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Etwa eine Woche nach der Ziehung der Nummern in St. Gurlott saß an einem hellen sonnigen Morgen eine seltsame Gruppe auf einer etwa zwanzig Meilen entfernten Wiese. In der Mitte der kleinen Anhöhe saß ein ältlicher Mann mit einem Buche in der Hand, aus welchem er laut vorlas. Um ihn herum lagerten acht Personen; einige blickten ihm über die Schulter, andere kauerten, andächtig lauschend, zu seinen Fußen; ein kleines Bauernmädchen und ein noch kleinerer Junge standen mit offenem Munde vor ihm.
Der Vorleser war Meister Arfoll, die ihn Umringenden seine Schüler. Der älteste, ein gutmütig, aber dumm aussehender Bauer von fünfundzwanzig Jahren, lauschte mit weitaufgerissenen Augen und offenem Munde – die fleischgewordene Verkörperung der Dummheit und Neugier. Neben ihm kauerte ein Jüngling von achtzehn Jahren mit glattgeschorenem Haar, der wie ein Seminarist aussah, in Wirklichkeit aber der Sohn eines Landmannes war. Zwei gesundheitstrotzende Backfische von vierzehn Jahren in bunten Kitteln und ungeheuern Hauben hatten ihren Platz rechts und links von Meister Arfoll, zu seinen Füßen lagen zwei dicke Bauernbengel von zehn Jahren auf dem Bauche. Das kleine Geschwisterpaar stand, wie bereits erwähnt, vor ihm – die komischesten kleinen Gestalten, die man sich vorstellen kann. Sie trugen die kleidsame Nationaltracht, blickten aber so ernst darein wie Großvater und Großmutter es in der Kirche thaten. Klein-Katel hielt sogar andächtig die Hände über ihre Brust gefaltet, während der Junge sie in den Hosentaschen vergrub, dafür aber die Beinchen weit auseinanderspreizte.
Landeinwärts, da und dort zerstreut, von schlanken Tannen umgeben, standen die Bauerngehöfte, zu denen die Schüler gehörten. Die grüne Wiese, auf der »die Schule« abgehalten wurde, schloß sich an die mit Haidekraut und Ginster bewachsene große Ebene, die sich, von Weideplätzen unterbrochen, bis hinunter an das klippenumsäumte Meer ausdehnte. Von seinem erhöhten Platze aus konnte Arfoll die Küste überblicken. In weiter Ferne erhoben sich die bläulichen Vorgebirge, die milchweiße Brandung brach sich in der sandigen Bucht, das vom Winde leicht gekräuselte Meer erschien dunkelblau.
In nicht sehr großen Zwischenräumen erhob sich in der Ebene hier ein Menhir, dort ein Dolmen. Dolmen, eine durch einen großen Stein über zwei aufrechtstehenden gebildete Kammer, mit einer Öffnung an der Seite. Kaum zwanzig Meter von der »Schule« entfernt, warf ein moosbewachsener Dolmen seinen Schatten auf das Gras. Er war so hoch, daß ein erwachsener Mann zur Not darunter aufrecht stehen konnte.
Arfoll hielt plötzlich im Lesen inne und wandte sich lächelnd an das kleine Mädchen: »Wie wär's, Katel, wenn du jetzt ein Verschen lesen wolltest?«
Die Kleine trat dicht zu ihm heran, steckte ihr Näschen tief ins Buch hinein – es war das Neue Testament in modernfranzösischer Übertragung – und buchstabierte, mit den Augen dem Finger des Lehrers folgend. Nachdem sie, stotternd und hie und da in Dialekt verfallend, einen Vers gelesen hatte, streichelte ihr der Lehrer das Köpfchen und sagte: »Sehr brav, mein Kind!« Katel errötete vor Vergnügen.
Nun versuchte ihr Brüderchen mit weniger Geduld und Erfolg sein Glück. Sein Französisch war vollkommen unverständlich.
»Nimm dir Zeit, Robert!« mahnte der Lehrer sanft. Aber obgleich sich Robert viel Zeit ließ, wollte die Geschichte doch nicht besser gehen. Das Knirpschen war schon dem Weinen nahe, als Arfoll den erwachsenen Bauer aufforderte, zu lesen. Der Ärmste las noch schlechter als Klein-Robert. Seine Aussprache war einfach barbarisch und Worte, die mehr als zwei Silben enthielten, gingen über seine Kraft. Trotz alledem schien ihm das Lernen große Freude zu bereiten, denn er grinste gutmütig, wenn seine Mitschüler sich über seine Fehler lustig machten.
Das wäre eine Scene für einen Maler gewesen. Die Sonne beleuchtete hell die glückliche Gruppe, küßte das abgehärmte Antlitz des Lehrers, warf tanzende Lichter auf die bunten Trachten der Mädchen und huschte über die große Ginsterhaide. Dann und wann segelte eine weiße Seemöwe, die sich vom Meere hierher verirrt hatte, sanft über ihre Köpfe hinweg, und gerade über dem Dolmen erhob sich hoch und höher eine schmetternde Lerche.
Arfoll nahm jetzt das alte, zerschlissene Buch wieder an sich, blätterte ein Weilchen darin und übersetzte dann das 14. Kapitel des Evangeliums Lucae frei in das melodische Brezonec. Die Schüler lauschten gespannt der Parabel von dem Manne, der das große Abendmahl gegeben. Das klang ja fast wie eine der Geschichten, die an Winterabenden in der Spinnstube erzählt wurden. Als er sie beendet hatte, sagte er feierlich: »Kinder, laßt uns jetzt beten!«
Alle knieten um ihn herum und beteten ihm nach: »O Herr, ich flehe dich an, schütte deine Gnade in die Herzen dieser deiner Kinder, damit sie, wenn die Zeit kommt, dich erkennen und nicht den Antichrist, deine göttliche Hilfe fühlen, deine Wahrheit und Weisheit begreifen und nicht auf die Erde kommen und gehen wie die wilden Tiere des Feldes. Erleuchte sie, o Herr, denn sie bedürfen des Lichts. Amen! Lehre sie, denn sie wollen belehrt sein. Amen! Stärke sie, o Herr, damit sie nicht vor einem Götzenbilde oder einem schlechten Menschen anbetend niederknieen. Amen! Mögen ihre Seelen von dem großen Evangelium der Liebe und des Friedens erfüllt werden. Amen! Amen!«
Bei jeder Wiederholung des »Amen« bekreuzigte sich die kleine Katel fromm. Keinem der Schüler schien das Gebet von allen anderen Gebeten abzuweichen, obgleich der Lehrer es, seiner Gewohnheit gemäß, improvisiert und ihm eine tiefe Bedeutung unterlegt hatte.
Alle erhoben sich und umringten den Lehrer.
»Für heute genug! Morgen wollen wir zur selben Stunde uns wieder hier treffen, meine Kinder!«
»Mutter ist böse, daß du, seit du nach Traonili kamst, noch nicht ein einziges Mal bei uns warst. Sie läßt dir sagen, daß sie ein Paar Lederschuhe und andere Sachen für dich hat,« piepste Klein-Katel.
»Sag' deiner Mutter, daß ich heute Abend zu euch komme,« erklärte Arfoll lächelnd.
»Nein, das geht nicht!« rief einer der Backfische, vor dem Lehrer höflich knicksend. »Sie haben ja meiner Tante Nola versprochen, den Abend bei uns zu verbringen!«
»Ich werde sehen, was sich machen läßt, Kinderchen! Jetzt eilet nach Hause, denn es hat längst zu Mittag geläutet. Nur Geduld, mein lieber Penvenn – du wirst noch ein prächtiger Schüler werden!«
Die Aufmunterung galt dem ältesten der Klasse, der vor Vergnügen grinste und dann im Dialekt den Lehrer dringend bat, doch auch seinen Bruder, Mikel Penvenn, bald zu besuchen, auf dessen Gehöft er arbeite.
Im nächsten Augenblick war die Schule aufgelöst: Penvenn stiefelte quer über die Haide, die Backfische gingen nach rechts, die beiden Buben rannten, Purzelbäume schlagend, nach links, während Katel mit ihrem Brüderchen Hand in Hand artig der nächstliegenden Hütte zusteuerte.
Nun dürfte es an der Zeit sein, auch etwas Näheres über die Eigentümlichkeiten von Meister Arfolls Beruf zu sagen. Vor der großen Revolution hatte die Bretagne unzählige Wanderlehrer, die in Seminaren erzogen worden waren und dann von Dorf zu Dorf, von Gehöft zu Gehöft wanderten, die Kinder lateinische Gebete, das Angelus Domini und den Katechismus lehrend. Es waren gewöhnlich Leute, die sich gerne dem Priesterstand gewidmet hätten, aber aus irgend einem Grunde nicht in denselben aufgenommen wurden. Ihr Leben als Wanderlehrer war ein sehr schweres, sie mußten sich mit der einfachsten Nahrung bescheiden, ihr Beruf war mit Professionsbettelei verbunden. Sie unterrichteten zu allen Stunden und an den verschiedensten Orten: sehr oft unter freiem Himmel, auf offener Landstraße unter einem Wegkreuz, in einer Scheune, im Kuhstall. Ihre Bezahlung war eine elende – monatlich sechs Sous von jeder Familie oder den Wert dieser Summe in Naturalien. Besonders gutmütige Eltern beschenkten sie außerdem mit Speck, Honig, Leinwand und Kornfrüchten. Man nahm sie überall gerne auf und bezeugte ihnen gewisse Ehren, denn ein Hauch von Heiligkeit umschwebte sie, da sie doch am Busen der Kirche aufgezogen worden. Wenn sie einmal so alt waren, daß sie keine langen Fußwanderungen mehr unternehmen konnten, trachteten sie, sich einen billigen Maulesel oder Esel anzuschaffen; war ihnen das nicht möglich, dann wurden sie eben Berufsbettler, die von Thür zu Thür um milde Gaben baten.
Der Feueratem der Revolution zerstreute diese Wanderlehrer wie Funken nach allen Windrichtungen. Die meisten von ihnen verschwanden für immer von der Bildfläche. Während der späteren Jahre des Kaiserreiches, als Napoleon es für angezeigt hielt, sich als Vater der Religion und der Begründer eines neuen und heiligen Regimes aufzuspielen, tauchten viele von ihnen wieder auf, um ihren alten Beruf auszuüben.
Bei Ausbruch der Revolution dürfte Meister Arfoll ungefähr 30 Jahre gezählt haben; aber niemand in der ganzen Bretagne vermochte sich daran zu erinnern, ihn jemals vor Beginn des neuen Jahrhunderts gesehen zu haben. Als er zum erstenmal in der Gegend auftauchte, sah er schon aus wie ein ältlicher Mann, dessen Gesichtszüge die Spuren großen Kummers trugen. Er sprach oft so seltsame und ungewöhnliche Dinge, daß man an seinem gesunden Verstand zu zweifeln begann. Niemand wußte, ob er je an einem Seminar studiert habe und in der Bretagne geboren war. Man erzählte sich, daß er ein Bewohner einer der großen Städte gewesen sei und dort während der Schreckenszeit Furchtbares erlebt haben müsse, das sein Haar frühzeitig gebleicht habe.
Wie dem auch sein mochte, die Leute kannten und liebten ihn. Ein guter Mensch, mag er was für persönliche Meinung immer haben, entwaffnet seine Gegner, und daß Meister Arfoll wirklich ein guter Mensch war, daran zweifelte niemand. Man hieß ihn in der kleinsten Hütte willkommen. Und genoß er einmal keine Gastfreundschaft, so entnahm er seinem Ränzel ein Stück Schwarzbrot – Kresse dazu fand er an jedem Bächlein.
Die Schüler waren bald außer Sehweite und Meister Arfoll wandte sich dem Meeresstrande zu. Heute hatte er wieder »seinen Samen gesäet,« das machte ihn glücklich. Mit einem Lächeln der Befriedigung auf den Lippen, beide Hände auf dem Rücken gekreuzt, passierte er den moosbewachsenen Dolmen. Plötzlich ertönte ein eigentümlicher Laut hinter seinem Rücken und eine kräftige Hand berührte seine Schulter. Er drehte sich rasch um und traute seinen Augen nicht. Wie aus dem Erdinnern emporgeschossen, stand Rohan Gwenfern vor ihm.
Auf den ersten Blick erkannte er seinen Schüler nicht, denn er hatte sich in der kurzen Zeit gar sehr verändert. Das Haar hing ihm in wilden Strähnen bis über die Schultern, der Bart war nicht rasiert, die Augen blutunterlaufen und unstet, das sonst so schöne, gutmütige Gesicht abgehärmt und bleich. Es bedarf nur weniger Stunden, um einen Menschen, auf den man Jagd macht, in ein wildes Tier zu verwandeln. Das traf auch bei Rohan zu. Er hatte bereits den lauernden, verängstigten Blick eines gehetzten Wildes. Seine Kleider waren zerfetzt und mit Lehm bedeckt, der eine Ärmel seiner Jacke war bis zum Ellbogen aufgeschlitzt, seine Füße waren nackt.
»Rohan?!« rief Meister Arfoll halb fragend, halb entsetzt, denn er glaubte den Burschen viele Meilen weit entfernt und vermochte sich sein vernachlässigtes Äußere nicht zu erklären.
»Ja, ich bin es!« bestätigte dieser mit erzwungenem Lachen und sich das Haar aus dem Gesichte schüttelnd. »Ich hielt mich dort unter dem Dolmen versteckt, bis Sie Ihre Schüler entließen. Beim heiligen Gildas, das ist ein düsteres Grab für einen lebenden Menschen! Ich dachte schon, die Stunde würde kein Ende nehmen.« Wieder brach er in das unheimliche Lachen aus und seine Augen irrten unstet umher.
Der Wanderlehrer legte seine Hand sanft auf den Arm des Gehetzten und blickte ihm ängstlich forschend ins Gesicht: »Was ist geschehen, mein Sohn? Was bedeutet deine Scheu?«
»Es ist gekommen, wie ich's vorausgesehen – das ist alles!« entgegnete Rohan, die Zähne fest aufeinander pressend.
»Was ist gekommen?«
»Die Konskription.«
»Das weiß ich. Was weiter?«
»Man hat mich gezogen. Vor zehn Tagen war die Ziehung und vorgestern die ärztliche Untersuchung. Vor einer Woche stattete mir der alte Pipriac mit einer Schar Soldaten den ersten Besuch ab, unglücklicherweise war ich nicht zu Hause und konnte sie nicht empfangen.«
Der Lehrer sah nun alles klar und ein unendliches Mitleid erfüllte sein Herz.
»Mein armer, armer Rohan! Ich habe täglich für dich gebetet und doch ist das Unheil über dich gekommen! Du lehnst dich dagegen auf – Gott helfe dir aus deiner Not!«
Rohan wandte sein Gesicht ab, um die Thränen zu verbergen, die ihm die Augen verschleierten. Die milden Worte seines Gönners erschütterten ihn. Plötzlich faßte er nach den beiden Händen des Lehrers und preßte sie leidenschaftlich in den seinigen: »Ich wußte, daß es so kommen werde. Ich selbst war nicht bei der Verlosung, aber meine Nummer wurde gezogen. Als die Konskribierten zurückkamen, bot ich ihnen und dem Kaiser Trotz. Jemand hat mich als Widerspenstigen angezeigt. Ich erhielt eine Botschaft, mich in Traonili zu stellen, was ich aber nicht that. Eine zweite kam – ich blieb abermals zu Hause. Die Geschichte wurde bekannt und ich sollte verhaftet werden. Meine Verwandten und Freunde waren am schlimmsten hinter mir her, denn es verdroß sie, daß sie ohne mich einrücken sollten. Vor vier Tagen haben sie mich vom Hause weggehetzt. Ich lachte sie aus, denn ich kenne die geheimen Wege und Stege tausendmal besser als sie. Die Verzweiflung packte mich und ich dachte an Sie, meinen Gönner und Lehrer. Zwei Nächte bin ich Ihren Spuren gefolgt. Gestern hätte man mich beinahe in einem kleinen Dörfchen dort drüben gefangen genommen. Ich mußte meine Sabots abstreifen und mein Heil in der Flucht suchen. Ein Soldat erwischte mich am Arm und zerriß mir die Jacke, wie Sie sehen. Es war ein hartes Stück Arbeit. So mögen sie im Walde von Bernard auf Wölfe jagen,« schloß er bitter.
Bei jedem Satze wurde sein Freund bleicher und ernster; er schüttelte traurig das Haupt, schwieg aber. Rohan fuhr fort: »Des Nachts, wenn man mich nicht erkennen konnte, forschte ich nach Ihnen, Meister Arfoll! Endlich fand ich Sie in Traonili. Heute Morgen folgte ich Ihnen aus der Ferne, denn Sie waren nicht allein; deshalb versteckte ich mich hier unter dem Dolmen und wartete. Ich war in Angst, daß Sie einen der Schüler nach Hause begleiten könnten und dankte Gott, als ich Sie allein kommen sah.«
Vorsichtig spähten sie die Haide entlang, aber niemand war um die Mittagszeit zu sehen; so schritten sie denn Seite an Seite seewärts. Der Rasen unter ihren Füßen war weich und grün, der Ginster ringsum reichte ihnen bis zur Brust, fast aus jedem Halm zwitscherten Finken und über ihren Köpfen schmetterten Lerchen ihre Lieder. Primeln und wilde Veilchen wuchsen allerorten; drüben glitzerte das Meer und die bläulichen Vorgebirge erstreckten sich in weiter Ferne.
»Raten Sie mir, was ich thun soll?«
Meister Arfoll zuckte zusammen, denn die hart hervorgestoßene Frage weckte ihn aus ernstem Sinnen.
»Mein Sohn, das ist furchtbar! Ich bin von dem Gehörten betäubt. Ich kann dir nicht raten, denn ich sehe keinen Ausweg.«
»Keinen Ausweg?«
»Nur einen.«
»Und der wäre?«
»Dich selbst den Behörden auszuliefern und um Verzeihung zu bitten. Männer, namentlich so kräftige wie du, sind jetzt kostbar, man würde sich über dich freuen. Sonst kann ich keinen Ausweg sehen – wenn sie dich später fänden, wär's dein Tod!«
»Das weiß ich,« gab Rohan ungeduldig zurück. »Im schlimmsten Fall werde ich sterben, aber lebend sollen sie mich gegen meinen Willen nicht haben! Raten Sie mir wirklich, mich selbst zu stellen?«
»Ich sehe keinen anderen Ausweg.«
»Und des Kaisers Soldat zu werden?«
»Wenn du es gegen deinen Willen wirst, wird dir Gott verzeihen. Rohan, du lehnst dich gegen eine ganze Welt auf! Auch im Kriege kannst du Gott dienen. Man wird dir Waffen geben, aber es wird nur deine Schuld sein, wenn du sie gegen deine Mitmenschen kehrst. So kannst du gesund und heil mit reinem Gewissen heimkommen, wenn alles vorüber ist.«
»Sonst haben Sie mir nichts zu sagen?« fragte Rohan mit niedergeschlagenen Augen.
»Ich weiß keinen anderen Ausweg für dich.«
»Könnte ich nicht aus Frankreich fliehen?«
»Dort drüben liegt Vannes, dort Nantes, auf dieser Seite Brest und zwischen diesen Städten tausende von Dörfern und Weilern; auf jeder Landstraße, in jedem Wirtshause lauert man auf Deserteure – – –«
»Wenn es mir gelänge, Morlaix zu erreichen – dort liegen viele fremde Schiffe vor Anker.«
»Das ist unmöglich! Alle Straßen und Wege sind streng bewacht; selbst die geschickteste Verkleidung würde dich nicht retten, denn solche Leute wie du giebt es in der ganzen Bretagne nicht viele. Man würde dich bald aufgreifen und dann kein Mitleid mit dir haben.«
Rohan schien nicht im geringsten erstaunt. Er hatte all diese Fragen mit der Miene eines Menschen gestellt, der bereits jede Hoffnung auf Rettung verloren hat. Er sagte daher ganz ruhig: »Ich soll mich selbst den Behörden stellen, ein Soldat des Kaisers werden? Diesen Rat erwartete ich nicht von Ihnen … O, mein Vater – erlauben Sie mir, Sie so zu nennen – Sie lassen mir nicht Gerechtigkeit widerfahren. Sie denken, ich sei schwach und wankelmütig; aber ich bin es nicht, glauben Sie mir, ich bin ein Mann! Und wenn ein Mann einen Eid ablegt und Gott zum Zeugen anruft, so ist es seine Pflicht, ihn zu halten oder zu sterben. Erinnern Sie sich, mein Vater, an jenen Abend in Kromlaix, an welchem wir die Weiber beim Brunnen beobachteten und ich Sie fragte, ob es vor Gott gerechtfertigt sei, wenn man sich weigerte, Soldat zu sein?«
Der Schullehrer nickte. Seine Augen suchten diejenigen Rohans, und was er darin las, war die offene Auflehnung einer gepeinigten Seele gegen die Unmenschlichkeiten der Menschen. Er machte sich im stillen Vorwürfe, denn er hatte seinen Rat einem gewöhnlichen Geschöpf zu geben geglaubt – in der Hoffnung es zu belehren und das Richtige thun zu heißen, und nun fand er zu seinem grenzenlosen Erstaunen, daß Rohan Gwenfern, sein gelehriger Schüler, ihm über den Kopf gewachsen und ein ganz außergewöhnlicher Mensch war, wie ihn die Natur in solcher Vollendung nur selten schafft.
»Nicht wahr, Sie erinnern sich?« fuhr Rohan erregt fort. »Nun denn und Sie raten mir, meinen Eid zu brechen? Ich schwor damals, niemals Soldat zu werden und lieber zu sterben als Blut zu vergießen. Die Zeit ist gekommen, da ich mein Wort einlösen kann. Sie sagen, es gebe keinen Ausweg, ich aber sage: ich kann sterben!«
Die wilde Verzweiflung war von ihm gewichen. Er sprach leise, feierlich und sanft; seine Worte waren nicht mißzuverstehen, sie drückten einen unbeugsamen, durch nichts zu brechenden Willen aus. Meister Arfolls Saat hatte Früchte getragen; der Schüler belehrte und ermahnte den Meister. Thränen rieselten an dessen Wangen herab; Rohan sah sie und zitterte, obgleich seine Augen jetzt trocken waren. Sie schlenderten langsam weiter, bis sie an den Klippenrand kamen und zu ihren Füßen das rollende Meer erblickten, dessen Brandung sich an dem sandigen Ufer brach. Rohan setzte sich auf einen Steinblock, stützte sein Gesicht mit dem rechten Arm und starrte über die glasige Wasserfläche. Plötzlich bemerkte er ruhig, wie wenn ein Fischer dem anderen seine Beobachtungen mitteilt: »Heute Nacht wird es Wind und Regen geben. Sehen Sie doch, wie die zusammengeballten Wolken aus Südwest hervorkriechen.«
Der Lehrer antwortete nicht, Rohan hatte ihn noch nie so schweigsam gesehen. Nach einer Weile fragte Rohan, ohne seine Stellung zu verändern: »Zürnen Sie mir, Meister Arfoll?«
»Wie könnte ich dir zürnen, mein geliebter Sohn?« fuhr Arfoll mit immer heftiger rieselnden Thränen auf. »Ich zürne nur mir, daß ich so hilflos und schwach bin! Die Dinge kommen zu sehen und unfähig zu sein, auch nur einen Finger zu rühren! Ich verdiente deinen Vorwurf, denn du hast recht und ich unrecht. Es ist unrecht, sich in ein Übel zu fügen, selbst wenn man sein Leben damit retten kann – unrecht, das Schwert für den Kaiser zu schwingen, selbst wenn Frankreich bedroht ist. Ich weine für dich, als ob du mein eigen Fleisch und Blut wärest. Es thut mir weh, dich verfolgt und von aller Welt verlassen zu sehen, aber im innersten Herzen flüstert eine Stimme: Gott segne ihn, er hat recht! Er ist ein tapferer Mann, ein Held! Wäre ich sein Vater, ich würde auf einen solchen Sohn stolz sein!«
Schon nach den ersten Worten des Lehrers war Rohan aufgesprungen, streckte ihm beide Hände entgegen und rief mit freudig leuchtenden Blicken: »Mein Vater, endlich hast du das rechte Wort gefunden, um dessentwillen ich dich aufgesucht habe! Ja, die ganze Welt ist gegen mich, nur du und meine arme Mutter nicht! Sogar das Mädchen, das meinem Herzen am nächsten steht! Aber nicht wahr, ein guter Vater sieht seinen Sohn lieber tot als entehrt? Du bist mein guter Vater und weißt, daß in den Krieg ziehen schändlich ist, obgleich sie sagen, es sei ruhmvoll. Du hast mich mit deinen lieben Worten stark und glücklich gemacht! Gieb mir nur noch deinen Segen und dann laß mich ziehen!«
» Meinen Segen?!« kam es bebend von den Lippen des Wanderlehrers. »Rohan, du würdest ihn für wertlos halten, wenn du alles wüßtest!«
Aber Rohan sank vor ihm aufs Knie und blickte flehend zu ihm empor: »Segne mich nur, mein Vater! Du bist der einzige wirklich gute Mensch, den ich kenne. Die Leute behaupten, du seist einmal Priester gewesen. Deine Lehren, deine unendliche Güte und Liebe haben mich zu dem gemacht, was ich bin; dein Segen wird mich besser, stärker machen! Du versicherst mir, daß ich recht handle und vor Gott gerechtfertigt sein werde. Segne mich, alles andere mag Gott entscheiden!«
Er neigte sein Haupt. Meister Arfoll legte die Rechte auf sein dichtes, blondes Haar, richtete das thränenüberströmte bleiche Dulderantlitz gen Himmel und segnete den Empörer.