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An Orten umherzukriechen, die vor ihm noch kein menschlicher Fuß betreten, Klippen zu erklettern, auf denen man selbst Ziegen und Schafe nur selten sieht, geheime Verstecke zu erforschen, die sonst nur Habichten, Raben und schwarzen Bussarden bekannt sind, das bildete die Freude und das Vergnügen Rohans – eine Leidenschaft, die er mit den beflügelten, schwimmenden und kletternden Geschöpfen teilte. Er schwamm wie ein Fisch, kletterte wie eine Gemse und seine Freude wäre eine vollkommene gewesen, wenn er auch noch mit den Vögeln um die Wette hätte fliegen können.
Alle Bauern und Fischer des Dorfes Kromlaix sind Klippenkletterer, aber keiner kann sich solch kühler, über alle Angst erhabener Waghalsigkeit rühmen wie Rohan Gwenfern, der an Stellen, wo die geübtesten Vogler auf allen vieren kriechen müssen, fast aufrecht dahinschreitet. Man glaube aber nicht, daß ihm noch keine Unfälle zugestoßen seien, allein sie hatten nur zur Folge, daß er noch waghalsiger wurde. Fast noch ein Kind, hütete er Schafe und Ziegen zwischen diesen unwirtlichen Klippen und die einsamen Höhlen wiederhallten von den Klängen seiner kleinen Schalmei. Allmählich machte er sich mit jedem Winkel dieser zerklüfteten, furchtbaren Küste bekannt, so daß er, als er zum Jüngling herangewachsen war und seine Kameraden auf ihren Fischzügen weit draußen in der offenen See begleitete, sich seine leidenschaftliche Liebe für die Klippen und Riffe bewahrte. Während andere Bursche in ihrer freien Zeit am Strande herumlungerten, sich in den Wirtshäusern gütlich thaten oder vor der Hausthüre ihre Netze flickten, drang Rohan, mit einer brennenden Fackel in der Hand, wie ein Gespenst in stockfinstere Höhlen, wo die Robben ihre Jungen säugen, oder er schwamm nackt zu »Gurlans Nadel« hinaus.
Selbst im strengsten Winter, wenn wild schäumende Wellen die Felsen in ihren Grundfesten erzittern machten, wenn die Meereserdbeben ihr Unwesen trieben, Klippe um Klippe sich lockerte und lawinengleich ins Meer stürzte – ja, im tollsten Sturm der tollsten Jahreszeit trieb sich Rohan zwischen seinen geliebten Klippen herum.
So wuchs in ihm Tag um Tag, Jahr um Jahr jene fürchterliche, zähe Liebe fürs Meer, welche die Bewohner der Städte für ein Vorrecht der Poeten halten. Liebt der Ackersmann nicht auch sein Feld, der Matrose das Schiff, auf dem er die Welt umsegelt? Rohan liebte das Meer mit einer unvergleichlich tieferen Leidenschaft, und es ist keine Übertreibung, zu behaupten, daß er sich elend gefühlt haben würde, wenn er auch nur einige Meilen landeinwärts hätte leben müssen. Daß er das Meer so liebte wie er es eben that, ohne jede Sentimentalität, ohne romantische Ideen, ohne zu posieren, mit einer elementaren, aus dem innersten Herzen kommenden Liebe, war nur natürlich, denn er hielt sich für ein Pflegekind des Meeres.
An dieser wilden Küste ist allerlei unheimlicher und schauerlicher Aberglaube heimisch. Groteske und schreckliche Legenden gehen von Mund zu Mund, darunter eine, welche etwas mehr als eine bloße Legende ist. Sie erzählt von den Gefahren und Leiden während eines heftigen Seesturmes und wie in einer Sommernacht der Fischer Raoul Gwenfern sein goldhaariges Söhnchen mit auf den großen Fischzug nahm. In jener Nacht erhob sich eine heftige, den armen Fischern und Schiffern Tod und Verderben bringende Windsbraut. Sie blies aus vollen Backen und trieb die Fischerboote wie Nußschalen vor sich her auf den berghohen Wellen. Die entsetzten Insassen brüllten in ihrer Angst und Verzweiflung, und endlich, als alle Hoffnung verloren schien, kniete die Mannschaft dieses Fahrzeugs Seite an Seite in der tiefen Dunkelheit nieder und betete – wie sie es so oft in der kleinen Kapelle oben auf der Klippe zu thun pflegte – inbrünstig zu Unserer Lieben Frau von der Sicherheit. Nicht minder inbrünstig als alle anderen betete das Knäblein. Inmitten der tiefsten Dunkelheit des brausenden und stürmischen Meeres leuchtete ein heller Schein, der für einen Augenblick die um das Boot tosenden Gewässer beruhigte. Das unschuldige Kindlein an Bord – und nur dieses allein – sah inmitten des geheimnisvollen hellen Scheins und über den Gewässern schwebend ganz deutlich das Gesicht und die Gestalt der Mutter Gottes – genau so wie sie in der kleinen Kapelle der Notre Dame de la Garde zu sehen ist.
Sei dem wie immer, der Sturm hörte auf und die kleine Flotte war gerettet. Als es zu dämmern begann und die Fischer des Bootes sich von ihrem Schreck einigermaßen erholt hatten, bemerkten sie, daß ein Mann an Bord fehlte. Das Kind rief nach seinem Vater, aber er antwortete nicht, denn der Ärmste war in der tiefen Dunkelheit von einer Sturzwelle weggewaschen worden. Um den verlorenen Vater jammernd, erzählte das Kind, was es in der Stunde des Gebets über den Wassern gesehen habe. Ob es eine wirkliche Vision gewesen oder ein von der Erinnerung an das Bild der Mutter Gottes, das ihm stets so sehr gefallen, angeregtes Phantasiegebilde eines lebhaften Kindes, wer könnte das sagen? Aber an jenem Tage warf sich die vaterlose Waise verzweifelnd in die Arme der Mutter und hatte seither keinen anderen Vater mehr als das allgewaltige, grausame und doch so herrliche Meer!
Die Mutter, jetzt eine arme Witwe, wohnte am äußersten Ende des Dorfes in einem Steinhäuschen, welches unter der Höhlung einer Klippe stand. Ihr Sohn, ihr einziges Kind, das Kind ihrer Gebete und Thränen, das sie der besonderen Fürsprache der Madonna und der heiligen Elisabeth verdankt hatte, wurde immer schöner und schöner, je mehr er sich dem Mannesalter näherte. Von seinem Gesichte ging ein Leuchten aus, das seine Mutter insgeheim der himmlischen Erscheinung zuschrieb.
Solche Wundermären verbreiten sich mit Windeseile. Diese eine kam auch dem alten Ortspriester zu Ohren, und er beeilte sich, das Kind zu besuchen. Da er etwas von Phrenologie verstand, untersuchte er das Köpfchen und erklärte sich davon sehr befriedigt. Der liebe Gott läßt nicht alle Tage Wunder geschehen; diese Gelegenheit war zu gut, um sie unbenutzt vorübergehen zu lassen. Der Curé, in seiner Art ein tüchtiger und gelehrter Mann, machte der Mutter einen Vorschlag, der sie veranlaßte, Freudenthränen zu vergießen und zu erklären, daß die heilige Elisabeth wirklich ihre Beschützerin sein müsse. Er wünschte nämlich, Rohan in die heiligen Wissenschaften einzuweihen, damit er zu gegebener Zeit ein Priester Gottes werde. Das Anerbieten wurde mit Dank angenommen. Der Knabe mußte seinen geliebten Klippen, wo er die Ziegen hütete, lebewohl sagen und ins Haus des Geistlichen ziehen. Anfänglich gefiel ihm diese Veränderung sehr gut. Er lernte lesen, schreiben, etwas Latein und Griechisch. Er war ein aufgeweckter, williger Junge, der an den kältesten und finstersten Wintermorgen, ohne zu brummen, aufstand, um dem Curé bei der Frühmesse zu assistieren. Anderseits entwickelte er jedoch eine geradezu fabelhafte Fähigkeit zur Trägheit und zum Spielen. Je älter er wurde, desto weniger vermochte er seine Neigungen zu unterdrücken. Er pflegte sich in seinem Fischerboote auf die offene See hinauszustehlen oder den ganzen Tag zwischen den Klippen herumzustreifen oder einen Sommernachmittag am Strande zuzubringen, abwechselnd badend oder nach kleinen Krabben und Garneelen suchend. Wenn man ihn am nötigsten brauchte, konnte man ihn oft nirgends finden. Eines Tages brachte man ihn mit gebrochenem Schlüsselbein nach Hause – er hatte sich vergeblich bemüht, ein Rabennest auszuheben. Zwei- oder dreimal wäre er beinahe ertrunken.
All dies hätte der gute Priester noch dulden können, aber allmählich nahm Junker Rohan eine Art an, Fragen zu stellen, die dem Geistlichen unbequem wurde. Man lebte damals noch in den von der Revolution gezeitigten Ideen. Obgleich aus dem Königtum ein Kaisertum geworden war und obgleich die furchtbaren Ideen von 1793 kaum bis Kromlaix gedrungen waren, schwirrten doch seltsame Gedanken durch die Luft. Der kleine Meßgehilfe schwelgte in geheimer Lektüre, seine Augen öffneten sich, seine Zunge schwatzte gefährliche Dinge, und der gute Pfarrer entdeckte zu seinem Entsetzen, daß das Kind allzu aufgeweckt sei.
Als endlich die Zeit herannahte, da Rohan das Dorf verlassen sollte, um seine Studien fortzusetzen, lehnte er sich mit aller Kraft dagegen auf. Er erklärte mit Bestimmtheit, durchaus kein Priester werden zu wollen! Das war ein schwerer Schlag für seine Mutter und eine Zeitlang empfand sie sogar eine gewisse Bitterkeit gegen den Knaben. Zu ihrem größten Erstaunen jedoch stellte sich der Pfarrer auf die Seite des Abtrünnigen.
»Nur ruhig Blut, Mütterchen!« sagte er ernst. »Es taugt nichts, den Jungen zu einem Beruf zu zwingen, der gegen seine Neigungen ist. Das Leben eines Priesters ist im besten Falle ein sehr hartes. Das Priestertum ist ja ganz gut, aber es giebt auch bessere Wege, um Gott zu dienen.«
Rohans Herz hüpfte vor Freude, die Witwe aber rief zweifelnd: »Bessere Wege? Ach nein, Herr Pfarrer!«
»Doch, doch!« beharrte Hochwürden. »Gottes Wille ist immer das beste; besser ein guter Seiler als ein schlechter Priester, liebe Frau.«
Der Knabe kehrte nach Hause zurück. In Wirklichkeit war der Priester froh, ihn los geworden zu sein, denn er hatte die Überzeugung gewonnen, daß der Knabe nicht aus einem Stoff gebildet sei, aus dem heilige Männer gemacht werden; früher oder später würde er doch aus der Kutte gesprungen sein. Überdies fand der fromme Herr bald einen besseren Ersatz, so daß er die Enttäuschung und den Ärger rasch vergaß.
Rohan nahm mit dem Entzücken eines befreiten Vogels seine alte Lebensweise wieder auf. Er überzeugte auch seine Mutter, daß sich alles zum besten gewendet habe, denn um Priester zu werden, hätte er sie verlassen müssen, und wer hätte dann die Stelle des Vaters vertreten, wer wäre der Trost ihrer alten Tage geworden? Zwei Berufe haßte er und bei beiden wäre er für sie und für sein Heim verloren gewesen. Er wollte nicht Priester werden, weil ihm das Leben eines solchen nicht behagte und weil er dann überdies seine Cousine Marcelle nicht hätte heiraten können. Und er pries Gott und alle Heiligen dafür, daß er niemals Soldat werden konnte, weil er der einzige Sohn einer Witwe war.
Aber man zählte das Jahr 1813, und der große Kaiser bereitete einen großen Coup vor, durch welchen alle seine Feinde vernichtet werden sollten. Mancherlei Gerüchte gingen um, aber Bestimmtes wußte man noch nicht. In der Luft lag jene unheimliche Stille, die Stürmen und Erdbeben voranzugehen pflegt.
Hier unten in Kromlaix freilich, diesem entferntesten und trostlosesten Winkel der Bretagner Küste, schien die Sonne und glitzerte das Meer, als ob es nie ein Moskau gegeben, als ob nie Hekatomben von französischen Toten unter russischem Schnee vermodert wären, als ob das gemarterte Frankreich nie im geheimsten Herzenswinkel den Avatar verflucht hätte! Das Kriegsgeschrei wiederhallte weit und breit, aber Rohan beachtete es nicht. Das Glück macht egoistisch und Rohan war glücklich. Das Leben erschien ihm so süß! Es war ein Hochgenuß, zu atmen, zu sein, sich seiner Freiheit zu freuen, das Antlitz zur Sonne zu erheben, die Blicke übers unendliche Meer schweifen zu lassen, die vorbeigleitenden Segel oder den aufsteigenden Rauch aus den Schornsteinen des kleinen Fischerdorfes zu beobachten, den seltsamen Geschichten vom Bivouac und dem Schlachtfeld zu lauschen, die sein alter Onkel, ein bonapartistischer Feuerbrand, zu erzählen pflegte, Möwen- und Seepapageieneier zu suchen, in ruhigen Frühlingsnächten mit den Kameraden auf den Heringsfang auszuziehen oder gar sich mit Marcelle am Strande zu tummeln, an ihrer Seite niederzuknieen, in ihre Augen zu blicken und sie auf die frischen Wangen zu küssen! Welches Leben hätte besser, welches süßer sein können als dieses?!
Und Marcelle?
Sie ist das Kind von seiner Mutter Schwester und die einzige Nichte des seltsamen alten Korporals, bei dem sie nebst ihren vier erwachsenen, starken Brüdern lebt. Seit ihrer frühesten Kindheit sind die Geschwisterkinder gewöhnt, in aller Unschuld miteinander zu verkehren. Während die viel älteren Brüder die Gesellschaft der Kleinen nicht suchen, sondern in freien Stunden lieber anderen Mädchen nachgehen, findet man Rohan stets in ihrer Nähe. Er behandelt sie aufmerksamer und zärtlicher als irgend ein Bruder; liebt er doch ihre blitzenden Augen, ihr unter der Haube verstecktes schwarzes Haar, ihr sanftes Wesen und ihre zärtliche Bewunderung für ihn! Jahrelang war sie seine Spielkameradin, jetzt ist sie seine treue Begleiterin und bald soll sie seine Gattin werden. Freilich ist die Ehe unter so nahen Verwandten in der Bretagne fraglich. Man muß nämlich vom Bischof eine besondere Erlaubnis dazu erhalten. Übrigens haben die Leutchen noch nie ein Wort über ihre gegenseitige Liebe ausgetauscht. Wozu auch? Sie verstehen sich zweifellos auch so, denn die Liebe braucht der Worte nicht, sie hat Zeichen und Laute, die beredter sind. Sie haben bisher dem Gefühl der Freude, das sie in ihrer gegenseitigen Gesellschaft empfinden, noch keinen Namen verliehen. Sie erfreuen sich an einander, wie sie sich an der klaren, frischen Luft, an dem hellen Sonnenschein und dem blauen Himmelszelt erfreuen. Einer trinkt den Atem des andern, und sie sind glücklich.
Rohan erhebt sich vom Rasen, steht an der Seite des Mädchens und lauscht ihren sanften Vorwürfen. Was antwortet er ihr? Er nimmt ihr Gesichtchen in seine beiden Hände und küßt sie auf beide Wangen!
Sie lacht und errötet leicht; sie wäre tiefer errötet, wenn er sie auf die Lippen geküßt hätte.
Dann wendet er sich zu dem Granitblock, auf dem sein Hut und seine Holzschuhe liegen, und schlüpft in diese.
Die Abenddämmerung zieht über das Meer herauf. Die blutroten Riffe, der nasse Sand, die Wassertümpel zwischen den Klippen schimmern in immer matteren Farben; die Krähen eilen dem Festlande zu, die Seevögel suchen mit Gekreisch ihre versteckten Nester auf; die Nachteule flattert aus ihrem düsteren Winkel empor und das Fischerboot dort unten gleitet über das dunkle glasige Meer dahin.
Rohan läßt seine Blicke über die stille Abendlandschaft schweifen. Er erkennt auf dem Deck des Luggers deutlich die Mannschaft, die barhaupt, mit zum Himmel emporgehobenen Blicken und gefalteten Händen, ihr Gebet verrichtet. Dort drüben, auf dem Gipfel der Klippen steht die kleine Kapelle Unserer Lieben Frau von der Sicherheit, dorthin wendet sich stets der letzte Blick der Fischer, die in die See hinausziehen, um bei Tag und Nacht Hilfe von der Heiligen zu erflehen, und dort haftet er dankbar, wenn sie mit Fischen beladen glücklich heimkehren.
»Gehen wir, Marcelle!«
Rohan greift mit einer Hand nach seinem Voglerhaken, windet das Seil um die andere und wendet sich, von seiner Begleiterin gefolgt, dem Gipfel der Klippe zu. Ein stark abgetretener Fußpfad führt zur Pforte der kleinen Kapelle, und diesen schreiten sie entlang. Sie sind noch nicht weit gegangen, als von einer der nächsten Klippen eine große weiße Ziege herabklettert, bei ihrem Anblick Halt macht und sie neugierig anstarrt. Sie scheint offenbar mit der Inspektion zufrieden zu sein, denn sie nähert sich ihnen mit allen Zeichen des Erkennens.
»Sieh doch, das ist ja Jannedik!« ruft Marcelle.
Jannedik antwortet, indem sie näher tritt und ihren Kopf an dem Kittel des Mädchens reibt, sich dann zu Rohan wendet und ihr Kinn in dessen ausgestreckte Hand drückt.
»Was thust du hier, so weit vom Hause, Jannedik?« fragt er lächelnd. »Du bist eine Herumstreicherin und wirst dir noch eines Tages den Hals brechen! Es ist bald Schlafenszeit, Jannedik!«
Jannedik, das Eigentum seiner Mutter, ist eine Dame unter den Ziegen. Wie zu seinen, gehört es auch zu ihren liebsten Vergnügungen, zwischen den höchsten und steilsten Felsen herumzuklettern. Sie kennt die verstecktesten Winkel aller Höhlen und die saftigsten Weideplätze. Sie hat kluge große braune Augen und kommt wie ein Hund auf den Pfiff herbei. Sie läßt die Dorfkinder gutmütig auf ihrem Rücken reiten und ist im allgemeinen weit gelehriger und unterrichteter als die meisten ihres Stammes.
Während Rohan und Marcelle auf die Kapelle zuschreiten, folgt ihnen Jannedik, dann und wann stehen bleibend, um an besonders saftigem Grase zu knabbern. Als die beiden mit einer frommen Verbeugung eintreten, stutzt Jannedik einen Augenblick, macht dann meckernd kehrt und trottet langsam allein heimwärts, denn die Kapelle übt keine Anziehungskraft auf sie aus.
Das keine Kirchlein steht auf der höchsten Klippe, wehrlos allen Unbilden des Wetters ausgesetzt. Es wurde von Matrosenhand erbaut und wird von den Matrosen und Fischern benützt, die mit großer Mühe und Plage das Baumaterial hinaufgeschafft haben. Die Thüre steht Tag und Nacht offen. Gegenwärtig sind Rohan und Marcelle die einzigen Besucher. Als sie sich dem Altar nähern, fallen durch das gemalte Glasfenster die letzten Sonnenstrahlen auf das Altarbild – ein recht primitives Gemälde, schiffbrüchige Matrosen darstellend, die ihre Augen zu der in den Wolken schwebenden Mutter Gottes emporrichten. In der Nähe des Altars steht die in bunte Seide gekleidete Gipsfigur der Heiligen Jungfrau, mit Blumenguirlanden, bunten Perlen, grellen Heiligenbildern, Wachskerzen und hölzernen Rosenkränzen behängt.
Marcelle bekreuzigt sich und kniet vor dem Altar nieder.
Rohan bleibt mit dem Hut in der Hand stehen und starrt die Mutter Gottes oben in den Wolken an. In der Kapelle wird es immer dunkler, über die vom Zahn der Zeit beschädigten Wände senken sich düstere Schatten herab, der letzte Lichtschimmer gleitet über Marcelles gebeugtes Köpfchen und über die mächtige Gestalt Rohans.
Hier wohnt der Glaube und der Hauch des Friedens und der Liebe.
Friede und Liebe sei heute mit ihnen und mit der ganzen Welt! Wer weiß, was das Morgen bringen wird!