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Nachdem Pieter »Finis« unter sein Tagebuch geschrieben hatte, ergriff er das Zeugbündel, das auf seinem Bett lag, umfaßte sein liebes, altes Zimmer noch einmal mit einem langen Abschiedsblick, löschte die Lampe und schlich auf Strümpfen zur Haustür hinunter, öffnete sie mit dem Reserveschlüssel, den er aus der Schreibtischschublade seines Vaters an sich genommen hatte, zog die Tür leise ins Schloß und eilte im Schatten der Häuserreihe, damit das Mondlicht ihn nicht verraten sollte, zum Hafen.
Er gelangte ohne Zwischenfall zum Kai, wo der Matrose mit der Schiffsjolle auf ihn warten sollte. Pieter blickte sich mit klopfendem Herzen um, bevor er sich aus dem Schatten des Lagerhauses über das breite, mondbeschienene Stück zum Bollwerk hinauswagte.
Es wehte ein frischer Wind aus Nordosten, der die Wolken über den Himmel trieb; glücklicherweise glitt gerade eine Wolke über den Mond, die groß genug war, um ihn zu verdecken, und dennoch genug Licht durchließ, damit Pieter alle Schiffe, die am Kai lagen, deutlich erkennen konnte.
Aber er sah weder die Jolle noch den Matrosen und stand ratlos mit seinem Bündel unterm Arm. Kerck hatte ihm auf die Seele gebunden, daß er pünktlich sein sollte, und er war pünktlich. Hatte der Matrose sich verspätet? Saß er in irgendeiner Kneipe und vergaß den jungen Mann, der alle Schiffe hinter sich verbrannt hatte und nun hier auf dem öden Kai stand, während eine unbarmherzige Wasserstraße ihn von seiner abenteuerlichen Zukunft trennte?
Pieter blickte verstohlen zur Schifferkneipe an der Ecke. Hinter dem kleinen Fenster schimmerte mattes, rotes Licht; es war nach Mitternacht und die Tür verschlossen.
Er drückte das Bündel an sich, als sei es ein Lebewesen, für das er die Verantwortung trug.
Da hörte er ein Geräusch hinter einem Stapel Waren, die am nächsten Morgen an Bord eines halbgefüllten Prahms, der links an der Schiffstreppe lag, geschafft werden sollten. Er hörte plumpe, unsichere Schritte und eine trunkene Stimme, die ein Lied anstimmte.
Pieter beugte sich noch einmal vorsichtig über den Rand des Bollwerks, um zu sehen, ob dort unten nicht doch eine Jolle liegen sollte. Im selben Augenblick tauchte hinter dem Warenhaufen eine Gestalt auf.
»Guten Abend, Pieter.«
Himmel, es war Onkel Clements Stimme, ein wenig belegt und nicht ganz sicher.
»Wo willst du denn hin um diese Zeit?«
Pieter schnappte nach Luft, er konnte kein Wort hervorbringen.
»Ich komme gerade aus dem Klub«, fuhr Onkel Clement angeheitert fort, »wir haben feste getrunken, ich wollte mich ein wenig lüften. Und nun kann ich, weiß der Henker, das verfluchte Tor nicht finden. In unserer guten, alten Stadt gibt's ja nichts anderes als Kais und Kanäle, die alle gleich aussehen. Vorhin meinte ich die Torlaterne schon zu sehen, als ich aber darauf zugehen will, ist sie verschwunden, und ehe ich's mich versehe, stehe ich wieder hier auf dem Kai. Siehst du den Mond, Pieter? Der ist ebenso betrunken wie ich, haha-haha!«
Damit schlang er seinen Arm um Pieters Schulter und zog ihn mit zur Ecke, während er ihn fast durch sein Gewicht zu Boden drückte.
»Ich werde Ihnen den Weg zeigen«, sagte Pieter eifrig, während er innerlich verzweifelt war.
»Als ich vorhin hier am Bollwerk saß, um mich ein wenig zu verpusten, wurde ich von einem Jungmann gepreit, der in einer elenden Jolle an den Riemen saß. ›Ich soll sagen‹, rief er mir zu, ›daß der »Peter Michailow« im Begriff ist, den Anker zu lichten‹.«
Pieter erstarrte von Kopf bis Fuß. Das Spiel war verloren. Er suchte sich von dem schweren Arm zu befreien, aber es war ihm nicht möglich.
»Und dann fragte er mich, ob ich nicht einen jungen Mann gesehen hätte, der um Mitternacht an der Schiffstreppe stehen sollte. ›Einen jungen Mann habe ich nicht gesehen‹, antwortete ich, ›aber den Teufel!‹ Er wartete noch ein Weilchen, auf die Riemen gestützt, als die Turmuhr aber Viertel schlug, spuckte er ins Wasser und sagte: ›Ich kann nicht länger warten, grüßen Sie ihn und bestellen Sie ihm von mir, daß der »Peter Michailow« in See gestochen ist.‹ Und damit ruderte er fort. Nach einer Weile kommt ein junger Mann mit einem Bündel unterm Arm, steht eine Weile und guckt in den Mond –«
Pieter hielt den Atem an. Das verfluchte Bündel, er wäre am liebsten in den Boden gesunken –
»Und was sehe ich, es ist Pieter Adrian van Zanten, das einzige Kind meines teuren Vetters.«
Pieter war drauf und dran, unter dem Druck des schweren Armes zusammenzubrechen.
»Und darf ich dich jetzt vielleicht um eine Erklärung bitten«, sagte Onkel Clement mit seiner natürlichen Stimme nüchtern, stark und mit unterdrückter Munterkeit.
Ach, hätte er sich die Sache nur beschlafen!
War diese schicksalsschwere Begegnung ein Zeichen von seiner Mutter? Konnte sie dort oben in ihrem Himmel sehen, daß er drauf und dran gewesen war, ein Unrecht an seinem Vater zu begehen und das Andenken an sie, das Teuerste, was er besaß, zu trüben?
Er fühlte, wie ihm das Blut in den Adern brannte. Schließlich konnte er nicht länger an sich halten. Leidenschaftlich vertraute er Mijnheer an, wie er unter Einsamkeit und Langeweile gelitten habe, und flehte ihn an, ihn nicht an seinen Vater zu verraten. Bevor er es selbst wußte, waren ihm die Worte entschlüpft.
»Lieber, lieber Mijnheer, sagen Sie meinem Vater nicht, daß ich durchbrennen und zur See gehen wollte.«
»Wie Cook, nicht wahr? – James Cook?« brummte der allwissende Onkel Clement.
»Ja – nein – ich will es nie wieder tun. Mein lieber alter Vater hätte vielleicht vor Gram einen Schlag bekommen. Lieber, lieber Mijnheer, nehmen Sie mich mit sich.«
Jetzt war es Pieter, der sich an den Arm klammerte und ihn nicht loslassen wollte.
»Lieber Onkel Mijnheer, nehmen Sie mich auf Ihrem stolzen Schiff mit nach Batavia! Ich will als Jungmann oder Schiffsjunge oder Koch arbeiten; alles, was man von mir verlangt, will ich willig und gehorsam tun und werde es Ihnen nie vergessen.«
So war es zugegangen, daß Pieter Adrians Wunsch insofern erfüllt wurde, als er zur See kam und das große Meer befuhr; doch gelangte er zu keiner grünen Insel, die auf ihren Entdecker wartete, sondern kam nach Batavia in die Kaufmannslehre bei Mijnheer Clement van Zanten.
Unterwegs, in einer stillen, sternklaren Nacht, jenseits des Äquators, als Onkel und Neffe bei einem steifen Grog beisammensaßen, um ihr Heimweh zu betäuben und von Zukunftsplänen zu sprechen, kam es an den Tag, warum der starke Mann in jener mondhellen Nacht auf der Hafenmole, am Ende der Gelderschen Kade, so völlig vom Rausch überwältigt worden war.
Mijnheer war überhaupt nicht im Klub gewesen, sondern hatte in seiner gemütlichen Kajüte auf der »Lydia« gesessen, als ein einfacher Zweiter Steuermann namens Kerck, von Gewissensbissen und Nahrungssorgen gedrückt, spät abends noch um eine Unterredung mit dem mächtigen Reeder gebeten und dem Kapitän versichert hatte, daß sein Anliegen für Mijnheer von allergrößter Bedeutung sei. Vor den Reeder geführt, gestand er, daß er seine Hand zu dem Fluchtplan eines gewissen jungen Mannes geboten, er habe ja nicht geahnt, daß selbiger Jüngling zu Mijnheers erhabenem Familienkreis gehöre. Er sei der Auffassung gewesen, der junge Mann wäre einer von den vielen, denen unnützige Weisheit zu Kopf gestiegen sei und dem es nichts schaden würde, im Kampf mit den Elementen seine langen Glieder zu rühren.
Mijnheer hatte ihn ruhig angehört, als der Sünder aber, in dem Glauben, daß Mijnheer ihm beistimmte, sich erbot, die fünfzig Gulden, die Pieter ihm zur Beruhigung seines Gewissens gegeben hatte, zurückzuzahlen, verlor er plötzlich das Gleichgewicht, denn Mijnheer hatte ihn in höchsteigener Person kopfüber die Treppe hinuntergeworfen, so daß die Goldmünzen klirrend herumrollten; der Kapitän, der unten an der Treppe gestanden und kaum Zeit gefunden hatte, sie zu bergen, packte den Sünder beim Kragen und beförderte ihn über die Reeling, so daß er auf der anderen Seite des Bollwerks landete.
Bei selbiger Gelegenheit erfuhr Pieter Adrian auch noch, warum Mijnheer an jenem Abend im Klub am Spieltisch vermißt worden war, und warum, als ein Eilboote an Bord der »Lydia« geschickt wurde, der Bescheid zurückkam, Mijnheer sei zu Bett gegangen, weil er einen furchtbaren Anfall seines alten Leberleidens bekommen habe. In derselben Stunde aber hatte Mijnheer auf seinem Beobachterposten hinter dem Warenhaufen gesessen und seinen entgleisten Verwandten wieder auf den Pfad der Tugend zurückgeführt, indem er ihn vor irgendeinem schweren Schicksal gerettet – oder vielleicht auch daran gehindert hatte, einen ungewöhnlich großen Glückstreffer zu machen. Darauf hatte er Pieter mit an Bord der »Lydia« genommen, wo er seinen Abenteurerrausch in der Reederkajüte ausgeschlafen hatte und morgens nach Hause zurückgekehrt war.
Pieter Adrian passierte den Äquator an Bord von Mijnheer van Zantens Dreimaster »Lydia« als freiwilliger Extra-Jungmann, sah die Sonne um zwölf Uhr mittags im Norden stehen, rundete anderthalb Monate später das Kap der Guten Hoffnung, lag sechs Wochen mit totaler Windstille vor Madagaskar, löschte Waren in Ceylon und Kalkutta, nahm andere Waren und die wichtigen Fässer mit Trinkwasser an Bord, lief Rangoon und Pulo-Penang an und landete schließlich am 15. Februar 1862, noch während der Regenzeit, auf der Reede von Batavia. Das Schiff führte kostbare Ladung, der Reeder selbst war an Bord, und alles war blitzblank und in schönster Ordnung.