Laurids Bruun
Die freudlose Witwe
Laurids Bruun

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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Der Tatloi war gekommen.

Von der Aussichtspalme des Königs erklang zur Mittagszeit plötzlich ein gellender Schrei.

Die Wache dort oben sah, wie der blitzende Silberstreifen die Öffnung im Riff füllte und sich, einem Strom geschmolzenen Metalles gleich, in einem breiten Gürtel in die Lagune wälzte.

Alles, was gehen konnte, ließ Essen und Werkzeug liegen und stürmte zur Lagune hinunter, wo die Kanu lange mit Stangen und Körben bereitgelegen hatten.

Eine Wolke von weißem Staub hing hinter den Laufenden in der Luft. Selbst Wahuja kam auf seinen Socken und stolperte vorsichtig auf seinen schlimmen Füßen vorwärts, um die Beweglichkeit des Schwarms zu beobachten und gute Ratschläge aus seiner Erfahrung zu erteilen.

Toko sauste mit schwingenden Armen auf dem Weg zu seinem Kanu an mir vorbei und bat mich mit einem Blick aus seinen treuen Augen wegen dieser respektwidrigen Eile um Entschuldigung; aber ich könne ja selbst sehen, daß es der Tatloi sei; es sei keine Zeit zu verlieren, wenn man ihm rechtzeitig den Rückweg durch das Riff versperren wollte.

Ich stand vor meinem Kistenhaus und genoß den Anblick, wie die Sonne auf all den hellbraunen, blanken Körpern, die dahinsausten, glänzte; einige patschten ins Wasser mit hocherhobenen Körben und Stangen, plumpsten hinein und retteten sich auf einen Stein, wieder hinein, bis das Wasser ihnen über die Brust ging; andere saßen mit hochgezogenen Knien in Kanus, während die Riemen bei den hastigen Ruderschlägen in der Sonne blitzten.

In wenigen Minuten hatten die kleinen schwarzen Boote sich zu einer Flotte gesammelt, die mit erstaunlicher Schnelligkeit quer über die Lagune zum Riff hinüberschoß, um die Öffnung zu blockieren, während die Männer schrien und kreischten und in die Hände klatschten, um den Fischschwarm zur Seite zu scheuchen.

Es waren spannende Augenblicke, dieser Wettlauf zwischen den Rudernden und den erschreckten schwimmenden Fischen, die sich in einem dichten Schwarm beisammenhielten und dadurch die Schnelligkeit ihrer Bewegung hinderten.

Ich kannte die schreienden Männer, die die Boote füllten, fast alle, junge wie alte; auch Talao sah ich im Kanu mit all seinen Söhnen.

Wer kein Boot besaß, watete und schwamm hinaus und kroch an Bord, wo ein lediger Platz war.

Heute war jeder Standesunterschied aufgehoben. Man ließ sich keine Zeit, um Erlaubnis zu fragen. Arm und reich saßen Seite an Seite, Knie gegen Rücken gestemmt, und gaben mit großen Augen auf den leuchtenden Schwarm acht.

Da erklang ein Schrei, ein Jubelschrei aus dem ersten Kanu, das die Öffnung erreichte. Es drehte so schnell herum, daß es beinahe gekentert wäre, als es längsseitig gegen die Brandung zu liegen kam; aber niemand achtete darauf, denn es verkündete ja, daß das Ziel erreicht sei.

Der Schwarm lag wie ein ungeheurer, gebuchteter Silberwurm in der Lagune und konnte nicht hinauskommen; denn Kanu nach Kanu kam heran und legte sich in einer dichten Reihe vor die Öffnung, den Stewen der Lagune zugekehrt.

Ein einstimmiges Geheul begrüßte die geglückte Tat. Ich sah, wie Wahuja vor Erregung auf dem äußersten Korallenstein hüpfte, mit beiden Armen schwenkend, um den Führern begreiflich zu machen, daß sie ruhig und systematisch zu Werke gehen sollten, damit es keine Löcher in der Reihe gäbe, durch die der Schwarm, wenn er gezwungen wurde, sich zu teilen, hinausschlüpfen konnte.

Er stand dort im Namen des Königs und bewachte das Resultat, denn ein Zehntel des ganzen Fanges gehörte der Majestät; Wahuja aber war der Steuererheber; und jeder wußte, daß er mit Recht oder Unrecht zur Hälfte mit seinem König teilte.

Der Feldzug begann. Die Kanureihe teilte sich. Die Hälfte legte sich mit der Breitseite gegen die Brandung, um das Loch zu decken, während die andere Hälfte in geschlossener Reihe gegen den Schwärm vordrang.

Die Fische zogen sich nach Süden, an der Innenseite des Riffs entlang, in dem sie instinktiv eine andere Öffnung suchten; und die Kanu folgten mit Geschrei und Gejohle, so schnell die Ruder es vermochten.

Die Frauen und Alten, die am Strand standen mit allen Reservekörben, die es in der Stadt gab, folgten dem Schwärm eilig nach Süden, an Alis Grab und meiner alten Badebrücke vorbei.

Sie liefen, so schnell ihre Beine sie tragen wollten, um zur Hand zu sein, wenn der Schwärm plötzlich drehen und auf den Strand zuschwimmen würde. Dann mußten sie ins Wasser hinaus und ihn zu den Booten zurücktreiben.

Der Strand, wo ich stand, war plötzlich menschenleer. Der Menschenstrom zog sich weiter und weiter nach Süden und machte erst halt, wo die Lagune eng wurde.

Endlich ging es los.

Ich sah im Fernglas, wie die Männer in den vordersten Kanus mit den spitzen Stangen fuchtelten. Ich sah sie ins Wasser springen und mit Körben und den bloßen Fäusten zugreifen.

Es blitzte in der Luft von den weißen Silberschuppen.

Ich selbst war von der Raserei der Jagd ergriffen worden und freute mich über jedes behende Manöver dort draußen, über die vollen Züge, wenn die Körbe hinaufgereicht und in die Kanu entleert wurden.

Die Reihe drehte um.

Die Kanu waren voll, und den Booten vor der Öffnung im Riff wurde ein Zeichen gemacht, daß so viele, wie entbehrt werden konnten, herbeirudern sollten, um die kostbare Fischlast an Land zu bringen und dann wieder hinauszurudern.

Der Fischschwarm war in einem Halbkreis von Booten umgeben, und vom Lande gingen Frauen und Kinder ihm bis an die äußersten Steine entgegen, um ihn gegen die Boote zu treiben.

Langsam kam die Kanuflotte näher, um den Schwarm zu hindern, wieder zu drehen und nach Norden zu entschlüpfen.

Ich hatte meine Aufmerksamkeit auf die Lagune geheftet, gespannt, ob der Schwarm sich teilen würde.

Während ich mein Glas auf das Wasser längs des Strandes richtete, fiel mein Auge auf etwas – dort hinten –

Etwas Lebendiges und Braunes, das auf den weißen Steinen kroch und mein Herz zum Stillstehen brachte –

Es waren Matofas Zwillinge, und im selben Augenblick wußte ich, was vorgegangen war.

Allein im Garten zurückgeblieben, hatten sie das Geschrei gehört. Sie hatten mitgeschrien und waren der Richtung des Lautes nachgekrochen, durch den Zaun – denselben Weg, den ihre Eltern gegangen waren, als sie plötzlich Essen und alles fortwarfen und davonstürzten, ohne an Schnur und Vertäuung zu denken.

Ja, es waren die Zwillinge, die dort draußen auf allen vieren auf den weißen Steinen krochen und im Wasser patschten.

Würde es möglich sein, sie zu erreichen, bevor es zu spät war?

Denn wenn die Kanuflotte näher kam, würden die Wellen über die Steine spülen. Die Kinder würden gleiten, hinausgehoben werden und ertrinken.

In einer Sekunde überlegte ich, ob ich die äußersten Boote, die langsam auf die Stelle zukamen und schon näher waren als ich, anrufen oder ob ich selbst hinlaufen sollte.

Ich sah mich nach Hilfe um; ich war ganz allein am Strande.

Nein – dort – dort kam jemand in vollem Lauf über den Strand, mit flatterndem Tapa und fliegenden Haaren, es war ein Weib. Sie hatte gesehen, was ich gesehen hatte, und eilte zur Hilfe herbei.

Es ist Muanda, dachte ich und wunderte mich; denn ich meinte mit Bestimmtheit, gesehen zu haben, wie sie hinter Matofa her über dieselben Steine sprang, wo jetzt ihre Kinder dem Tode entgegengingen.

Ich rannte über den Strand; und als ich näherkam, sah ich, daß es Lea war.

Ich blieb stehen und schrie aus vollem Halse zu den vordersten Booten hinaus.

Ich schwenkte die Arme und zeigte auf die Stelle, wo die Kleinen sich auf den Steinen festgeklammert hatten.

Aber keiner hörte meine Stimme; niemand hatte für anderes Sinn als für die blitzenden Reste des Schwarms, der sich endlich geteilt hatte. Da sah ich Lea von Stein zu Stein auf Matofas Kinder zufliegen.

Das Herz stand mir still. Würde sie sie erreichen, bevor es zu spät war?

Die erste Kielwasserwoge von der Kanureihe spülte bereits über die äußersten Steine. Ich sah, wie die Kinder hochgehoben und hinausgetragen wurden, sah, wie die kleinen braunen Arme durch die Luft fuchtelten – ich meinte ihre Schreie zu hören – und im nächsten Augenblick waren sie verschwunden.

Während ich lief, sah ich, wie Lea sich ins Wasser stürzte, sah, wie Kopf und Schultern durchs Wasser schössen, sah sie schwimmen und plätschern. Noch einmal maß ich die Entfernung, und es war mir klar, daß ihr und das Schicksal der Kinder entschieden sein würde, bevor ich sie erreichen konnte.

Es gab nur eins: Lärm machen.

Wie aber sollte ich die Aufmerksamkeit der erregten Gemüter dort draußen wecken?

In einer plötzlichen Eingebung stürzte ich zu meinem Haus zurück, ergriff meinen Revolver und feuerte drei Schüsse ab.

Das half. Der Lärm hörte plötzlich auf. Ich sah, wie die Köpfe sich erstaunt auf den Strand richteten.

Ich riß meine weiße Jacke ab und schwenkte sie in die Richtung der Unglücksstelle, um ihre Augen dorthin zu lenken.

Da, mitten in meiner Erregung, fiel mein Blick auf Leas Kopf. Ich sah, wie er sich übers Wasser hob; ich sah, wie ihre Arme sich hochreckten, und plötzlich – ach, noch jetzt, nach so vielen Jahren ist es mir, als ob es gestern gewesen wäre –

sehe ich etwas Lebendiges, Braunes in ihren hochgestreckten Armen zappeln und höre ihre Hilferufe.

Es war nur ein Augenblick; da erklang ein gellender Schrei von der Flotte draußen.

Man hatte gesehen, was ich sah.

Ich beobachtete, wie eine Frau sich aus einem Boot ins Wasser stürzte und ein Mann aus einem anderen und mehrere Männer nach ihm.

Ich sah ein Kanu wie einen Pfeil auf die Stelle zu durchs Wasser schießen.

Ich handelte ohne Überlegung und wußte selbst nicht mehr, was ich tat, bis ich Wasser an meinen Füßen fühlte.

Ich stand auf dem äußersten Stein und sah ein Kanu gerade vor mir, und eine Frau mit verstörten Augen – eine Frau, die vor Freude schrie, während sie zwei noch kämpfende Leben der krampfhaften Umarmung zweier brauner Arme entriß.

Es war Muanda. Sie stand bis an den Hals im Wasser und lief schreiend aufs Land zu mit der Doppelfrucht ihres Leibes in den hoch erhobenen Händen.

Im Kanu aber sah ich, wie zwei Männer sich über die Reling beugten und etwas zu heben suchten, etwas Braunes und Schlaffes, das ihnen immer wieder zu entschlüpfen drohte.

Der eine Mann hob den Kopf; ich begegnete seinem Blick. Es waren Matofas Augen; und ich las in ihnen, bevor ich es selbst gesehen hatte, daß es Lea sei, die sie zwischen sich trugen, und daß Lea tot war.

Ich sprang hinaus und watete durchs Wasser, bis ich das Kanu erreichte. Ich trat zwischen die beiden Männer – und fing Leas Kopf in meinen Armen auf.

Ihre Augen waren geschlossen. Die großen Lider klebten mit ihren langen Wimpern so fest und müde auf der Wange, als habe sie sich zu einem langen Schlaf zur Ruhe gelegt.

Auf ihren Lippen aber lag das Kinderlächeln, das ich an ihrem Jungfraufest gesehen hatte.

Und es war, als ob sie mir zuflüsterte:

»Ich konnte ihm keine Kinder schenken; aber sieh, ich habe sie gerettet und den Geistern meines dafür gegeben.«

Im Glück war sie gestorben.

Ende


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