du? Was ist geschehen?«

»Wenn du wirklich glaubst, daß ich kein Herz habe,« stammelte Marcelle, sich von der Bank erhebend, »dann will ich lieber wieder gehen. Du hast kein Vertrauen zu mir und ich möchte dich mit meinem Anblick nicht ärgern. Aber wenn du wüßtest, wenn du wüßtest – – –«

Sie machte Miene, zu gehen. Mutter Gwenfern streckte jedoch ihre magere Hand nach ihr aus und hielt sie zurück: »Sprich, Mädchen, was hast du?« Ihre Stimme klang noch immer hart, aber ihr Blick war freundlich.

Marcelle stand bewegungslos und blickte der Matrone forschend ins Gesicht: »Hat Rohan dir nichts gesagt, Tante? Freilich, ich habe ihm ja das Versprechen abgenommen, dir nichts zu sagen.«

»Ich verstehe dich nicht, Kind!«

Der seltsame Glanz in Marcelles Augen und die Röte ihrer Wangen steckten der erfahrenen Matrone ein Licht auf und sie begann zu begreifen.

»Ach, Tante Luise, ich liebe Rohan! Ich wußte es nicht – bis kürzlich, aber jetzt liebe ich ihn innig und ich kann es nicht ertragen, wenn du so schlecht von mir denkst, denn er hat mich gebeten, sein Weib zu werden!«

Die Witwe stieß einen Ruf des Erstaunens aus, obgleich die Beichte als solche sie nicht besonders überraschte, denn auch sie hatte Rohan schon längst im Verdacht, in seine hübsche Base verliebt zu sein. Sie blickte Marcelle lange forschend an, die mit gesenktem Köpfchen vor ihr stand und unter ihren Blicken bald errötete, bald erbleichte. Endlich sagte sie in sanfterem Tone als bisher: »Setz' dich, Marcelle!«

Marcelle nahm verschämt wieder an der Seite der Witwe Platz, sie fühlte sich nach der Beichte wie von einer Centnerlast befreit. Beide Frauen schwiegen lange. Die Witwe saß wie in einem wachen Traum da und gedachte verschiedener Vorkommnisse, die ihr schon früher zu denken gegeben. Marcelle begann bereits zu fürchten, daß die Tante ihr zürne, als diese plötzlich mit leiser Stimme, als ob sie mit sich selbst spräche, sagte: »Wenn du ihn wirklich liebst, wie du behauptest, dann ist es seltsam, daß du ihm so wenig Glück gebracht hast!«

»Das habe ich mir schon selbst gesagt!« rief Marcelle, wie unter einem Peitschenhiebe zusammenzuckend. »Ach, wenn du wüßtest, Tante, wie inbrünstig ich zu Gott gebetet hatte, daß er mich eine hohe Nummer ziehen lasse! Ich dachte, ich müsse sofort vor Herzeleid sterben, als ich den Einser sah! Rohan hatte mich gebeten, für ihn zu ziehen, falls er nicht dort sein werde. Wenn nicht jemand seiner Verwandten für ihn gezogen hätte, würde man sofort ein schwarzes Kreuz neben seinen Namen gesetzt haben. Onkel Ewen hat ihn davor bewahrt, denn er erklärte den Beamten, daß er krank sei. Und Onkel Ewen hat großen Einfluß; wenn Rohan sich entschließen wollte, mitzugehen, würde man ihm noch verzeihen. Der Onkel hat versprochen, die Sache in Ordnung zu bringen, so daß Rohan für seine bisherige Widerspenstigkeit ohne Strafe ausginge. Wir beiden würden dann Tag und Nacht für ihn beten, bis er zurückkehrt, nicht wahr, Tante? Ach, wenn er nur Vernunft annehmen wollte!«

Die beiden Frauen saßen, ohne zu wissen, wie es gekommen, dicht aneinander geschmiegt Hand in Hand auf der schmalen Ofenbank. Es that Mutter Gwenfern so wohl, jemandem, der ihren Sohn liebte, ihr Herz ausschütten zu können.

»Ach, mein Kind, das ist unmöglich!« seufzte sie unter Thränen.

»Wenn ich nur mit ihm sprechen könnte! Er ist so schwer zu verstehen! Es bricht mir das Herz, alle Welt, sogar Kinder, sagen zu hören, daß unser Rohan ein Feigling ist!«

»Glaub's nicht, Marcelle, mein Sohn ist kein Feigling!«

»Als ob ich das nicht selbst wüßte! Ich weiß, daß er mutig ist, mutiger als die ganze Bande zusammen und doch handelt er nicht wie ein Mann! Der Kaiser ruft seine Kinder und er versteckt sich! Alle anderen Bursche fügen sich in ihr Schicksal, er lehnt sich dagegen auf. Er, der so stark, so tapfer ist, trotzt der Behörde und läßt, wie ein wildes Tier, Jagd auf sich machen. Was soll ich Gildas und Hoël antworten, wenn sie behaupten, daß er feige ist? Und auch Onkel Ewen ist schlecht auf ihn zu sprechen.«

»Er ist so starrköpfig! Meister Arfoll hat ihm seltsame Ideen beigebracht – – –«

»Ach ja, Tante, an all unserem Unglück ist Meister Arfoll schuld,« unterbrach Marcelle die alte Frau. »Er ist ein böser Mensch und kein Freund Gottes und des guten Kaisers.«

Die beiden Frauen plauderten, bis das Eis zwischen ihnen vollständig thaute und sie miteinander ganz versöhnt waren. Mutter Gwenfern hatte keinen Augenblick daran gezweifelt, daß es Wahnsinn von Rohan sei, sich den Behörden zu widersetzen. Die Ungewißheit über seine Zukunft folterte sie. Daß sie, abergläubisch wie sie war, den Wanderlehrer für ein außergewöhnliches Geschöpf hielt, welches ihren Sohn irre leitete, darf man ihr nicht übelnehmen; konnte sie doch mit ihrem beschränkten Verstande die erhabene Größe dieses Mannes nicht erfassen. »Wie ganz anders hätte sich das Schicksal meines armen Rohan gestaltet, wenn er Arfoll nie begegnet wäre,« seufzte sie in ihrem Innern. Marcelle teilte diese ihre Meinung.

»Du bist ein gutes, braves Mädchen und ich würde mir keine bessere Schwiegertochter wünschen. Du kannst auch nichts dafür, daß Rohan dich, der Sitte entgegen, ohne Vermittler bat, sein Weib zu werden. Er ist ein unbedachter Junge – Gott helfe ihm und führe alles zum Guten! Mein armer, armer Sohn, wie wird es ihm noch ergehen!« jammerte die Alte, bitterlich weinend. Marcelle bemühte sich, obgleich ihr eigenes Herz vor Kummer und Sorge fast zu brechen drohte, sie zu trösten, was ihr zum Teil auch gelang; denn der einsamen Alten that es wohl, sich vor jemandem auszusprechen, der sie verstand und ihren Sohn liebte. Nachdem beide ihrem gepreßten Herzen Luft gemacht hatten, sanken sie wie auf Kommando vor dem Madonnenbilde in die Kniee und beteten für den geliebten Mann, daß Gott ihn erleuchte, damit er sich in das unabänderliche Schicksal fügen lerne. Jannedik blinzelte mit ihren großen, braunen Augen verwundert auf die seltsame Gruppe.

Durch solche Gebete, von jenen gebetet, die ihrem Herzen am nächsten stehen, werden die stärksten und charaktervollsten Männer oft von dem Pfade, den sie sich vorgeschrieben, abgelenkt. Wo Befehle und Drohungen nichts nützen, vermag oft eine Thräne, ein liebevolles Wort unseren Willen zu brechen, unsere Entschlüsse zu erschüttern. Das weiche Händchen eines Kindes vermag den gerechtesten Mann der Gerechtigkeit abtrünnig zu machen, den Rechtschaffensten der Rechtschaffenheit, denn Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit sind gleich schwer zu erfüllende Pflichten, während ein Kuß von liebem Munde so süß ist. Wie stark muß der Wille und der Glaube an eine gute Sache sein, wenn ein Mann sich weder durch Bitten noch durch Thränen seiner Lieben in seinem Entschluß erschüttern läßt und den Kampf gegen eine ganze Welt aufnimmt, wie Rohan, der einfache Fischer!

Marcelle blieb ziemlich lange bei ihrer Tante. Als sie endlich die Hütte verließ, waren ihre Thränen getrocknet und sie eilte mit elastischen Schritten in die Richtung des Dorfes. Der Wind fegte noch immer übers Meer und es goß in Strömen. Fischer zogen ihre Boote höher ans Land, brachten ihre Netze unter Dach und Fach, während einige alte Männer trotz Sturm und Regen vor der Thüre standen und besorgte Blicke auf das bleifarbige Meer warfen.

Statt in die Hauptstraße des Dorfes einzubiegen, schritt Marcelle über den feuchten Kies hinweg, bis sie die »Caloges« erreichte, jene Straße, die aus in Häuschen verwandelten Booten bestand, welche sich dicht am Strande erstreckten. Die meisten dieser Caloges hatten eiserne Rauchfänge aufgesetzt, ihre Dächer waren mit schleimigem Moos und Seetang bedeckt, auf welchem junge Zicklein grasten. Fast alle kleinen Thüren waren verschlossen, um den heftigen Wind abzuhalten; vor einigen jedoch saßen Männer, gemütlich ihr Pfeifchen rauchend, oder eifrig strickende Weiber und spielende Kinder. Dieses untere Dorfende war ausschließlich von armen Fischern bewohnt und wurde von den Bewohnern des oberen Dorfes als auf einer viel niedrigeren socialen Stufe stehend betrachtet.

Marcelle blieb vor einer Steinhütte, die sich gerade über diesen amphibienartigen Wohnstätten erhob, stehen. In der Thüre saß ein junges Mädchen in einem altmodischen Armstuhl und wickelte eifrig Wolle auf, dabei ein fröhliches Liedchen singend.

»Ah, willkommen, Marcelle!« rief sie erfreut.

»Gott mit dir, Genoveva!« antwortete Marcelle lächelnd. »Wie geht es Mutter Goron?«

»Du würdest glauben, daß sie um mindestens zehn Jahre jünger geworden ist. Sie singt während der Arbeit, ist rastlos thätig und betet allabendlich für den guten Kaiser, der ihr ihren geliebten Jan gelassen hat,« entgegnete das junge Mädchen, leicht errötend. Sie sah in ihrem dunklen Leibchen, dem weißen Vorhemdchen, der schneeigen Haube allerliebst aus und jeder Kromlaixer Jüngling hätte, ohne sich zu besinnen, versichert, daß Genoveva zu jenen Mädchen gehöre, mit welchen er gerne vom Abend bis zum Morgen tanzen würde, ohne ihrer überdrüssig zu werden.

Sie war nicht im Dorfe geboren, sondern in Brest, und hatte, kaum zwei Jahre alt, ihre Eltern verloren. Mutter Goron, eine entfernte Verwandte, nahm sich der Waise an. Sie hatte gerade zu jener Zeit in Brest die Witwenpension nach ihrem im Hospital verstorbenen Gatten zu beheben und brachte die kleine Genoveva mit nach Kromlaix. Sie behandelte die Kleine wie ihr eigenes Kind und erzog sie mit ihrem einzigen Sohn Jan.

»Was für Nachrichten hast du?« fragte Genoveva, einen Augenblick in ihrer Arbeit innehaltend.

»Gar keine. Tante Luise weiß auch nicht, wo er ist. Er war schon seit einigen Nächten nicht zu Hause und die Arme fängt an, ernstlich besorgt zu sein.«

»Das ist merkwürdig!«

»Er scheint völlig den Verstand verloren zu haben. Ich fange an, zu fürchten, daß er sich in seiner Verzweiflung und seinem Zorn ein Leid angethan hat. Ach, wenn ich nur mit ihm sprechen könnte, Genoveva!« seufzte Marcelle.

Die Mädchen sprachen natürlich von Rohan, vermieden es aber aus Vorsicht, seinen Namen zu nennen.

»Gildas muß also bald einrücken?«

»Ja, auch Hoël.«

»Deiner Mutter bleiben dann noch immer Alain, Jannick und du. Auch ist Onkel Ewen bei euch. Aber wie schrecklich für eine arme Mutter, die nur ein einziges Kind hat! Wenn der Kaiser Jan genommen hätte, Mutter wäre ganz bestimmt vor Kummer gestorben.«

»Aber Tante Luise bittet zu Gott, daß ihr Sohn mitgehen möge.«

»Dann besitzt sie große Selbstverleugnung. Wenn ich einen einzigen hätte, der in den Krieg ziehen müßte, mein Herz würde darüber brechen.«

»Wenn du wüßtest, wie sie sich grämt! Wenn ich einen Sohn hätte, der seine Mannespflicht aus Furcht nicht ausübte, ich könnte ihn nie mehr lieben. Bedenke doch, Genoveva, wie schrecklich es wäre, wenn den guten Kaiser alle seine Kinder verließen, für die er so viel gethan. Man würde ihn niedermetzeln und was geschähe dann mit Frankreich? Wenn Rohan seine Sinne beisammen hätte, er würde sich nicht verstecken, das kannst du mir glauben.«

»Vielleicht hat er doch Angst, es wäre kein Wunder,« seufzte Genoveva.

»Wenn du recht hättest, würde ich ihn für immer hassen!« brauste Marcelle heftig auf. Ihre weißen, festen Zähne schlugen förmlich aneinander. »Ich müßte vor Scham sterben! Was ist ein Mann, wenn er nicht das starke Herz eines Mannes besitzt? Er ist nicht mehr als ein Fisch im Wasser, der ängstlich davonschlüpft, wenn man die Hand nach ihm ausstreckt. Pfui über einen solchen Mann! Nein, nein, Rohan ist tapfer! Aber ich will dir sagen, was ich glaube – Meister Arfoll hat ihn verzaubert, er steht in seinem Banne!«

Marcelle glaubte wirklich, daß der Wanderlehrer Rohan mit seinen teuflischen Künsten beherrsche.

»Was fällt dir ein! Meister Arfoll ist ein guter Mensch!« verteidigte ihn Genoveva.

»Darüber kannst du denken, wie du willst, aber ich habe meine eigenen Gedanken. Man sagt, er sei früher einmal Priester gewesen; jetzt ist er kein Freund der Priester, er ist nur mit Vater Rolland befreundet, der jedermanns Freund ist. Er weiß allerlei Mittel für kranke Menschen und Tiere, die wie Zauberkraft wirken. Man erzählte mir auch einmal drüben in St. Gurlott, daß er ein ›böses Auge‹ habe.«

Genoveva schauderte, denn auch sie war abergläubisch; wie hätte sie es in der Umgebung, in der sie aufgewachsen war, nicht sein sollen? Als Marcelle sich bekreuzigte, that sie dasselbe, sagte aber mit sanftem Lächeln: »Das glaube ich von Meister Arfoll nicht! Solche Dinge darfst du Mutter Goron nicht erzählen. Er leistete ihr vor Jahren einmal einen großen, sehr großen Dienst und sie hält ihn seither für einen Heiligen, für einen auf Erden wandelnden Engel Gottes! Und er hat auch das Gesicht eines guten Menschen.«

Marcelles Augen blitzten zornig und sie hatte eine böse Entgegnung auf den Lippen, die nur durch das Erscheinen Jan Gorons ungesprochen blieb. Er blieb einige Schritte von der Thür entfernt stehen und schien erstaunt, Marcelle zu dieser Stunde und in diesem Wetter zu sehen.

»Willkommen, Jannick!« rief ihm Marcelle zu. Er trat rasch zu den beiden Mädchen, nickte lächelnd der errötenden Genoveva zu, blickte spähend nach allen Seiten, um sich zu vergewissern, daß kein Lauscher in der Nähe sei, ehe er mit leiser Stimme sagte: »Ich habe Nachrichten, Marcelle! Er befindet sich in unserer Nähe.«

Marcelles Lippen wäre beinahe ein Freudenschrei entschlüpft, wenn Jan nicht warnend ihren Arm berührt hätte: »Pst! Komm ins Zimmer herein, denn es regnet stark und wir müssen uns vor Spionen hüten.« Erst als sie die Thüre hinter sich geschlossen hatten und Mutter Goron, die gerade mit vollen Backen das Feuer blies, gegenüber standen, fuhr er fort: »Man hat ihn gestern in Ploubol gesehen, ein Mann erkannte ihn und man hätte ihn fast verhaftet. Er schlug einen Gendarmen nieder und das wird seine Sache noch verschlimmern. Es giebt keine Rettung mehr für ihn; man wird seiner nur zu bald habhaft werden. Zuletzt hat man ihn in der Richtung von Traonili gesehen.«

Marcelle rang verzweifelt die Hände: »Mein Gott, mein Gott, er ist wahnsinnig, er ist verloren! Was kann ich für ihn thun?«

»Hast du die Proklamationen gelesen?« fragte Jan im Flüstertone. »An jeder Straßenecke, vor dem Kirchthor und an eurer Thüre sind welche aufgeklebt. Jedem Hausbewohner ist bei Todesstrafe untersagt, einem Deserteur Obdach zu bieten oder ihm zur Flucht zu verhelfen; ferner heißt es darin, daß jeder Konskribierte, der es unterläßt, sich bei der Behörde zu melden, wie ein Hund niedergeschossen wird – ohne Gnade und Barmherzigkeit.«

Goron war tief bewegt, denn er war der einzige im Dorfe, der sich rühmen konnte, von Rohan »Freund« genannt zu werden. Die beiden jungen Leute waren sich von Kindheit an sehr zugethan, da ihre Charaktere viele gemeinsame Züge aufwiesen und sie sich auch an Körperkraft miteinander messen konnten. Und wer Goron im stillen beobachtet hätte, wie sein Blick aufleuchtete, als er seinem Bäschen Genoveva freundlich zunickte, hätte sich sagen müssen, daß auch er sein Herz in der gleichen Weise wie Rohan verschenkt habe.

Marcelle erbleichte bis an die Lippen, als sie von den Proklamationen hörte und dabei verschwieg er ihr noch mitleidig das Schauspiel, das er mit eigenen Augen beobachtet hatte. Mit der Pfeife im Munde, von Pipriac, seinen Gendarmen sowie von Gildas und Hoël gefolgt, war der alte Korporal fluchend von Straße zu Straße gehumpelt, um mit eigenen Händen die Proklamationen anzukleben.

Marcelle gehörte nicht zu den Mädchen, denen das Herz gleich in die Schuhe sinkt; in ihren Adern floß echtes Soldatenblut; aber diese Nachricht überwältigte sie so sehr, daß sie auf einen Augenblick das Bewußtsein verlor. Und in dieser kurzen Zeit durchlebte sie noch einmal den glücklichen Morgen in der Kathedrale von St. Gildas; sie fühlte sich von Rohans kräftigen Armen umschlungen, fühlte seine heißen Küsse und das beseligende Glück, das sie damals durchrieselte; dann wieder sah sie ihren heißgeliebten Rohan mit wildrollenden Augen, den Kaiser verfluchend, wie sie ihn an jenem furchtbaren Abend nach der Konskription gesehen. Sie konnte und wollte nicht zugeben, daß Rohan sich aus Feigheit und Furcht verstecke; sie redete sich vielmehr in den Glauben, daß er unter dem Zauber eines bösen Menschen wie Arfoll stehe, der ihn zwinge, so unvernünftig zu handeln.

Als sie die Augen wieder aufschlug, fühlte sie sich so elend und schwach, daß sie sich an den Thürpfosten lehnte und wortlos in den strömenden Regen hinausstarrte. Der herrliche, märchenhafte Traum ihrer jungen Liebe schien durch Thränen und Sorgen weggewischt zu sein.

»Marcelle, liebe Marcelle,« flüsterte Genoveva liebevoll und streichelte der Freundin die Hand, »gräme dich nicht so, alles wird noch gut werden.«

Marcelle antwortete mit einem schweren Seufzer, ihr bleiches Gesicht, sonst so energisch, drückte die hoffnungsloseste Verzweiflung aus.

»Er kann noch immer begnadigt werden,« tröstete Goron, »denn der Kaiser braucht dringend solche starke Bursche wie Rohan. Wenn er sich nur melden wollte!«

Marcelle schwieg noch immer; erst nach einer langen Weile küßte sie Genoveva stumm auf beide Wangen, reichte Goron die Hand und sagte mit fester Stimme: »Jetzt muß ich aber gehen, Mutter wird sonst nicht wissen, wo ich so lange bleibe. Habet Dank und lebet wohl!«

Wie im Traume schritt sie die lange Dorfstraße hinab. Sie sah und hörte nichts, spürte auch den Regen nicht, der sie, trotz des langen schwarzen Wettermantels, den sie trug, bis auf die Haut durchnäßte.

Das Meer erhob sich immer höher und brüllte mit dem Winde um die Wette. Aber in ihrem Herzen tobte ein Sturm, der noch heftiger war als der draußen in der wildaufgeregten Natur.


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