Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Nicht weit von der kleinen Kapelle entfernt, jedoch unten am wilden Meeresstrand unter den Klippen, erhebt sich ein Dom, schöner als ihn Menschenhände erbauen könnten, umwölbt von einem ewig azurnen Dach, mit purpurnen, grünen, goldenen Wänden und einem echten Mosaikboden. Die Leute nennen den Haupteingang »das Thor des heiligen Gildas,« aber die herrliche Kathedrale selbst hat weder einen Namen, noch Betende.
Bei niedrigem Wasserstand kann man trockenen Fußes durchs Thor schreiten, bei halber Flut muß man schon bis zum Rumpf durchs Wasser waten, bei dreiviertel und bei voller Flut kann nur ein tüchtiger Schwimmer und Taucher hineingelangen.
Zwei ungeheure rötliche Granitwände ragen aus den mächtigen Klippen empor und begegnen sich weit draußen am Rande des Meeres. Die Wellen haben deren unteres Ende in einem riesigen Bogen ausgehöhlt, der mit tropfendem Moos bekleidet ist. An jeder Seite erheben sich gewaltige Wände, von Wind und Wetter zu den phantastischesten Nischen und Figuren umgeschnitzt. Diese Kathedrale hat zwar keine gemalten Fenster, dafür aber wird sie vom blauen, wolkenlosen Himmelszelt überdacht. Mattes, zur Andacht stimmendes Licht beleuchtet diesen feierlichen Ort und die von der Natur gebildeten steinernen Nachahmungen der verschiedensten mystischen Gestalten, denen der Aberglaube Namen wie »Mit einer Bischofsmütze bekleideter Abt,« »Mönch in der Kutte« und verschiedener Heiligen verliehen hat. Der Boden ist mit grobem Kies und Tang bedeckt, da und dort erheben sich aus demselben wie geschnitzte Grabsteine aussehende Riesensteinblöcke, auf denen in stiller Mitternacht Robben sitzen und wie schwarze Totengespenster zum Mond hinaufblicken.
Der Aberglaube hat die wahre Geschichte dieses Doms in eine Legende verwandelt. Nach dieser stand vor undenklichen Zeiten an dieser Stelle wirklich eine von Menschenhänden erbaute große Abtei, aber die Mönche waren lasterhaft und entweihten den heiligen Ort, den Namen Gottes. Aber Gott ist gut, und in seiner großen Gnade schickte er einen Heiligen Namens Gildas vom Himmel herab, um die Mönche zu ermahnen, ihr gotteslästerliches Treiben einzustellen oder der kommenden Strafe gewärtig zu sein. In einer furchtbar kalten Winternacht erreichte Gildas das Thor; seine Glieder waren ganz starr vor Frost, ihn hungerte und dürstete auch sehr; mit erfrorenen Fingern klopfte er ans Thor; aber die Mönche schwelgten und praßten gerade und hörten das leise Klopfen nicht. Er klopfte noch einmal, diesmal hörten sie es; als sie aber sein müdes Antlitz, seine ärmliche Kleidung und seine nackten Füße sahen, wiesen sie ihm barsch die Thür. Gildas beschwor sie im Namen der Heiligen Jungfrau, ihm ein Obdach zu gewähren, und warnte sie vor dem Strafgericht Gottes; aber noch während er sprach, schlugen sie ihm das Thor vor der Nase zu. Der Heilige hob entrüstet seine Hände gen Himmel, verfluchte die Abtei mitsamt ihren Insassen und befahl dem Meere, sich zu erheben und die Gottlosen zu töten. Obgleich das Meer damals noch viele Meilen von der Abtei entfernt war, erhob es sich, kam, vernichtete die Mönche, wusch das große Dach der Kathedrale hinweg und zerstörte diese. Zum Zeichen, daß sich all dies so zugetragen, blieben die Grundfesten des Gebäudes bis zum heutigen Tage bestehen.
Wir sagten, die Kathedrale habe keine Betenden; doch nein, sie hatte deren zwei – Rohan und Marcelle. Wenige Tage nachdem sie zusammen in der kleinen Kapelle gestanden, finden wir sie auf einem Steinblock in der Kathedrale sitzen. Das Meer war vollkommen ruhig; nicht das kleinste Geriesel befeuchtete den Boden, und doch war er noch von der letzten Flut naß. Die tangbehangenen Granitblöcke glitzerten rosig im hellen Tageslichte. Das Pärchen blickte von seinem Sitze aus bewundernd nach oben. Was mochte es dort sehen? Den Altar.
Hoch oben erstreckten sich glatte Felswände, aber nahe über ihren Köpfen befand sich ein dicker Moosvorhang und über diesen rieselten, von geheimnisvollen Höhen kommend, kleine krystallhelle Wasserstrahlen, die sich an den weichen Moosfransen brachen und unzählige Perlen über den smaragdgrünen Vorhang streuten, kleine Wasserfälle von hellstem Silberfiligran bildeten oder wie flüssiges Gold auf dem dunklen Grunde blitzten, und auf dieser duftigen Masse von glitzernden Farben tanzten, hüpften und schwebten flimmernde Lichter in allen Farben des Regenbogens. Etwa hundert Meter höher war das Gestein in phantastische Säulen und Architraven zerrissen. Gerade über dem Altar war ein dunkler Fleck sichtbar, der aussah wie der Eingang zu einer Höhle.
»Sollten wir nicht schon gehen?« bemerkte Marcelle plötzlich. »Bedenke, wenn die Flut uns hier überraschte – wie schrecklich! Hoël Grallon hat so seinen Tod gefunden.«
»Hoël Grallon war ein großer Ochse und hätte lieber betend vor seiner Hütte bleiben sollen!« entgegnete Rohan lächelnd. Es war das selbstbewußte Lächeln der Kraft und geistigen Überlegenheit. »Meine Kathedrale hat zwei Ausgänge; wenn Nippflut ist und das Meer nicht rauh, kann man getrost hier unter dem Altar die Ebbe abwarten, denn die Flut wird nie so weit steigen. Ist es aber stürmisch und bläst es stark, klettert man einfach in das ›Trou‹ hinauf« – dabei deutete er auf den dunklen Fleck über seinem Haupte – »oder gar auf die Felsenspitze.«
Marcelle zuckte mit den Schultern: »Du hast gut reden! Kann denn jeder wie eine Gemse klettern? Noch dazu da hinauf auf die steile Klippe!«
»Bis zum Trou ist es wirklich ganz leicht; man hat Vorsprünge für die Füße und Nischen für die Hände.«
»Und wenn man schon hinaufkäme, was dann? Das Trou sieht wie der Eingang zur Hölle aus, niemand würde es wagen, dort einzutreten,« bemerkte Marcelle, sich bekreuzigend.
»Du irrst! Dort droben sieht es eher wie in einer stillen Kapelle aus. Es ist ganz trocken und angenehm; wenn man ein Licht hätte, könnte man oben ganz gemütlich leben.«
»Dann ist es eine Höhle?«
»Zum Aufenthalt für eine kleine, niedliche Nixe wie geschaffen!« entgegnete Rohan lachend.
»Ach, sag' das nicht!« rief Marcelle, sich wieder rasch bekreuzigend. »Welch entsetzlicher Ort!«
»Er ist nicht entsetzlich! Ich würde ganz ruhig oben schlafen – so still und friedlich ist's! Wenn die blauen Tauben und die Fledermäuse, die die ganze Nacht ein und aus huschen, nicht wären, könnte man glauben, man liege zu Hause in seinem Bette.«
»Fledermäuse! Mich überläuft eine Gänsehaut!« rief Marcelle mit Schaudern. Obgleich sie sonst ein mutiges Mädchen war, konnte sie den fast allen Frauen angeborenen Ekel vor allen kriechenden oder für unrein geltenden Geschöpfen nicht überwinden.
»Die Felsspitze dort oben, die dir so gefährlich scheint, ist es gar nicht,« fuhr Rohan belehrend fort. »Ich habe unsere Jannedik oft hinaufklettern sehen und würde mich gar nicht fürchten, es selbst zu versuchen; es ginge viel leichter als auf den Gurlans-Felsen.«
Marcelle antwortete nicht und eine Weile herrschte tiefe Stille. Rohan las in einem alten, abgegriffenen Buche, das auf seinen Knieen lag, oder that vielmehr, als ob er lese. In Wirklichkeit blickte er verstohlen nach seiner Gefährtin hin; schon das Bewußtsein ihrer Nähe erfüllte ihn mit Entzücken.
»Wenn wir noch länger bleiben, werde ich meine Sabots und meine Strümpfe ausziehen müssen,« rief Marcelle erregt. »Wenn du willst, bleib', Rohan, ich für mein Teil laufe davon.« Ehe er sich's versah, war sie beim Thor und blickte von dort zu ihm zurück. Er rührte sich nicht.
»Wir haben noch Zeit,« sagte er, von seinem Platze aus aufs Meer spähend, das bereits Miene machte, gurgelnd durch den Granitbogen in die Kathedrale zu dringen. »Komm zurück, Marcelle, und fürchte nichts. Wir können noch eine halbe Stunde bleiben. Hast du vergessen, wie wir früher zusammen durch die blaue Flut zu waten pflegten? Denk' nicht an deine Strümpfe und Holzschuhe; komm zurück; sieh, wie schön es hier ist.«
Noch einen unruhigen Blick auf die steigende Flut draußen vor dem Thor werfend, schlich sie stumm auf ihren Platz zurück und ließ sich wieder neben ihrem Vetter nieder. Seine Kraft und Schönheit fesselten sie, wie sie jedes andere Mädchen an der Küste gefesselt haben würden. Während sie ihre weiche braune Hand auf sein Knie legte und ihm in die Augen sah, war ihr Herz von einem geheimnisvollen Verlangen erfüllt, das sie sich nicht zu deuten vermochte.
»Sieh doch, hat es nicht den Anschein, als ob alle diese schäumenden und brausenden Meereswogen hereinstürzen wollten, um uns zu verschlingen, wie sie einst die große Abtei verschlungen haben?« bemerkte Rohan, aufs Thor zeigend.
»Gehen wir!« lispelte Marcelle ängstlich. Sie war abergläubisch; die Anspielung auf die alte Legende ließ ihr diesen feierlichen Ort unheimlich erscheinen.
»Warte doch noch ein Weilchen,« entgegnete Rohan, schloß sein Buch bedächtig und erhob sich langsam. »In einer halben Stunde, nicht früher, wird das Thor wie der Rachen eines Ungeheuers aussehen. Erinnerst du dich der Geschichte, die ich dir wiederholt erzählt habe, von dem großen Seeungeheuer, von der an den Felsen geketteten Maid und wie der tapfere beflügelte Jüngling sie gerettet und das Ungeheuer zu Stein verwandelt hat?«
»Ob ich mich erinnere!« bejahte Marcelle lachend. Sie wußte selbst nicht, weshalb ihr das Blut dabei in die Wangen stieg.
Rohan, der eine besondere Vorliebe für Mythen und Märchen besaß, hatte ihr wiederholt die schöne Mythe von Perseus und Andromeda erzählt, und sie hatte sich dann im Traume mehr denn einmal an den Felsen gekettet gesehen. Ein goldhaariger Jüngling, der Rohan glich, war vom Himmel auf ausgebreiteten Fittichen zu ihr herabgeschwebt. Merkwürdigerweise trug er grobe Strümpfe und Holzschuhe und die Tracht der Bretagner Bauern; das beeinträchtigte aber ihr Entzücken nicht im geringsten. Rohan war in ihren Augen ganz der Mann dazu, um im gegebenen Falle ein Ungeheuer zu töten, und wenn man seine Vorliebe für gefährliche Klettertouren in Betracht zog, konnte man sich ihn auch mit Flügeln vorstellen.
»Sieh mal dorthin! Bemerkst du das kauernde Seeungeheuer?« rief Rohan, nach dem Thor zeigend, wo sich gerade die ersten Wellen der steigenden Flut hereinwälzten und sich schäumend an den Steinblöcken brachen, die sich wie gierige Ungeheuer aus dem grünen Wasser abhoben.
»Wenn du hier bleiben und zusehen könntest,« fuhr er fort, »würde es aussehen, als ob sie mit ihren roten Mäulern das Wasser zerrissen. Bald wird weißer Schaum sie bedecken, schwarzer Tang ihnen wie Schnurrbärte herabhängen, das Wasser unter ihnen mit Schaum vollgespuckt und die Luft von einem Gebrüll erfüllt sein, wie von dem Bellen eines Ungeheuers. Einmal saß ich schon hier und beobachtete diesen Vorgang, bis ich glaubte, daß die alte Geschichte wahr geworden und das Ungeheuer hier sei; aber damals gab's einen Sturm.«
»Und du hast den Vorgang da droben vom Trou aus beobachtet?«
»Ich wurde von der Flut überrascht und mußte bis zum Sonnenuntergang zitternd oben hocken; dann legte sich der Sturm ein wenig, aber die Flut war noch immer hoch. Das Wasser erreichte die Wölbung des Thores; wenn die Wellen sich hoben, hätte nicht eine Fliege passieren können. Ich war hungrig und durstig und wußte nicht, was thun. Es war trotzdem sehr angenehm, zu beobachten, wie sich das Wasser auf dem Boden der Kathedrale in smaragdgrünen Krystall verwandelte, wie es schäumend über die Steinblöcke und Felsen gurgelte, wie die Robben unruhig hin und her schwammen und vergebens nach einem trockenen Ruhepunkt suchten. Aber all das war nicht imstande, meinen knurrenden Magen zu befriedigen, und doch mußte ich mich in Geduld fassen, denn die Flut wollte noch immer nicht sinken, dabei wurde es immer finsterer, nur die Sterne leuchteten da droben vom pechschwarzen Himmelszelt herab. Mir wurde unheimlich zu Mute, denn die alten Mönche und Äbte schienen von den Wänden herabzusteigen und über den Gewässern zu schweben. Ich ließ meinen Hut und meine Holzschuhe am Eingang zur Höhle zurück, kletterte vorsichtig von Vorsprung zu Vorsprung wieder herunter und sprang dann ins Wasser – es war schwarz wie der Tod.«
Marcelles Lippen entrang sich ein leiser Schreckensruf und sie umklammerte Rohans Arm.
»Im ersten Augenblick dachte ich, daß alle bösen Geister losgelassen seien, denn ich war unglücklicherweise mitten in eine Schar schwarzer Scharben geraten, die wie toll kreischten; eine tauchte unter und zwickte mich ins Bein, aber ich schüttelte sie ab. Nun schwamm ich dem Thor zu, allein ehe ich es erreicht hatte, erhob sich ein haushoher Wasserberg und versperrte mir den Weg. Entsetzt schloß ich die Augen; als ich sie wieder öffnete, hatte sich die Welle schon verlaufen und ich konnte die Wölbung des Bogens sehen. Rasch entschlossen trat ich das Wasser, bis ich den Bogen fast mit meiner Hand berühren konnte, dann wartete ich einen günstigen Augenblick ab und tauchte unter! Mon Dieu, das war eine furchtbare Minute! Wäre ich in falscher Richtung geschwommen oder nicht tief genug untergetaucht, die nächste Woge hätte mich in die Höhe gehoben und an den Granitwänden des Bogens zerschellt; aber ich hielt den Atem an, machte acht, neun, zehn Tempi unter dem Wasser und kam erst herauf, als ich zu ersticken drohte.«
»Was geschah weiter?« fragte Marcelle in höchster Spannung.
»Ich ließ mich von einer großen Welle durchs Thor tragen, sah das unendliche Meer vor mir, das sternenbesäete Himmelszelt über meinem Haupte und dankte Gott für meine Rettung. In demselben Augenblick wälzte sich schon wieder eine berghohe Woge auf mich zu. Ich holte tief Atem und tauchte unter; als ich an die Oberfläche kam, war sie bereits hinter dem Thor des heiligen Gildas verschwunden. Ich brauchte jetzt nur noch einige hundert Meter weit zu schwimmen, um auf dem Sande unterhalb der Leiter des heiligen Triffine zu landen.«
Das Mädchen blickte einen Augenblick bewundernd zu ihrem tapferen Gefährten empor, dann sagte sie mahnend: »Aber jetzt laß uns wirklich aufbrechen, Rohan, die Flut könnte uns auch heute überraschen und diesmal würde einer von uns sicherlich ertrinken.«
»Ich bin bereit, Fräulein Ungeduld!«
»Sieh mal, die letzte Welle hat uns schon den Weg versperrt und wir müssen wirklich durchs Wasser waten.«
»Was thut's? Das Wasser ist warm.«
Rohan streifte rasch seine Holzschuhe und Strumpfe ab; Marcelle that dies schon langsamer und mit nervöser Unruhe, dann erhob sie sich von ihrem Steinblock, machte eine Grimasse, als ihre Füßchen den kalten Kies berührten, Rohan nahm sie bei der Hand und führte sie dem Ausgang zu. Mit jedem Schritt stieg die Flut, und bald mußte sie ihm ihre Hand entziehen, um ihr Röckchen bis übers Knie zu heben. Sie errötete nicht, als sie ihre niedlichen Beinchen zeigte; sie wußte ganz gut, daß sie schön waren, schämte sich aber nicht, sie zu entblößen, denn die wahre Bescheidenheit besteht nicht in puritanischer Verhüllung dessen, was die Natur so schön gestaltet hat. In einem Punkte jedoch war Marcelle sehr streng. Der Sitte ihrer Heimat entsprechend, versteckte sie ihr üppiges, rabenschwarzes Haar sorgfältig unter ihrer kleidsamen Haube; niemand durfte es sehen, nicht einmal Rohan.
Als sie das Portal erreichten, mußten sie schon knietief im Wasser waten und vor ihnen erstreckte sich der ungeheure Ocean. Da und dort glitt ein rotbesegeltes Fischerboot darüber hin; die Flut stieg von allen Seiten, Marcelle war verzweifelt: »Mein Gott, ich habe es vorhergesagt, du wolltest aber nicht kommen!«
Rohan stand wie ein Steinfelsen im Wasser und lächelte überlegen: »Fürchte nichts. Halte deine Schürze auf.«
Sie gehorchte; er legte seine und ihre Holzschuhe und Strümpfe und das alte zerschlissene Buch, in welchem er gelesen, hinein, dann hob er sie wie eine Feder auf seine mächtigen Arme.
»Du bist schwerer als du zu sein pflegtest, Bäschen,« bemerkte er lachend, während Marcelle mit einer Hand ängstlich die Schürze zusammengerafft hielt und mit der anderen seinen Nacken umschlang. Langsam aber sicher, Schritt für Schritt, watete er, knapp an der moosbehängten Granitwand entlang, seewärts. Er schien es gar nicht eilig zu haben, wahrscheinlich weil er eine solch teuere Last trug; aber mit jedem Schritt stieg das Wasser höher, und als sie endlich das Ende der Wand erreichten, ging es ihm bis zum Munde.
»Mein Gott, wenn du jetzt straucheln solltest!« schrie Marcelle entsetzt auf.
»Ich werde nicht straucheln,« entgegnete Rohan ruhig.
Marcelle war dessen nicht so sicher und schmiegte sich fester an ihn. Sie hatte zwar keine besondere Angst, denn es lag keine Gefahr vor, aber sie empfand eine echt weibliche Abneigung gegen das Naßwerden. Hätte es eine wirkliche Gefahr gegeben, sie würde ihr mutig die Stirn geboten haben und wäre wie eine Heldin gestorben; aber da diese nicht bestand, war sie furchtsam und scheute das Wasser.
Rohan watete mit seiner süßen Last bedächtig dem Strande zu. Bald reichte ihm das Wasser kaum mehr bis zu den Knieen; sein Herz pochte stürmisch, seine Wangen brannten, ein eigentümliches Gefühl des Entzückens durchrieselte ihn. Er hätte Marcelle bis an das Weltenende auf seinen Armen tragen mögen. Immer bedächtiger schritt er weiter, denn er wollte den kostbaren Schatz so lange als möglich genießen. Sie rief endlich: »Rohan, spute dich doch! Mach', daß wir an den Strand kommen!«
Er wagte, seit er sie auf den Armen trug, jetzt zum erstenmal, ihr ins Gesicht zu blicken. Was er sah, jagte ihm das Blut in die Wangen. Seine Augen glühten und er zitterte unter seiner Last. Weshalb? Wir haben bereits erwähnt, daß das Haar einer Bretagner Jungfrau heilig ist und daß nur derjenige, den sie liebt, es sehen darf. Während des Durchwatens der Flut war Marcelles Haube nach rückwärts geglitten. Das wellige seidenweiche Haar umfloß ihr vor Scham erglühtes Gesichtchen und verlieh ihm einen neuen, bestrickenden und unwiderstehlichen Zauber.
Rohan war überwältigt. Als er liebetrunken zu ihr emporblickte, streiften ihre Locken sein Gesicht, er sog den feinen Haargeruch gierig ein und seine Augen ruhten trunken auf ihrem erröteten Antlitz.
»Rohan, beeile dich! Setz' mich nieder!«
Er stand schon eine Weile auf trockenem Boden, aber er hielt sie noch fest in seinen Armen. Das heilige Haar floß bis zu seinen Lippen herab und er bedeckte es mit leidenschaftlichen Küssen, während ihre Wangen immer mehr erglühten.