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XVI.

Johannes ist fort.

Johan Lind hat ihn gehen lassen, er hat die Verantwortung auf sich genommen.

Wenn der Weichensteller nicht tot gewesen wäre, hätte der Täter sich melden müssen, damit Sankt Peter seinen Seelenfrieden zurückerhalten hätte. Jetzt wäre es umsonst.

Nachdem Johan Lind alles erfahren hatte, begriff er. daß auch Johannes ein unfreiwilliges Werkzeug gewesen war, und er verurteilte ihn zu bedingter Begnadigung. Im selben Augenblick beschloß er, daß er sich zum Vorsitzenden des Vereins für die Unglücklichen wählen lassen wollte; er war ja bereits im Amt.

Johan Lind hatte den jungen Mann lieb gewonnen, wie er dort vor ihm gesessen und sein Herz und Leben vor ihm offenbart hatte. Seine Verzweiflung jammerte ihn. Er begriff, was er gelitten hatte und welche Erlösung es für ihn gewesen wäre, hätte er seinem eigenen Leben ein Ende machen können. Der »hinkende Teufel« aber, wie Gerda ihn zu nennen pflegte, in dessen Gewalt er geraten war, hatte ihn durch seinen Eid wie in einem Schraubstock festgehalten!

Der hinkende Teufel hatte den Plan gelegt. Er war eines Abends mit den Bahnarbeitern längs des Dammes gegangen und hatte mit ihnen über den geplanten Streik gesprochen, sie gingen am Blockhaus vorbei, als Sankt Peter gerade die Weiche stellte. Da er Mechaniker war, wunderte er sich über das altmodische System, und der Gedanke kam ihm, daß hier der richtige Ort für die Tat sei. Er selbst aber konnte den Plan nicht ausführen, weil er hinkte; man hätte ihn wiedererkannt und festgenommen und mit ihm wären alle anderen verloren gewesen. Der Schlag, der gegen den Russen geführt werden sollte, der mit im Zuge war, mußte wie ein Unglücksfall wirken. Wie sollten sie sonst den Verräter unschädlich machen, der sich ihr Vertrauen erschlichen und ihrer aller Namen aufgeschrieben hatte, – nicht auf einem Stück Papier, das gestohlen werden und gegen ihn zeugen konnte, sondern in seinem stummen Herzen – den Verräter, der bereit gewesen war, ihr Werk am grünen Tisch der Konferenz auszuliefern. Wie konnten sie sein Wissen zunichte machen, ohne daß eine menschliche Spur, ein menschlicher Vorsatz sie verriet? Wie ein Zufall mußte es wirken. Die vielen Unschuldigen konnten nicht gerettet werden: die kleinere Sache mußte der größeren wegen geopfert werden. Der »hinkende Teufel« aber veranlaßte die Kameraden, daß sie in derselben Nacht streikten, damit der herabstürzende Zug sie nicht treffen sollte.

Der hinkende Teufel hatte bei Johannes' Mutter als Pensionär in Petersburg gewohnt. Er hatte Johannes' Vater gekannt, der deutschen Ursprungs und einem reinen Herzen, stets von der Regierung verdächtigt, den Ausweisungsbefehl überm Kopf. Er war bei ihm zur Schule gegangen und hatte zu ihm aufgesehen. Und als Johannes' Vater während der Revolution getötet wurde, war er dem Jungen ein Vormund, seiner Mutter ein Freund gewesen und hatte ihr mit Rat und Tat beigestanden.

Als der Krieg kam. hatte der hinkende Teufel ihnen geholfen, sich außer Landes in die Heimat seiner Mutter zu schmuggeln, so daß Johannes dem Militärdienst entging, – er war damals sechzehn Jahre alt gewesen und sprach dänisch wie seine Muttersprache. Der hinkende Teufel aber mußte mit in den Krieg, bis die alte Regierung unter der Revolution zusammenbrach.

Eines schönen Tages war er in Kopenhagen aufgetaucht, hatte Johannes' Mutter aufgesucht und war wie ehemals ihr Pensionär geworden. Er war durch einen Schuß in die Hüfte beim Kampf in den masurischen Sümpfen lahm geworden: sonst war er noch ganz der Alte, immer Feuer und Flamme, treu im Guten, wie in Bösen.

Johannes war in Kopenhagen bei einem Mechaniker in die Lehre gekommen; das war auch das Fach des hinkenden Teufels. Und als er nach Kopenhagen kam, verschaffte Johannes ihm Arbeit in der Werkstatt, wo er selbst arbeitete.

Der hinkende Teufel erzählte von den alten Kameraden in Rußland, die nach Dunkelwerden zu Johannes' Vater gekommen und hinter verschlossenen Fensterläden vertraulich beisammen gesessen hatten.

Mehrere davon waren im Krieg gefallen, die übrigen waren auf Veranlassung des hinkenden Teufels nach Dänemark ausgewandert. Sie kamen, einer nach dem anderen, fanden Arbeit in ihrem Fach und erlernten die Landessprache.

Abends versammelten sie sich beim hinkenden Teufel, so viele die enge Stube fassen konnte. Johannes begriff trotz seiner Jugend, daß eine gemeinsame Aufgabe sie zusammen führte. Auch seine Mutter hatte viel mit ihnen zu besprechen, doch wollte sie nicht, daß ihr Junge in die Sache hineingezogen wurde.

Johannes wußte wohl, daß es nur zu seinem Besten sein sollte, dennoch kränkte es ihn, denn waren sie nicht allesamt seine Freunde, die er von klein auf gekannt hatte, warum durfte er nicht Gutes und Böses mit ihnen teilen?

Er wurde verdrießlich und ging seine eigenen Wege. Da war es, daß er auf Gerda aufmerksam wurde, und sie wurde alles für ihn, er lebte nur in ihr.

Er verheimlichte seine neue Bekanntschaft seiner Mutter, er brachte es nicht übers Herz, sie wissen zu lassen, daß er für eine andere lebte. Mutter und Sohn waren bisher unzertrennbar gewesen, – außer in den Jahren, als der Leutnant bei ihnen wohnte.

Schön war der Leutnant gewesen in seiner vornehmen Uniform, jung und lebenslustig. Johannes hatte ihn mit großen Augen betrachtet und sich gewünscht wie er zu sein, wenn er einst groß wurde. Und trotzdem konnte er ihn nicht leiden.

Der Leutnant pflegte abends bei ihnen im Zimmer zu sitzen, und die Mutter sprach so vertraulich mit ihm, wie mit keinem anderen. Wenn Johannes zu Bett gebracht war, konnte er sie flüstern und lachen hören. Und er weinte sich vor Eifersucht in den Schlaf.

Eines Nachts erwachte er dadurch, daß er seine Mutter mit dem Leutnant nach Hause kommen hörte, sie waren im Theater gewesen – die Tür zu Mutters Zimmer stand offen. Er sah, daß der Leutnant ihren Kopf in seine Hände nahm. Sie fuhr zur Seite und guckte ängstlich zu seinem Bett hinüber, wahrscheinlich hatte er durch eine Bewegung verraten, daß er wach war.

Von jenem Augenblick an haßte er den Leutnant. Auch der hinkende Teufel war eifersüchtig. Der Leutnant sah auf ihn herab, weil er ungekämmtes Haar und schmutzige Nägel hatte. Die beiden konnten nicht zusammen im Zimmer sein, ohne daß es Streit gab. Fast hätte es ein Zerwürfnis zwischen dem hinkenden Teufel und Johannes' Mutter gegeben.

Eines Tages war der Leutnant verschwunden. Ein Brief kam und ein Soldat holte seine Sachen, das war alles. Die Mutter verbarg ihren Schmerz, ihre verweinten Augen aber konnte sie nicht verbergen. Der Name des Leutnants wurde nicht mehr genannt, und langsam kehrte das alte vertrauliche Verhältnis zwischen Mutter und Sohn und ihrem Freund zurück.

Darum schien ihm auch seine Liebe zu Gerda wie eine Treulosigkeit. Als er sie aber erst einmal verschwiegen hatte, konnte er sich nicht entschließen, davon zu sprechen. Seine Mutter ahnte wohl etwas, wollte aber nicht fragen. Er versuchte sich selbst einzureden, daß sie an seinem Schweigen Schuld sei, hatte sie ihn nicht aus der Gemeinschaft der Freunde hinausgedrängt? Wenn er sich erhob, um seinen Abendspaziergang zu machen, wie er vorgab, dann folgte ihr Blick ihm zur Tür. Er fühlte ihn schmerzhaft im Rücken, bis er bei Gerda war; dann war alles vergessen.

Dann starb seine Mutter. Eine Lungenentzündung in dem nassen Frühjahr machte ihrem Leben ein Ende. Als sie dalag, mit einem Zug um ihren verstummten Mund, als ob sie jetzt alles wüßte, da fiel er neben ihr nieder und weinte, als ob ihm das Herz brechen sollte.

Von jetzt ab konnte er nicht zu Gerda gehen, ohne daß er meinte, seine Mutter gehe neben ihm und fragte, warum sie nicht an ihrem Glück Anteil haben dürfe?

Der hinkende Teufel trauerte mit Johannes. Der gemeinsame Kummer band sie wieder fest zusammen. Und jetzt endlich weihte er den jüngeren Freund ganz in den Kreis der Freunde ein.

Johannes erfuhr, was seinem Vater, was all den alten Kameraden, die in seinem Kindheitsheim verkehrten, widerfahren war, was sie gelitten, wofür sie gekämpft hatten. Er war empört und setzte sich von nun an noch eifriger für die Genugtuung ein, als der hinkende Teufel. Er erfuhr Dinge, die ihm den Schlaf raubten. Es war wie eine Einweihung, es war wie eine Besessenheit. Gerda aber durfte nichts davon wissen, und um sich nicht zu verraten, es war so schwer, ihr etwas zu verbergen, blieb er ganz fort; ihre Begegnungen wurden seltener und seltener.

Da, eines Tages tauchte der Leutnant aus Petersburg zwischen ihnen auf, der Leutnant, den er gehaßt und gleichzeitig bewundert hatte. Die Revolution hatte ihn seines ganzen Vermögens beraubt; nur das Leben hatte er behalten dürfen, unter der Bedingung. daß er als Spion für die neuen Machthaber in die Fremde gehen wollte. Sein Name und seine gesellschaftliche Stellung gaben ihm Zutritt bei den Vornehmsten und Wohlhabendsten der landesflüchtigen Russen, die er ausspionieren sollte, und Dänemark wurde sein Arbeitsfeld. Seine Papiere waren in Ordnung, die Instruktionen klipp und klar, der hinkende Teufel konnte nicht an ihrer Echtheit zweifeln und mußte sich beugen.

Der Leutnant wurde in die Pläne der Revolutionäre eingeweiht und arbeitete Hand in Hand mit ihnen. Heimlich aber ließ der hinkende Teufel ihn nicht aus dem Auge, und eines Abends vertraute er Johannes an, daß er seiner Sache ganz sicher sei: der Leutnant war ein Verräter; man hatte ihn gekauft, mit zur Konferenz zu reisen, um ihrer aller Namen und Pläne zu verraten.

In jener Nacht gelobten sie einander, daß der Leutnant sterben sollte. Als aber der hinkende Teufel seinen Plan Johannes vorlegte, da versagte Johannes. Das brachte er nicht fertig, er konnte nicht die vielen Unschuldigen des einen Schuldigen wegen opfern.

Er lehnte es rundweg ab. Da verlor der hinkende Teufel die Besinnung. Wollte er eine Sache im Stich lassen, für die alle gekämpft und gelitten hatten? Wußte er nicht, daß man ihn durch diese heilige Handlung, die man von ihm verlangte, eine Ehre erwies? Wieviele Tausend Unschuldige waren nicht von denjenigen geopfert worden, die diesen Mann gekauft hatten?

Wußte er nicht, daß der Leutnant seine Mutter verführt und dann verlassen hatte? Wollte er seine Mutter nicht rächen?

In seinem unbändigen Zorn verriet er Johannes alles, was er von seinem Ursprung wußte: daß er nicht der Sohn des Schullehrers, sondern die Frucht einer Verführung sei.

Mit einem Kind unterm Herzen war seine Mutter nach Rußland gekommen, um ihre Schande zu verbergen. Die Familie, bei der sie in Dienst war, jagte sie davon, als man ihren Zustand entdeckte. Da machte sie Zischlers Bekanntschaft, der der Sohn eines Verbannten, eines der Märtyrer aus Sibirien war, und sie heiratete ihn, um ihrem Kinde einen Namen zu geben. Als aber Zischler starb, wer hatte sich da ihrer und ihres Kindes angenommen? Niemand anderes als die Unglücklichen, die Verbannten, die Geopferten.

»Ich habe mich eurer angenommen, ich, der ich selbst der uneheliche Sohn eines Hofjunkers und eines Kammermädchens bin, im Hause eines Generals gezeugt. Ich kam in einer Entbindungsanstalt zur Welt, und meine Mutter wurde Hunderte von Meilen weit fortgeschickt, damit sie den jungen Herrn nicht wieder in Versuchung führen sollte. Ich habe sie nie gekannt. Du siehst also, daß du zu uns gehörst. Willst du deine Mutter rächen oder willst du deinen Eid brechen?«

Da versprach Johannes, daß er seine Pflicht tun wollte und er schrieb Gerda den Abschiedsbrief.

Er tat, was der hinkende Teufel von ihm verlangt hatte. Er schlich sich zur Weiche und drehte den Handgriff. Der Zug kam mit Getöse näher, er sah die Laternen in der Ferne und den roten Atem der Lokomotive, – da hörte er im selben Augenblick eine Frau im Wärterhaus schreien und stürzte wie besessen über die Felder davon, hielt nicht inne, bis er die breite Landstraße erreicht hatte.

Als es aber getan war, da sah er, daß Gott das Unglück abgewendet hatte, und als er durch die Zeitung erfuhr, daß die Frau, die er liebte, zusammen mit den anderen von seiner Hand getötet worden wäre, da gingen ihm die Augen auf für das Entsetzliche, das er hatte tun wollen. Aus allen Ecken starrte es ihn an. Der Weichensteller verfolgte ihn. Wäre der Zug nicht gerettet worden, er hätte sich mit den anderen zusammen getötet.

Da hatte er eines Morgens in der Zeitung gelesen, daß dem Weichensteller Genugtuung geschehen und er aus Not und Armut gerettet worden sei. Das war der erste Lichtschimmer, und er schöpfte Hoffnung. daß es auch für ihn eine Gnade gäbe. Er sah ein, daß er sich dem hinkenden Teufel und seinem Kreis fernhalten mußte und beschloß zu fliehen. Erst aber wollte er Gerda noch einmal sehen, um sich zu überzeugen, daß sie keine Not litt, und um ihre Verzeihung bitten.

Während der hinkende Teufel zur Arbeit gegangen war, hatte er sich fortgeschlichen. Nichts nahm er mit, um sich nicht zu verraten. Nur die Erinnerungen an seine Mutter, die wenigen Sachen, die sie geliebt und hinterlassen, hatte er in ihre alte braune Handtasche gepackt, die unter seinem Bett stand. Er wollte sie Gerda geben, damit sie sie für ihn aufbewahrte; er hatte ja keinen anderen Menschen.


Gerda hatte sie in Empfang genommen. Bilder und Papiere und Briefe. Sie hatte ihm verziehen und geweint, als ob das Herz ihr brechen sollte.

Und Johannes war fortgegangen. Spät in der Nacht war er von ihnen gegangen. Bedingt begnadigt.

Sie hatte ihn hinunterbegleitet und war lange unten geblieben. Johan Lind hatte gehört, wie die Tür ins Schloß fiel, und schwere Schritte sich auf der stillen Straße entfernten.

Als Gerda heraufkam, hatten ihre Augen keine Tränen mehr, sie konnte nicht mehr weinen. Er streichelte ihr die Wange. Sie nahm seine Hand, küßte sie und ging still in ihr Zimmer.

Johan Lind blieb am Tisch sitzen, schlafen konnte er nicht.

Er dachte, wieviel Sorge und Kummer er sich über Dinge gemacht hatte, an denen er keine Schuld trug. Er war also gar nicht Schuld gewesen an dem Schicksal des armen Weichenstellers. Er war gar nicht der Unglücksvogel gewesen. Mehrmals hatte wohl eine geheime Stimme ihm mitten in seiner Unruhe zugeflüstert: Hirngespinste, Wahnsinn.

Er lauschte dem Wogengang in seinem Gemüt und dachte, wann es wohl ruhiger werden würde in seinem Sinn. Draußen aber war alles still.

Da erklangen ferne, tiefe Töne; es war die Rathausuhr, die ihren Psalm spielte.

»Jetzt ist es Morgen!« sagte er laut und erhob sich mechanisch.

Da stieß er mit dem Ellenbogen gegen ein Paket Briefe, die Johannes auf den Tisch gelegt hatte. – die Erinnerungen an seine Mutter.

Er beugte sich, um sie aufzuheben. Als er sie in der Hand hielt, sah er eine Zeichnung dazwischen. Ein ganz verblichenes Blatt.

Er hielt es ans Licht. Die Zeichnung stellte einen Lebemann vor beim Champagner, der, den Arm um den nackten Hals einer überwundenen Frau, die Hand nach der Rechnung ausstreckt, die der Tod als Kellner verkleidet, ihm präsentiert.

In der Ecke stand »An Lisa«.

Da begriff Johan Lind, und er fiel nieder und verbarg sein Angesicht in den Händen.

Ende.


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