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Als Johan Lind das Getöse in der Nacht hörte, war er sich nicht klar darüber, was es bedeutete.
Er starrte in die Richtung, woher der Laut kam; die Wolken aber hatten sich wieder zusammengezogen und es war dunkel ringsumher. Der Zug war wie verschlungen von der Nacht.
Bei der Glut seiner Zigarre sah er, daß die Uhr etwas nach zwölf war. Seltsam, daß er gar nicht müde war, er spürte nicht die geringste Uebernächtigkeit in seinen Gliedern.
Er versuchte, die Entfernung in der schwachen Nachtbeleuchtung zu messen – er hatte wohl noch zwanzig Minuten zu gehen.
Er knöpfte seinen Rock fester zu und schritt tüchtig aus, beständig nach der Richtung blickend, woher das Getöse erklungen war; er meinte, Lichter zu sehen, die sich hin und her bewegten.
Dort ist das Geleise und dort liegt das Wärterhäuschen, – der helle Schein auf dem Felde muß der hohe, weiße Abhang des Bahndammes sein. Am Ende desselben bewegen sich die Lichter. Leute gehen hin und her. Die Nachtschicht scheint also dennoch an der Arbeit zu sein.
Jetzt ist er so nah, daß er die Umrisse des Blockhauses unterscheiden kann, – es wirft ein Lichtviereck über den Bahnkörper.
Auch im Wärterhaus ist Licht. Wahrscheinlich geht der bekümmerte Sankt Peter jetzt zwischen seinem kleinen Völkchen zu Bett, nachdem er den letzten Zug expediert hat.
Da sieht er plötzlich eine Laterne, die seltsam längs des Dammes hinhüpft.
Er bleibt stehen und hält den Atem an.
Dort hinten – ganz am Ende des Dammes hält ja der Zug.
Das Getöse – er bleibt entsetzt stehen – das Getöse in der Nacht.
Die Knie zittern ihm; es hämmert gegen seine Seite, als ob eine harte Hand um sein Herz griffe: seine Stirn ist ganz kalt.
Nur ein Augenblick, – dann werden alle Gefühle von etwas Mächtigem und Warmen hinweggespült, das ihn erhebt, ihm den Atem benimmt und nicht losläßt, bevor er ein anderer geworden ist, – als ob das drückende Band der Jahre durchschnitten würde und das Gemüt sich frei zur Höhe erhebt.
Ein Schmerz, wunderbar und gegenstandslos, so erhebend, daß er wie Erneuerung wirkt.
Ein Mitgefühl, größer als das schwache Herz es zu tragen vermag, darum ist es wie ein Schmerz. Ein Erbeben vor dem, das Gedanken nicht zu fassen vermögen, das darum stumm und demütig macht und den Weg zu dem Großen öffnet: der Züchtigung, die wir nicht verstehen und bei der wir trotzdem beten: »Herr, nicht mein, sondern dein Wille geschehe.«
So empfand er den Griff der Hand während eines einzigen, bebenden, atemlosen Zeitatoms. Zu kurz, um ins Bewußtsein zu treten, aber lange genug, um sich ins Unterbewußtsein zu senken.
Dann wurde er wieder er selbst und eilte auf die Stelle zu, wo die Hand den Ameisenhaufen berührt hatte.
Als Johan Lind den Bahnkörper erreicht hatte, begegnete ihm der Bahnbeamte, dessen Laterne er längs des Dammes gesehen hatte.
Der Mann richtete die Laterne auf ihn. Johan Lind versuchte, das Geschehene von dem bärtigen Gesicht abzulesen – zu fragen wagte er nicht.
Der Mann blieb stehen und trocknete sich mit dem Rücken seiner Hand den Schweiß von der Stirn.
»Entgleist!« sagte er und wandte sich zu der dunklen, toten Masse um. Darauf schien er plötzlich in Gedanken zu versinken.
Johan Lind wunderte sich. Hatte der Mann denn kein Herz?
»Ist es schlimm?« brachte er mühsam heraus.
Der Mann erwachte aus seinen Gedanken und sah ihn an.
»Die Achse der Lokomotive ist gebrochen und die elektrische Leitung versagt. Das ist alles. Keine Verletzung, nicht einmal ein gebrochener Arm.«
Er sah Johan Lind an, als wollte er ihn in einer unglaublichen Sache zum Zeugen aufrufen.
»Ich habe das Getöse ganz bis dorthin gehört.« Johan Lind zeigte in die Richtung, woher er kam.
»Die Lokomotive ist gegen einen Zementkasten gestoßen, den die Arbeiter bei ihrer Arbeit gebrauchen, ist aber nicht zu Schaden gekommen.«
Johan Lind starrt auf die dunkle Masse, die nicht tot, nur blind war. Seltsam, daß kein Unglück geschehen war, – er braucht Zeit, um es zu fassen.
»Fuhr der Zug denn nicht mit voller Geschwindigkeit?« fragte er schließlich.
»Jemand hatte die Notbremse gezogen,« sagte der Mann leise.
Johan Lind verstand ihn sofort, als ob sie sich schon lange gekannt hätten.
»Die Notbremse?« flüsterte er und berührte den Arm des Mannes.
»Gerade, bevor es zu spät war.«
Darauf nickte er vor sich hin.
»Wir Menschen –« weiter kam er nicht, er brachte den Satz nicht zustande.
Er atmete tief auf und schraubte an der Flamme seiner Laterne.
»Wenn das keine Vorsehung ist,« sagte er schließlich kurz und rauh. Es mußte heraus, es ließ ihm keine Ruhe. Als er es gesagt hatte, schwenkte er ab.
»Ich muß zum Bahnhof,« sagte er und ging quer über den Bahnkörper.
Johan Lind folgte ihm. Sie gingen längs des Hauptgeleises.
Weiter hinten lag der Bahnhof, hell erleuchtet. Johan Lind sah. daß viele Leute auf dem Bahnsteig standen. Sie durften quer über die Schienen gehen, es wurden keine Züge mehr erwartet. Einige Nachzügler kamen noch mit Handgepäck und Paketen von dem dunklen, schweigenden Zug. Sie stiegen vom Bahndamm herunter und gingen über das Geleise, das war der kürzeste Weg. Jetzt verstand Johan Lind, warum er keine Menschen beim Schlagbaum gesehen hatte; alle waren diesen Weg zum Bahnhof gegangen.
Was wäre ihnen geschehen, wenn nicht die Notbremse gezogen worden wäre? Er wagte nicht zu fragen, es war zu entsetzlich.
»Die Lokomotive.« antwortete der Mann, als ob er seine Gedanken erraten hätte, »und die ersten drei Wagen wären zertrümmert und die übrigen den Damm hinuntergestürzt worden, auf die Zementblöcke im Moor. Bei der Geschwindigkeit, die der Schnellzug hatte!«
Es lag etwas Drohendes über seiner schweren Gestalt, als er sich zu Johan Lind umwandte, als ob er diesen Fremden nicht loslassen wollte, bevor er eingeräumt hatte, was keiner leugnen konnte.
»Wenn das keine Vorsehung ist!« sagte er. »Im letzten Augenblick zieht jemand die Notbremse.«
Johan Lind verstand ihn, dennoch machte er einen Einwurf.
»Vielleicht hat jemand gesehen, daß der Zug auf falscher Spur war.«
»In der Nacht – in der Dunkelheit?« Der Mann schüttelte mißbilligend den Kopf. »Und wenn auch, war es nicht doch die Vorsehung?«
Er schwang seine Laterne zur Bekräftigung und ging weiter.
Als er ein Stück gegangen war, drehte er sich zu Johan Lind um, der ihm nur schwer zu folgen vermochte.
»Man sagt, es sei ein Schieber gewesen, der bei dieser Station aussteigen wollte, weil er in einen verkehrten Zug gekommen war« – er zögerte einen Augenblick und fuhr darauf tief nachdenklich fort, als ob seine Worte eine besondere Weisheit enthielten: »Die Geldstrafe muß er natürlich bezahlen, wenn auch durch ihn alle gerettet wurden – das ist klar.«
Ein Schrei erklang – Johan Lind fuhr zusammen und blickte in die Richtung, woher der Laut gekommen war.
Wieder ein Schrei – von einer Frau in Not – ein langer, gellender Schrei.
Er kam aus einem Haus – dem einzigen, das weit und breit zu sehen war –, dem Wärterhaus mit dem matten, gelben Lichtschimmer hinter der Gardine.
»Es ist Andresens Frau,« sagte der Mann, und zeigte mit seiner Laterne auf das Haus, »sie kriegt ihr Achtes. Ich sprach ihn vorhin. Die Wehen hatten gerade begonnen, als es geschah.«
Johan Lind sah den Weichensteller mit dem schweren, traurigen Blick und der müden Stimme. »Man hat nicht länger Ruhe, als der Nachbar will.«
Das war's also, was seinen Kopf gebeugt hatte. – die neue Last, die zu den vielen alten kam; das war's, worauf er gelauscht hatte: der Schrei um des neuen Lebens willen – und mitten darin kam das Getöse, das von dem kündete, was sterben sollte.
Für das Leben, das kommen sollte, trug er die Verantwortung. – trug er auch die Verantwortung für den Tod der Vielen, war auch das eine seiner vielen Bürden? – Hatte er die Weiche falsch gestellt?
Wird es ihn nicht niederbrechen – treu und müde und schwerfällig wie er war?
Armer Mann!
Johan Lind fühlt, wie ihm die Augen brennen. Er hat das Bedürfnis, irgend etwas zu tun.
Aber es war ja etwas getan worden. Es hatte ja nicht zum Tode geführt – eine Hand hatte den Tod zurückgehalten. – eine Hand? – Ein Zufall?
Er denkt an das Gespräch vorhin, wie er zu diesem Unglücklichen von den Millionen Menschenleben gesprochen, die er in seiner Hand gehalten hatte, und er fragt sich selbst bitter: Warum kommt in der Stille der Nacht ein Mensch und weckt Angst und Unruhe in der müden Seele seines Nächsten – warum? – Er hatte es doch gut gemeint!
»Es ist nicht zu fassen.« sagt der Mann mit der Laterne, »es gibt keinen zuverlässigeren Menschen bei der Staatseisenbahn als Andresen, – es muß Ueberanstrengung sein und dann die Sorge um seine große Familie.«
Noch einmal ertönt der Schrei aus dem Hause. Johan Lind meint den müden Mann vor sich zu sehen, wie er am Bett sitzt, den Kopf in seine Hände vergraben.
»Was hat er gesagt?« fragt er.
»Ich habe nie solchen Blick gesehen!« Der Mann streicht sich über die Augen und schweigt eine Sekunde. »›Ich habe die Weiche gestellt,‹ sagte er und starrte mich an, mit Augen, die ihm aus dem Kopf zu treten schienen. Es ist nicht zu fassen.«
»Aber es ist ja kein Unglück geschehen!« Johan Lind faßt den Mann am Arm.
»Es war die Vorsehung.«
»So lassen Sie dem Mann doch seine Ruhe.«
»Seine Ruhe? – Er verliert seine Stellung – eine schöne Ruhe, wenn man sieben Kinder hat und das achte mitten im Unglück kommt.«
Er streicht sich über Stirn und Augen und schraubt an seiner Laterne, während ein stöhnender Seufzer sich seiner breiten Brust entringt. Dann geht er weiter.