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XI.

Johan Lind las in der Morgenzeitung, daß das hohe Komitee abgereist sei. Die Herren waren an Bord eines Dampfers gegangen, der sie nach Antwerpen bringen sollte.

Von der Eisenbahn hatten sie vorläufig genug.

»Leider,« schrieb der ›Tag‹, »hat Etatsrat Jakob eine Absage schicken müssen. Der hochgeschätzte Nestor unserer Bankgesellschaft ist noch nicht ganz hergestellt nach der hartnäckigen Erkältung, die er sich in jener kalten Novembernacht, als das Eisenbahnunglück geschah, zugezogen hat. Statt seiner hat Etatsrat Welten das Präsidium übernommen. Auch Sekretär Glarby bleibt zu Hause: er ist unentbehrlich.«

Das darf das Publikum also wissen! dachte Johan Lind, wie aber mag es hinter der Fassade aussehen!

Er sah die Leute vor sich, wie er sie im Warteraum vor sich gesehen hatte, sowohl in der zweiten, wie in der dritten Klasse, als jeder einzelne auf seiner Bahn von einer unsichtbaren Hand zurückgehalten worden war.

Er prüfte ihre Gesichter und Augen, wie sie in der Erinnerung vor ihm standen. Doch konnte er zu keiner Klarheit kommen; an jenem Abend waren sie nur vom Schreck geprägt gewesen. Er hätte gern gewußt, was jeder einzelne jetzt empfand. Ob einer von ihnen daran dachte, daß sie nur bedingt begnadigt waren?

Davon stand nichts in der Zeitung. Auch nicht, daß Kaufmann Hjord es aufgegeben hatte, dem heimatlichen Handel den Rücken zu kehren, weil »die schlechtesten Instinkte des Erwerbslebens sich unter einem kurzsichtigen und unverantwortlichen Steuersystem breit machten.«

Sans doute – der Graf hatte recht – man konnte seine Hände auch waschen, wenn man zu Hause blieb. Da stand nicht, daß Kommandeur Töndern, der kürzlich seinen Abschied erhielt, das Gefühl hatte, als ob ihm das Leben von neuem zum Geschenk gemacht worden und alles andere ihm gleichgültig sei.

Ich will zu Massen gehen, sagte Johan Lind, um ihn zu fragen, ob es ihm gelungen ist, die Herren vor ihrer Abreise auf seine Liste zu bekommen.

»Ich wollte Ihnen gerade schreiben.« sagte Massen, reichte ihm lächelnd seine schlanke Hand und führte ihn vertraulich zum Klubsessel.

Johan Lind wollte nicht rauchen. Massen aber nahm eine Zigarette aus seinem goldenen Etui, zündete sie an, den Kopf auf die Seite gelegt, wobei ihm eine schwere Locke seines weichen, in der Mitte gescheitelten Haares über die Augen fiel; seine langen Finger spielten mit Zigarette und Zündholz, als ob er sie im nächsten Augenblick mit einem hübschen Jongleurbogen in die Luft werfen und mit seinen großen weißen Zähnen wieder auffangen wollte.

»Es ist mir großartig geglückt!« sagt Massen. »Mit der Baronesse habe ich den Anfang gemacht. Sie kam zu mir und wollte wissen, was sie kaufen sollte. ›Tja,‹ sagte ich, ›da sind Schiffahrtsaktien, Kohlenaktien und Zuckeraktien, außerdem Zichorie, dieses Papier hätte ich für Sie bestimmt.‹ ›Pfui, Zichorie,‹ sagt sie und rümpft die Nase. ›Ja. Mokka ist mir auch lieber,‹ sage ich, ›als Papier ist es aber augenblicklich das beste. Natürlich gehört auch Glück dazu!‹ › Das haben Sie, Massen, und ich habe Vertrauen zu Ihnen,‹ sagt sie und sieht aus, als ob sie in der Kirche säße. ›Wissen Sie, warum ich Glück habe, Baronesse? Weil ich nie ein Geschäft mache, ohne die zu bedenken, die Unglück haben.‹ ›Mein Gott,‹ sagt sie – sie sagt immer mein Gott – ›Sie sind ein guter Mensch, Massen.‹ ›Na na,‹ sage ich bescheiden. ›Also wir nehmen dreißig Aktien in Zichorie für Sie Baronesse. Gott segne Sie, ja! Und dann vergessen wir den armen Weichensteller nicht. Ich zeichne Hundert Kronen für Sie und erbitte Ihre Unterschrift für die Adresse‹.«

Massen beugt sich vor und reibt seine langen Hände über dem Kopf mit einem verwegenen Lächeln.

»Was sagte sie dazu?« Johan Lind amüsiert sich über Massens Selbstbewußtsein.

»Erst machte sie ein strenges Gesicht, dann aber erzählte ich ihr von der Frau und dem Säugling und deutete an, daß wir alle nur Werkzeuge in der Hand eines höheren Willens seien, bis ihr die Tränen in den Augen standen. Sehen Sie, hier ist ihre Unterschrift! Eine recht affektierte Frauenzimmerhandschrift, nicht wahr?«

Es war eine lange Reihe von Namen, großen und kleinen, einige mit Schwüngen und Schnörkeln, andere ganz einfach und natürlich; die letzteren waren die gewichtigsten, sie stützten sich auf gute runde Zahlen.

Massen konnte Johan Lind ansehen, was er dachte.

»Ja,« sagte er auf seine lärmende Knabenart, »so ist es: je feiner der Name, desto weniger Schnörkel.«

Johan Lind vermißt etwas. Jetzt weiß er auch, was es ist. Er hat geglaubt, daß die Anregung, die er Massen gab, ihn ernster machen würde. Fast beneidet er ihn, daß er seine Rolle als Auserwählter so leicht nehmen kann. Das kommt von seiner Jugend und seinem Spieltalent. Seine Nummer ist gezogen worden, das ist alles.

»Bei den anderen ging es nicht so glatt. Ludwig N. Petersen fragte mich, ob ich verrückt geworden sei. Wissen Sie, was ich ihm geantwortet habe? ›Sie verdienen nicht, daß ich Sie gerettet habe!‹ ›Sie?‹ ›Ja, ich; denn wo wären Sie heute, wenn ich nicht die Notbremse gezogen hättet? Sie sind, meiner Seel, der frechste Hund, der mir je begegnet ist!‹ Dann unterschrieb er und sah sich die Zahlen an. Sehen Sie hier – 500! – Ich hatte 400 gezeichnet. – Der Millionen-Petersen läßt sich natürlich von einem Outsider nicht lumpen!« Massen rieb sich die Hände. »Aber ich bin auch bescheiden gewesen, ich habe immer dabei gesagt: ›Der Vater der Idee ist der Philosoph aus der Danmarksgarde‹.«

»Was haben Sie gesagt?« Johan Lind rückt ärgerlich auf seinem Stuhl und sieht verdrießlich aus. Als ob man ihn in einer Zeitung zur Schau gestellt hätte!

»Ich sagte Ihnen ja gleich, man muß die Sache interessant machen, sonst beißen die Leute nicht an! – Ich verstehe mich auf den Rummel.«

Und Massen schwatzt drauf los, als ob er einem guten, alten Onkel seine dummen Streiche erzählt.

»Ich wußte genau, wie jeder einzelne genommen werden mußte. Den Damen erzählte ich von der Frau und dem Säugling, bis ihnen Tränen in die Augen kamen. Und die Briefe, die ich geschrieben habe! Gutsbesitzer Mogensen und Petrine Hansen antworteten umgehend. – mein Gott, wir sind ja alle nur Menschen, und wenn man selbst durch ein Wunder gerettet worden ist, soll man andere nicht unglücklich machen.

Zu Direktor Stammer aber, der von Gesetz und gutem Beispiel sprach, sagte ich: ›Wenn die Vorsehung mich dazu auserwählt, Sie zu retten, so ist damit nicht gemeint, daß statt Ihrer ein anderer gehängt werden soll‹.«

Johan Lind mußte lachen.

»Aber das Komitee.« fragte er. »die Allergrößten?«

»Der Finanzminister war zäh. Ihn gewann ich dadurch, daß ich sagte, der Name des Ministers könne nicht fehlen, wenn alle anderen guten Bürgersleute gezeichnet hätten. Uebelgesinnte Zeitungen könnten das ausnützen. – ›Unsinn‹, sagte er und lächelte. – ›aber enfin – Ihretwegen, Sie begnadeter Outsider!‹ – Hier steht sein Name.

Der Propst aber war die härteste Nuß. Das könne er nicht verantworten, sagte er. Der Mann war ehrlich, er glaubte wirklich, daß Eisenbahnunglücke ein allgemeiner Sport für Weichensteller werden würden, wenn die Liste zustande käme. Ich aber fragte ihn, ob der arme Mann noch nicht hart genug in seiner unsterblichen Seele getroffen sei, man könne doch nicht annehmen, daß es Gottes Wille wäre, den Armen mitsamt seiner Frau und seinen acht Kindern zu vernichten, nachdem er sich des Zuges erbarmt hatte – ebenso wie damals wegen der wenigen Gerechten über Sodom und Gomorrha. ›Lieber, junger Freund‹, sagte er, ›was wissen Sie von den Wegen der Vorsehung. Ihr Glaube aber rührt mich, und da Sie, der Sie als Werkzeug auserwählt wurden, für den Weichensteller bitten, so will ich nicht dawider sein‹. – Er zeichnete zwanzig Kronen – und bekam den Rest von den Zichorieaktien.«

»Haben Sie ihm auch von dem Philosophen erzählt?«

»Natürlich, und er sagte, es würde ihn interessieren, Sie kennen zu lernen.«

In dem Faltennetz zuckte ein Lächeln, dem Johan Lind nicht widerstehen konnte. Der junge Mann gefiel ihm, trotz seines überlegenen Umganges mit unergründlichen Dingen.

»Aber hören Sie mal, fast hätte ich das Wichtigste vergessen!« Massen beugte sich vor und faßte Johan Lind vertraulich am Rockkragen. Sie wissen doch, daß der alte Jakob krank ist?«

»Ich habe es heute morgen in der Zeitung gelesen. Er ist also nicht mit zur Konferenz gereist.«

»Nein!« Massens Augen weiteten sich.

»Was ist denn los?«

Massen zögerte einen Augenblick, meinte dann aber, daß er einem Philosophen anvertrauen konnte, wovon die ganze Börse sprach.

»Sie wissen wohl, daß Welten und Jakob seit vielen Jahren miteinander im Kampfe liegen. Nicht? – Es ist eine alte Streitsache zwischen ihnen und ihren Banken. Welten kann keine Juden leiden und hält sie nieder, wo er kann. – der alte Jakob aber hat trotzdem über ihn gesiegt. Man sagt, er habe erfahren, daß Glarby, der Sekretär der Fondsbörse, aus dem Archiv Papiere von Weltens alten Aktienemissionen besitzt, die nicht ans Tageslicht sollen. Nun wollte Jakob um jeden Preis mit zur Konferenz, es war eine Ehrensache für ihn. Welten aber hatte die Regierung auf seiner Seite. Was tut Jakob? Er kauft Glarby, der von Welten bei einer Beförderung übergangen worden ist, gewinnt ihn durch dreißigtausend Kronen in guten Papieren und indem er ihm das Amt eines Sekretärs beim Komitee verschafft. Welten aber bekommt einen Wink, er möge sich zurückziehen, falls er seine alten Papiere nicht in der Zeitung abgedruckt sehen will. Er konnte nichts anderes tun, als sich mit Grippe zu Bett zu legen.«

»Und jetzt liegt Jakob zu Bett?«

»Ja, wenn das nicht Nemesis ist!«

»Durch das Eisenbahnunglück hat er sich die Erkältung zugezogen?«

»Erkältung! – Er hat einen Nervenchok, wissen Sie das nicht?«

Massen sieht ihn mißbilligend an. Wo hat dieser Mann seine Augen? Na, er ist Philosoph.

»Er ist nicht wieder an der Börse gewesen, kommt nicht in die Bank, empfängt nur unschädliche Rangpersonen und Damen aus Wohltätigkeitsvereinen.«

»Warum?«

»Der Bank wegen. Sein Verstand ist nämlich nur in Geschäftssachen verwirrt, über andere Dinge spricht er ebenso vernünftig wie Sie und ich. Die Wohltätigen läßt man zu ihm, damit sie nachher erzählen können, Herr Etatsrat sei so frisch wie ein Fisch im Wasser, nur etwas müde.«

»Dann können wir auch seine Unterschrift bekommen. Es ist ja eine private Sache.«

»Sie vielleicht – ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil ich Geschäftsmann bin. Ich werde nicht empfangen, wenn mein Anliegen auch noch so privat ist. Sehen Sie, das wollte ich Ihnen schreiben: den alten Jakob müssen Sie auf Ihre Kappe nehmen.«

»Ich?«

»Ja – Sie – Philosoph. Keiner traut Ihnen Geschäftsinteressen zu.«

In Massens Maske spielte ein Schelm. Er wehrt sich dagegen, Johan Lind aber, der alte Karikaturenzeichner, der die Kehrseite der menschlichen Gesichter studiert hat, bis er schließlich nichts anderes mehr sah, merkt es und es belustigt ihn.

»Ich soll also den alten Jakob behandeln?« sagt er gutmütig.

»Ja!« Massen reibt sich die Hände und strahlt. »Ich bin riesig gespannt, was er Ihnen sagen wird.«

»Ich soll also auskundschaften, wie es eigentlich mit seinem Verstand steht?« sagt Johan Lind so vor sich hin.

Massen wirft ihm einen hastigen Blick zu; darauf bricht er in sein lautes Knabengelächter aus, beugt sich vor und legt seine Hand auf Johan Linds Schulter.

»Ja – ha – ja. so ist's gemeint!«

»Vielleicht könnte man ein gutes Börsengeschäft daraus machen?«

»Ha, ha – Philosoph, Sie kennen die Menschen!«

Johan Lind weiß nicht, ob er sich ärgern oder amüsieren soll; aber er kann dem Knabenlachen des andern nicht widerstehen, es ist aufrichtig und schlau zugleich.

»Wenn ich nun aber meine Weisheit für mich behalte?«

»Das werden Sie nicht tun –«

Massen wird plötzlich ernst. Er legt die Hand offen aufs Knie – jetzt macht er ein Angebot.

»Ich bin willig, mit Ihnen zu teilen, ohne Beitrag von Ihrer Seite, verstehen Sie? So viel Vertrauen habe ich zu Ihrem scharfen Blick. Wenn Sie glauben, daß der Alte sich erholt, dann haußen wir ihn; die Aktien der Bank stehen in 127, das ist furchtbar niedrig. Und wenn Sie glauben, daß er sich nicht erholt, dann baissen wir ihn. Sie werden sehen, wie der Kurs herunterrasselt, wenn der alte Jakob versagt.«

»Sie sind ein begnadeter Spieler,« sagt Johan Lind bewundernd.

»Schlagen Sie ein? Jeder ist seines Glückes Schmied.« sagt Massen und lacht übermütig.

Er hält seine Hand zum Einschlag bereit.

»Nein,« sagt Johan Lind ernst und erhebt sich zum Aufbruch. »Ich spekuliere nicht in Menschen.«

»Wozu sind Sie denn Philosoph, Mann?« sagt Massen eifrig.

Johan Lind sieht ihn verblüfft an. Einen Augenblick nur, dann muß er lachen. Er ist drauf und dran, die angebotene Hand zu nehmen, besinnt sich dann aber eines Besseren.

»Nein,« sagt er und schüttelt den Kopf, »ich bin kein Spieler. Sie aber sollen die Auskunft bekommen, und dann können Sie meinetwegen damit machen, was Sie wollen.«

»Ich danke Ihnen!« Es folgt ein Händedruck, herzlich und echt. – »Ich werde schon eine Gelegenheit finden, mich Ihnen erkenntlich zu zeigen.«

»Wenn der alte Jakob unterschrieben hat, haben wir dann alle beisammen? Es darf keiner fehlen, sonst meint der arme Weichensteller, daß er sich vor diesem am Tage des letzten Gerichtes verantworten muß.«

Massen sieht die Liste durch.

»Ja, alle die, die etwas bedeuten. Das heißt, es war noch ein vornehmer Russe dabei, dem der Graf einen Platz in seinem Automobil gab, außer der Baronesse und dem Propst, – sie sprach neulich von ihm. ›Mein Gott‹, sagte sie, das war Rasse! – Er hat im Hotel ›Phönix‹ gewohnt, ist aber abgereist, und niemand weiß, wohin. Gott hab' ihn selig.«

»Es ist kein Ernst in ihm,« dachte Johan Lind, als er auf die Straße kam.

Natürlich. Sonst hätte er nicht die Notbremse gezogen. Glück und Einfalt wandern zusammen.

Auch mein Los ward gezogen, aber nur, um einen armen Sklaven samt seiner Familie ins Unglück zu stürzen. Ich bat um Aufschub, vergaß aber nach dem Preis zu fragen. Ich, der Philosoph, wie Massen sagt. Glaubte ich, daß man etwas umsonst bekommt?

Mein Gott, was ist der Sinn des Ganzen?

Er bleibt stehen und starrt vor sich hin, während das Blut ihm zu Kopfe steigt.

Daß er es nicht lassen kann, über Unergründliches zu grübeln!


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