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»Abfahrt!«
Der Zug setzt sich kreischend und knarrend in Bewegung. Die beiden kurzhalsigen Lokomotiven des Süd-Expreß-Zuges stöhnen und zittern wie zwei kämpfende Stiere, die ihre Muskeln anspannen, bis der Dampf ihnen aus den Flanken sprüht.
Auf dem spärlich erleuchteten Bahnsteig, ganz bis ans Geleise, stehen die Abschiednehmenden.
Taschentücher winken, trocknen Augen und winken wieder. Die korrespondierenden Taschentücher in den Wagenfenstern werden kleiner und kleiner, dunkler und dunkler – jetzt hat die Nacht sie ganz verschlungen.
»Vielleicht sehe ich sie nie wieder.«
Nie wieder! Das ist ein Refrain, den Räder verstehen.
Er klingt schwer und eindringlich, als ob jemand sich mit letzter Kraft dagegen stemmt.
Schneller und schneller klingt es: Wir müssen fort! – Wir müssen fort!
Zuletzt ist es nur ein kurzatmiges: Fort! – Fort! Wie ein Sausen durchs Gemüt, Freimachung, halb Jubel über das Neue, halb Angst vor der Leere. Ein atemloses Hasten, fort von alten Fesseln, die zerrissen sind, neuen entgegen.
»Eine kostbare Ladung,« sagt der Schaffner zum Packmeister, der im Begriff steht, das Gepäck zu ordnen.
»Wer war denn die Gesellschaft, die so viel Aufsehen machte? Herren und Damen in Pelzen mit Dienerschaft und allem, was dazu gehört.«
»Das war eine Reisegesellschaft von Cook. Ich meine die anderen« – er zeigt auf einen langen Koffer aus schwerstem Leder mit Patentschloß und silbernem Schild. »Da – Finanzminister – und was sagen Sie zu diesem?« Er beugt sich über einen Koffer, der von langem Dienst grau und verbraucht ist. »J. A. Jakob – Etatsrat, Direktor der vereinigten Gewerbebanken – der alte Jakob!«
Der Packmeister läßt seine Hand ehrfurchtsvoll über das vornehme Ding gleiten.
»Wo der wohl hinreist?« fragt er.
»Mensch, haben Sie Ihre Zeitung denn nicht gelesen? – Das sind doch die Herren, die uns in Amsterdam vertreten sollen, sehen Sie her« – er zieht eine Zeitung aus seinem Uniformrock. »Heut abend reisen Etatsrat Jakob und Finanzminister Daa mit den übrigen Herren, die vom Reichstag und der außerordentlichen Kommission gewählt wurden, ins Ausland, um Dänemark bei der internationalen Valuta-Konferenz zu vertreten. Außer den genannten Herren, die Vorsitzender und Vizevorsitzender sind, gehören noch Assessor N. Jeriko und Minister Linngren zu der illustren Gesellschaft. Letzterer als Vertreter der Arbeiterklasse. Ferner ist der Gesellschaft Redakteur Avnsöe angeschlossen, der dem Komitee seine ausgezeichneten Verbindungen mit der Weltpresse zur Verfügung gestellt hat, und der Sekretär, der junge, begabte Referendar Glarby.«
»Na, und was weiter?« Der Packmeister rückt an seiner Brille und sieht seinen Kollegen herausfordernd an. »Glauben Sie, daß in Dänemark der Speck darum einen Oere billiger wird, Jensen?«
Der Schaffner zuckt die Achseln und begibt sich in die Wagen, um die Fahrkarten zu kontrollieren.
Auf den roten Plüschpolstern eines reservierten Abteils erster Klasse hat das Komitee es sich bequem gemacht.
Die Leselampen sind angezündet und die Deckenbeleuchtung ist gedämpft worden.
»Zieht es nicht, wo Sie sitzen, Herr Etatsrat?«
Der junge Glarby, der in der Tür steht, beugt sich respektvoll vor dem Haupt des Komitees.
»Nein, ich sitze sehr gut.«
»Nun sagen Sie mal,« beginnt der Redakteur mit seiner müden Stimme und neigt sich vertraulich seinem politischen Genossen zu: »Was hat Seine Majestät beim Abschied gesagt?«
Der Finanzminister streicht seine zarten, glatten Hände, die sein Stolz sind.
»Tja, was sagt man bei solcher Gelegenheit?«
Er blickt zu dem Etatsrat hinüber, der im Begriff ist, seine große, runde Brille mit dem roten Seidentuch zu putzen, das auf der Börse ebenso berühmt ist, wie seine lange, schmale Nase.
Bang hat recht gehabt – denkt der Finanzminister bei sich – als er neulich sagte: Etatsrat Jakob ist nicht klüger als wir andern, er hat nur immer verstanden, den Mund zu halten.
»›Glückliche Reise!‹ hat er gesagt,« bemerkt der alte Jakob trocken.
»Ha, ha, ha!« Der kleine, zierliche Assessor, der neben ihm sitzt, nickt mit seinem Vogelkopf und klopft dem Etatsrat beifällig den Arm.
»Sind Sie jetzt klüger geworden?« gluckst der Finanzminister und sieht seinen alten Pressekollegen, dessen kleine, stechende Augen blutunterlaufen sind, verständnisvoll an.
»Ja, ja,« sagt der Redakteur schlagfertig, »Börsenleute sind wegen ihrer Indiskretion bekannt.«
Der alte Jakob sagt gar nichts – er ist noch dabei, seine Nase zu putzen.
»Unterlassen Sie es nur nicht, mein Lieber, diese Neuigkeit Ihrer Zeitung zu telegraphieren« – der Assessor nickt dem Redakteur protegierend zu. Er kann nicht vergessen, daß der ›Tag‹ einst ihn, den höchsten Freimaurer des Landes, »Zierat auf der Pastete bei festlichen Gelegenheiten« genannt hat. Avnsöe aber ist ein Mann von unverkennbarer Bedeutung, und darum trägt Jeriko ihm nichts nach; er protegiert ihn sogar.
»Darf ich meine Quelle angeben, Herr Etatsrat.«
»Meinetwegen gern!«
Der alte Jakob lächelt nicht mehr als der Ernst der Lage es angebracht erscheinen läßt. An der Börse sagt man, daß man ihm das Diskonto von seinen schmalen Lippen ablesen kann; sie strammen und lockern sich im Takt mit dem Geldmarkt.
»Also schreiben wir: Aus allerzuverlässigster Quelle erfahren wir, daß Seine Majestät bei der Abschiedsaudienz geäußert haben soll: ›Glückliche Reise!‹«
Linngren, der Mann aus dem breiten Volk, mit dem weichen Filzhut und den groben Händen, die er gern zeigt, meint, daß die Zeit zu ernst, der Augenblick zu groß für unwesentlichen Scherz ist. Sie sind dazu erwählt, die Lebensbedingungen des Volkes zu verbessern, dafür erhalten sie ihr Gehalt. Minister Linngren hat sich vor kurzem ein Automobil angeschafft, das sozusagen noch mehr Ernst, noch mehr Verantwortungsgefühl von ihm erfordert. Zeitungswitze erscheinen ihm unangebracht.
»Wie geht es mit Ihrer Erkältung, Herr Etatsrat?« sagt er ernst und beugt sich zu dem alten Jakob hinüber, vor dem er große Hochachtung hegt. Er hat ein Konto bei ihm in der Bank, das er in letzter Zeit stark in Anspruch genommen hat – des Automobils wegen.
»Danke!« Die runden Brillengläser des alten Jakob blitzen dem Fragenden entgegen. Er ist immer reserviert, wenn man ihn nach seinem Befinden fragt; eine Angewohnheit aus früheren Tagen, als er noch um seinen Gesundheitszustand und dem der Bank in steter Sorge war.
»Ja, ja, es ist November,« sagt Jeriko und sieht Linngren beifällig an. Er versteht und billigt seinen Takt, um so mehr, als man ihn von einem Manne aus seiner Klasse kaum erwarten kann. Darauf hebt er seine Hände und versucht die ganze Gesellschaft zu umfassen, – es ist immer seine Stärke gewesen, das zu sagen, was alle vereinigen kann, – eine Gabe, die ihm in seinem langen Freimaurerleben von großem Nutzen gewesen ist.
»Und was für einen November haben wir gehabt,« sagt er, »mit Nebel und Regen.«
Und mit überflüssigem Gerede, fügt der Redakteur in Gedanken hinzu, während er ein Gähnen unterdrückt und sich tiefer in die Ecke drückt.
»Im November,« sagt der alte Jakob gewichtig, als spräche er im Namen seiner Bank, »im November habe ich meistens einen Schnupfen.«
Er sagt es wie eine wertvolle Neuigkeit. Die ganze Börse hat diesen Schnupfen seit einem Menschenalter gekannt und seinen Einfluß auf die Kurse gefürchtet.
»Darf ich um die Fahrkarten bitten?«
Der Schaffner steht auf dem Korridor hinter Herrn Glarby, die Hand an der Mütze.
Der Sekretär dreht sich schnell um.
»Hier,« sagt er hastig, als fürchte er eine Ungehörigkeit, und stellt sich vor die Tür, während er aus einer riesigen Brieftasche die Papiere nimmt, die dem hohen Komitee freie Fahrt sichert, denn für Land und Reich hängt ja so viel von dieser Reise ab – und für ihn seine ganze Karriere.
Der Schaffner geht zum nächsten Abteil. Ein Nichtraucher-Kupee. Die Tür ist geschlossen, weil die Baronesse entdeckt hat, daß trotz aller Verbote und Anschläge – mein Gott, in was für einer Zeit leben wir! – dennoch jemand im Gange raucht.
Sie sitzt gleich neben der Tür, weil es dort am wärmsten ist. Sie reist ihrer Gesundheit wegen nach dem Süden, ihr Arzt hat es nach der Influenza im Frühjahr verlangt.
»Nicht noch einen Winter wie den letzten! – Ach, er ist ein prächtiger Mann! – Mein Billett? – Gott, ich weiß wirklich nicht –«
»In der Handtasche, Baronesse,« sagt der Graf, während der Schaffner sich mit ehrerbietigem Lächeln dem Nächsten zuwendet.
Die Baronesse dreht ihren kleinen rundlichen, gepflegten Körper von der einen Seite zur anderen und untersucht sämtliche Taschen.
»Ich habe gesehen, daß Sie es in das Allerheiligste steckten,« sagt der Graf, dessen kleine ehrliche blaue Augen alles sehen; mit dem Allerheiligsten meint er die kleine Ledertasche mit dem goldenen Monogramm und der Krone in der einen Ecke.
»Ach ja – hier ist es!«
Sie zeigt es der Gesellschaft, damit man sich nicht länger beunruhigt.
»Ich wußte ja, daß ich es hatte. Mein Gott, was wären wir ohne Ordnung?«
»Jesses, ja!« sagt der Graf, indem er sein Billett vorzeigt. Er hat sich in letzter Zeit diesen Ausdruck zugelegt, weil er findet, daß er so volkstümlich klingt. »Vergiß nicht, Jette,« pflegt er zu Hause zu seiner Frau zu sagen – seine Frau ist Henriette getauft –, »daß wir heutzutage alle Demokraten sein sollen.«
»Gott behüte mich.« sagte sie, »ich verzichte darauf! Im Norden ist es schon schlimm genug, wie muß es erst im Süden sein, wo die Menschen solch heftiges Temperament haben, – da ist es sicher schrecklich in diesen bolschewistischen Zeiten. Ich erinnere mich noch an Neapel – das wundervolle Neapel – nichts als falsches Geld und Flöhe.« Sie schüttelt ihr klassisches Haupt, das von dem großen Besnard gemalt worden war. »Nein, danke mein Junge, ich bleibe zu Hause.«
Er sendet ihr und dem Gut und den Pferden und Hunden einen freundlichen Gedanken – es wird doch gut tun, mal herauszukommen, in diesen verfluchten Zeiten, wo man auf seinem eigenen ererbten Boden bis auf die Haut ausgesogen wird. Und außerdem die Verjüngung, – der Arzt hat gesagt, daß man dort unten in der herrlichen Luft ein neuer und besserer Mensch wird. Ach Gott, ja! – es sind die Jahre, vor denen man flieht.
An all' das muß er denken, während der Schaffner die Fahrkarten kontrolliert und die Baronin schwatzt.
Jetzt fällt sein Blick wieder auf den jungen, schwermütigen Russen, der ihm schon bei der Abfahrt aufgefallen ist.
Er steht draußen im Gang. Er ist es, der raucht. Vielleicht hat er das Verbot nicht gesehen. Was ist dabei – die gute Baronesse versteht die Zeit nicht. Er kann den schlanken, vornehm geschwungenen Rücken durch die Glastür sehen. Wie sein Anzug sitzt! – Mit vorgebeugtem Kopf starrt er in die Dunkelheit. Welche Rasse! – Der Graf hält ihn für einen Russen, – irgendeinen armen Fürsten, dem die Schurken alles bis auf das nackte Leben geraubt haben, und der jetzt mit den traurigen Ueberresten in die Armut und das feindliche Leben hinaus reist. Hoffnungslose Ergebung ins Schicksal, die feig und ohne Stolz gewesen wäre, wenn er nicht durch und durch solch edlen Eindruck gemacht hätte, von dem weichen Haaransatz des feinen weißen Nackens bis zu den langen, vornehmen Fingern, die kaum die Kraft zu haben scheinen, die Zigarette zu halten. So tief unglücklich und doch in sich selbst gefaßt.
Er ist überzeugt, daß er ein Russe ist. obgleich er ihn nicht sprechen gehört hat. Wahrscheinlich gehört er zur Reisegesellschaft, denn der Mann von Cook wies ihm seinen Platz im Nebenabteil an. Von ihm kann er näheres erfahren.
»Ich muß mal hinaus und mir die Hände waschen!« sagt Herr Hjort, der Großkaufmann, zu seinem Nachbarn, Kommandeur Töndern; sie kennen sich aus dem Jachtklub und sitzen sich zufällig im Abteil gegenüber.
Töndern war etwas eingenickt. Seit er diesen Sommer seinen Abschied bekommen hatte, ist etwas Schweres und Brütendes in seine milden Augen und über sein schmales Gesicht mit dem scharfen Profil gekommen.
Er blickt geistesabwesend auf; dann erfaßt er die Worte und zieht seine langen Beine zurück, damit Hjort vorbeikommen kann.
»Ha – ha –!« Hjort lacht herzlich, so recht was die Franzosen einen éclat-de-rire nennen. Er ist durch und durch französisch in seinem Wesen; man kann es an seiner Aussprache hören, die einen Duft von Paris hat. Frankreich hat auf seine Stirn geatmet – während des Krieges hat er den Orden der Ehrenlegion bekommen – oh la belle France!
»Ha – ha!« lacht er und legt seine Hände auf die Knie des Kommandeurs, während seine hervortretenden Augen die übrige Gesellschaft zum Beifall auffordern. »Lieber Herr Kommandeur, das war ja nur bildlich gemeint.« Er hebt seinen Kopf mit dem großen Vollbart und dem dichten Haarwuchs, sein Blick wird streng: »Ich muß hinaus und mir die Hände waschen! Damit meine ich, ich will fort von allem, was sich jetzt nach dem Kriege unangenehm hervordrängt. Was ist aus dem ehrlichen Handel geworden, frage ich – den mein Vater von seinem Vater lernte und ich wieder von ihm? – Was wird heutzutage von uns verlangt? – Ich sehe Ihnen an, Herr Kommandeur. Sie denken bei sich, ich sei auch nicht besser gewesen.«
Der Kommandeur schüttelt den Kopf, er ist sich dessen nicht bewußt; er hatte nur gedacht, daß er vergessen hat, seine Zeitung zu bestellen.
»Sie meinen, weil ich Mitglied dieser und jener Kommission bin. Ja, ja, ich habe hin und wieder versucht, Einfluß auf die Entwicklung der Dinge zu bekommen; war das nicht meine Pflicht? Wenn es aber kommt, wie es jetzt gekommen ist, daß die schlechtesten Instinkte des Erwerbslebens, allerdings unter dem Druck eines engherzigen und unverantwortlichen Steuersystems, daß – kurz gesagt, Sie verstehen –, dann zieht man sich zurück. Ich spiele nicht mehr mit, sage ich, man muß ohne mich fertig werden, andere müssen die Verantwortung übernehmen – Verantwortung, meine Herren. Ich gehe fort und wasche mir die Hände.«
»Hätten Sie das nicht zu Hause tun können,« wandte der Graf schüchtern ein, »ich meine, sich zurückziehen.«
Hjort dreht verwundert den Kopf; sind der Graf und er denn Bekannte? Natürlich kennt man sich, aber sind sie sich je vorgestellt worden? Doch wenn der Graf eine Anrede für passend hält, will er es auch nicht so genau nehmen.
» Bien sûr, Herr Graf, – die Leute aber würden fragen warum – was ist los? – Und man will die guten Leute doch nicht vor den Kopf stoßen – man ist Patriot, ein guter Bürger und so weiter. Wenn man dagegen sagt: Mein Arzt hat mir eine Erholungsreise verordnet! – das kann jeder verstehen und keiner hat Grund, sich zu wundern.«
»Gewiß, Sie haben recht,« stimmt der Kommandeur bei.
Er versteht ihn. Aus demselben Grunde reist ja auch er. Weder der Winter, noch seine Bronchitis, noch sonst etwas sind der Grund. Er kann es zu Hause nicht mehr aushalten. Er muß hinaus, um wieder frei zu atmen. Die Roheit des Denkens, die aus jeder Zeitung qualmt, das gereizte Parteigewäsch und der boshafte Klatsch! Und dann die himmelschreiende Gleichgültigkeit gegen alle öffentlichen Angelegenheiten. Wenn alles zum Teufel ging – seinetwegen mochte es zum Teufel gehen. Sogar die Priester waren drauf und dran zu sagen: Der ganze Kram soll in Gottes Namen zur Hölle fahren! – Nur über eines sind alle sich einig: beileibe nichts Gutes bei anderen, ein edles Ziel oder eine uninteressierte Arbeit für eine gute Sache anzuerkennen. Was hat er für Zeit und Geld für die Landeswehr geopfert – was hat er für die Jugendwehr getan! Und dann gab man ihm den Abschied! Mit der Anerkennung Seiner Majestät für lange und treue Dienste! Das Regierungsblatt aber erlaubte sich die höhnische Bemerkung, daß er nach seiner Verabschiedung dem Lande hoffentlich nicht mehr schaden würde.
Der Kommandeur nickt Hjort zu: er ist ein Prahlhans mit seinen französischen Floskeln, im Grunde aber wohl ein anständiger, gutmütiger Kerl. Sich die Hände waschen! Gar kein schlechter Ausdruck! Wahrscheinlich haben nicht viele von den Herren sich reine Hände bewahren können.
»Soll das heißen –?«
Der Kriegsgewinnler Ludwig N. Petersen, der in der entgegengesetzten Ecke sitzt und mit seinen großen, flachen Ohren und wachsamen Augen zugehört hat, mischt sich ins Gespräch. Wie jedes Kind weiß, war er vor dem Kriege ein kleiner Agent in Eisenwaren, – jetzt hat er sich ein Palais gekauft, in der vornehmsten Straße. Er handelt mit Maschinen, er selbst sagt, daß er eine Erfindung gemacht, auf die er ein Patent bekommen hat, – so daß also Geist und Wissen ihn reich gemacht haben. Einmal war er drauf und dran, mit dem Gericht in Konflikt zu geraten, aber er konnte sich reinwaschen, und von der Affäre war nichts an ihm haften geblieben. Jetzt ist er mehrfacher Millionär und eine bekannte Figur an der Börse.
»Soll das heißen –?« fragt Ludwig N. Petersen, der der Baronesse gegenübersitzt, die manche verstohlene Blicke auf seinen Pelz geworfen und ihn gern gefragt hätte, wieviel er gekostet hat. Wenn sie es doch tun würde! Nichts erzählt er lieber. Nicht, daß er es Leuten, die er zum erstenmal trifft, gleich ins Gesicht sagt: Wie, Sie kennen mich nicht? Ludwig N. Petersen! Ich bin zehnfacher Millionär; mein Pelz allein hat 50 000 Kronen gekostet, und ich hätte einen noch teureren gekauft, wenn einer da gewesen wäre – wenn man ihm aber bei einem guten Mittagessen gegenübersitzt, dann wird er es einem beim Kaffee anvertrauen.
»Soll das heißen –?« fragt er und dreht sein glattrasiertes, hübsch frisiertes Römergesicht, – denn er hat ein echtes römisches Profil, wie ein berühmter Maler, ein Professor ihm gesagt hat.
»Soll das heißen, daß Sie sich aus dem Geschäft zurückziehen?«
Hjort zögert einen Augenblick; er und Ludwig N. Petersen kennen sich kaum, so daß eine direkte Anrede eigentlich nicht schicklich ist. Aber der Mann hat ja keine Bildung, – wohl aber die vielen Millionen.
»Ja,« sagt Hjort und nickt bedeutungsvoll mit niedergeschlagenen Augen, »ich habe mich zurückgezogen.«
»Aktiengesellschaft?« fragt Petersen, indem er das eine Auge zukneift.
Hjort bekommt einen roten Kopf. Dieser Mensch ist doch wirklich zu ungeniert.
»Das alte, hochangesehene Geschäft, das sich durch drei Generationen vererbt hat, wird natürlich fortgeführt. Nur ich persönlich trete zurück. Meine beiden Neffen sind jetzt die alleinigen Inhaber.«
»Wenn nun aber ihre Neffen auch das Bedürfnis haben, sich die Hände zu waschen,« sagt Ludwig N. Petersen mit einem breiten Lächeln, »was wird dann aus dem alten Geschäft?«
Hjort antwortet nicht. Er lehnt sich aus dem Fenster und blickt in die Dunkelheit. Er ist nicht beleidigt, aber er fühlt mehr als je, wie tief das menschliche Niveau gesunken ist.
Der Graf und der Kommandeur wechseln Blicke. In dem Schnurrbart des Grafen zuckt es, der Kommandeur beugt sich herab, um ein Stäubchen von seinem Rock zu bürsten.
Der eingebildete Mensch mit seinem vermoderten Geschäft kann mir den Buckel herunterrutschen, denkt Ludwig N. Petersen und dreht sich in seiner Ecke um – es ist nicht seine Branche. Er kann ihn leicht in die Tasche stecken.
Der sechste im Abteil – denn alle Plätze des Nacht-Expreßzuges sind besetzt – ist ein großer, starker Mann, eigentlich etwas zu dick, um der sechste in einem Eisenbahnabteil zu sein, denkt die Baronesse, die ihn als Nachbarn hat. Mein Gott, wie ist der Mann von Fett beschwert, man kann jeden Atemzug hören. Er trägt einen mächtigen Brillantring am kleinen Finger, der von reinstem Wasser leuchtet, wenn er den Schweiß von seiner roten Stirn wischt. Keiner von den anderen kennt ihn, und doch kennt er alle, ausgenommen die Baronesse. Er ist der Besitzer von Ströms Restaurant; es gibt nicht viele Kopenhagener, die nicht schon bei ihm gegessen haben, und er hat ein ausgeprägtes Gedächtnis für Namen und Gesichter. Er reist jetzt nach Nizza, um sich Neues auf dem Gebiete der Küche und des Servierens anzueignen. Ein sehr tüchtiger Mann, der sich geltend macht, wo er kann, und auch jetzt die Gelegenheit nicht ungenützt vorübergehen lassen will. Er lächelt, wo es sich für einen Zuhörer zu lächeln geziemt; als aber Ludwig N. Petersen von der übrigen Gesellschaft an die Wand gedrückt worden ist, nur weil er ein einfacher Mann ist, der seine Meinung sagt, findet er es angebracht, sich ihm vorzustellen. Petersen ist oft mit Gästen bei ihm gewesen und hat immer vom Besten bestellt. Es wird ihm lieb sein, daß einer da ist, der ihn höher schätzt als die eingebildeten Herren, die sich erlauben, ihm über den Kopf zu sehen. Darum lüftet der Besitzer von Ströms Restaurant den Hut und neigt sich zur Ecke, wo Petersen sitzt.
»Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, Herr Direktor. Ich habe oft die Ehre Ihres Besuches gehabt, – Sie haben mir sogar einmal Ihre Anerkennung persönlich ausgesprochen –, aber dessen entsinnen Sie sich sicher nicht mehr, Herr Direktor. Mein Name ist Stammer. Ich bin der Besitzer von Ströms Restaurant.«
»Stammer? – Sie sind es! Wo hab' ich denn meine Augen gehabt!«
Petersen reicht ihm seine große, dicke Hand, eine Hand, die weich ist, aber festzuhalten versteht.
»Also Sie wollen sich auch lüften?«
»Ja. Wollen Sie auch nach Nizza, Herr Direktor?«
»Nach Nizza und Monte Carlo, einen Abstecher nach Afrika hinüber und so weiter, Sie wissen wohl. Na, und Sie wollen wohl den Franzosen einige neue Finessen abgucken, he?«
»Auch das –.« Stammer richtet seinen Rücken höher auf und gibt sich ein würdiges Aussehen. »Auch das! Das Fach bleibt natürlich immer das Hauptinteresse. Aber im übrigen« – seine runden Augen bekommen einen fernen Blick. Dieses »im übrigen« hat er gelernt und findet es interessant und vornehm. Dann können die Leute sich denken, was sie wollen.
Draußen auf dem Gang steht ein jung verheiratetes Paar. Er ist groß und dunkel, mit einem Profil wie ein Engländer auf einer Ansichtspostkarte. Sie ist klein und zart, aber stark und glücklich und stolz, – das Leben liegt so rosenrot hinter der Dunkelheit, die sie durchfahren. Sie sind auf der Hochzeitsreise, in Roskilde wollen sie übernachten, die erste Nacht. Sie drückt sich fest an ihn und schlingt ihre Finger in die seinen. Sie sehen sich um, gehen etwas weiter, wo keine Tür ist, und im nächsten Augenblick hängt sie an seinem Mund, die Arme um seinen Hals, bis eine Tür geöffnet wird; da fahren sie auseinander und sie nestelt an ihrem Haar.
Propst Sören Hansen hat die Tür geöffnet. Er will draußen auf dem Gang Luft schöpfen: im Abteil ist es so warm, und sein Gemüt ist beschwert. Er kommt aus der großen Stadt, die nicht wiederzuerkennen ist, diese Stadt, die einst so gemütlich und im Grunde so gut war, damals, als er noch jung – als er noch jünger war – und studierte. Was konnte man damals alles fürs Geld bekommen! Und wie harmlos und unschuldig waren die Vergnügungen! Jetzt ist alles Unmäßigkeit, Verderbtheit, – und dabei scheinen die jungen Menschen sich nicht einmal zu amüsieren.
Ach, wer nach Hause zum Pfarramt zurückkehren könnte! Ihm aber ist es nicht vergönnt, denn er hat dem Minister versprochen, zur Kirchenversammlung zu fahren und ein Wort für die bürgerliche Trauung einzulegen. Warum müssen Menschen immer an dem Bestehenden rütteln? – Warum ist das Alte nimmer gut genug? Wenn er es doch nicht versprochen hätte. Gewiß, der Minister hat recht, es ist besser für die Geistlichkeit, daß sie sich an die Spitze der Entwicklung stellt, die Gedanken der Zeit aufnimmt, als ganz den Einfluß auf ihre Gemeinde zu verlieren – und dennoch, dennoch tut er es nur schweren Herzens.
Wer singt da? Aus dem Nebenwagen ertönt Gesang. Der Schaffner hat die Verbindungstür zu dem nächsten Wagen der dritten Klasse aufstehen lassen.
Kräftige Männer- und Frauenstimmen und Musik dazu; es klingt wie Gitarrenspiel.
Es ist die Heilsarmee. Er erinnert sich, daß er bei der Abfahrt einen kleinen Trupp gesehen hat. Sie wollen wohl in irgendeiner kleinen Stadt Proselyten machen.
Lieber Gott, wie sie singen! Hübsche Stimmen, und so treuherzig. Recht wie gläubige Menschen.
Er lauscht und schließlich versteht er die Worte:
Auf zum Kampf, du Kriegerschar,
Männer Gideons!
Tausende sind in Gefahr,
O, Halleluja!
Was machen die Reisenden nebenan für einen Lärm?
Er blickt auf die Glastür, kann aber nichts sehen; die Gardinen sind vorgezogen.
Ein ganz ungehöriger Lärm zu dieser Zeit! Wenn man nun schlafen will!
Es ist der junge Massen, der an der Börse »Grimasse« genannt wird, wegen des Netzes von kleinen Fältchen. das er unter dem linken Auge hat und das sich, wenn er lächelt, zusammenzieht und ihm einen verwegen liebenswürdigen Ausdruck verleiht, der in seinem Geschäft Geld wert ist. Er ist Börsenmakler, Outsider. Weiß nie recht, ob er bankrott oder Millionär ist. Denn es geht so schnell, das Geld läuft beständig von dir zu mir und wieder zurück. Aber, wie er zu sagen pflegt, wenn man an der Börse spekuliert, kann man auch nicht in Philosophie machen; das ist zu viel für ein Gehirn. Wenn die Sache schief geht, fängt er wieder von vorn an, er ist ja erst vierundzwanzig Jahre alt.
Und vorläufig geht es gut. Er hat ein Auto und eine allerliebste Freundin, der er einen Landsitz gekauft hat, einen alten Bauernhof mit allem, was dazu gehört, wo sie im Sommer wohnen wollen. Man kann ihn von der Stadt mit dem Auto erreichen. Er liegt ganz in der Nähe der Bahnlinie. Ein kleiner Kreis von ausgesuchten Freunden folgt Massen überall.
Da ist der »grüne Heinrich«, so genannt, weil er immer einen grünen Hut, grünen Schlips, grüne Handschuhe und grüne Strümpfe trägt. Er hat einen reichen Vater und hat geschworen, daß er den Alten dazu bringen will, etwas an Massen zu wagen.
Und da ist das »Kind« – ein kleiner, immer lächelnder Mensch, mit unglaublich winzigen Händen und Füßen; er hat ein paarmal versucht, das juristische Examen zu machen, und Massen hat ihn bereits als Syndikus engagiert, wenn er nicht bankrott ist. bevor das »Kind« sein Examen gemacht hat.
Betty – Massens Freundin – rekelt sich in einer Ecke und knabbert Konfekt: ihr Hut liegt im Netz, das reiche blonde Haar ist ihr über die Ohren geglitten.
Sie beneidet Kamilla, die in Heinrichs Armen liegt und vor Vergnügen über das, was er ihr ins Ohr flüstert, quietscht, während sie mit den Beinen auf und nieder wippt und ihre hübschen Gelenke in dem dünnen Seidenstrumpf zeigt.
Die Gelenke sind es, um die Betty sie beneidet, denn sie weiß wohl, daß ihre eigenen das wenigst Hübsche an ihr sind.
»Ich langweile mich so schrecklich,« gähnt sie und zupft Massen am Rock; er steht am offenen Fenster und blickt hinaus.
»Du, Adolf, wie bist du eigentlich auf die verrückte Idee gekommen, in Roskilde zu Abend zu essen? Das macht doch gar keinen Spaß.«
Adolf hört nicht, er hat seinen Kopf weit zum Fenster hinausgesteckt.
»Wir wollen morgen in der Domkirche zur Frühmesse gehen.« sagt das »Kind«.
»Du bist verrückt!« Betty zielt nach seinem Kneifer mit einem Praline. Er ergreift ihn im Fluge und wirft ihr statt dessen seinen Hut zu.
»Es wird wohl eher die Abendmesse werden,« sagt Kamilla in ihrer lauschigen Ecke und schmiegt sich fester an Heinrich.
»Adolf!« ruft Betty und richtet sich halb auf. so daß sie seinen Rücken ergreifen kann.
»Hallo, Adolf!«
Massen dreht den Kopf zu ihr um.
»Wonach siehst du dir denn die Augen aus dem Kopf, Adolf?«
Adolf macht eine große Armbewegung. »Man verehrt der Dame ein Rittergut, und sie ahnt nicht einmal, daß es hier in der Nähe liegt. Komm mal her, Kind, laß es dir zeigen.«
»Is' nicht möglich!« Betty stürzt an Adolfs Seite und reckt den Hals in die Dunkelheit hinaus.
»Da drüben! Die erleuchteten Fenster dort, hinter dem Garten – das ist unser Gut.«
»Gott, Adolf! – Kamilla, schnell!« Sie winkt nach rückwärts mit dem Fuß. »Sieh nur! – Aber wer brennt denn Licht?«
»Der Verwalter – für den Fall, daß die Herrschaft unerwartet zu Besuch kommen sollte.«
»Du« – sie drückt sich an ihn, die Arme um seinen Rücken –, »es hätte viel mehr Spaß gemacht, wenn wir auf unserem Gut übernachtet hätten und erst morgen nach Roskilde gefahren wären.«
»Du hast ja Erichsen« – dies ist der Chauffeur – »Urlaub gegeben. Sonst brauchten wir nicht mit dieser langweiligen Eisenbahn zu fahren.«
»Zu dumm!«
Für Massen aber ist nichts unmöglich. Hindernisse sind nur dazu da, um mit Geld überwunden zu werden. Deswegen ist er bei seinen Freunden berühmt, und Ruhm ist süß.
»Kinder,« ruft er, »wollen wir hier aussteigen?« Sein Körper spannt sich wie eine Feder.
Das »Kind« sieht ihn dumm an. Der »grüne Heinrich« aber versteht ihn sofort. Er springt auf.
Die Mädchen hüpfen vor Spannung, sie sehen an Massens Herrscherblick, daß etwas Ungewöhnliches im Anzug ist.
Mit einer Bewegung, als nehme er den Hörer von seinem Telephon, zieht er die Notbremse.
Alle stehen abwartend. Selbst Adolf hält den Atem an vor Spannung. In wenigen Minuten muß der Zug mit dem hohen Komitee, mit all den großen Herren und Cooks' eingebildeter Reisegesellschaft und der ganzen übrigen Bürgerschaft halten! Und er, Adolf Massen, hat die Maschinerie zum Stehen gebracht.
»Sucht Euer Gepäck zusammen, Kinder,« sagt er und blickt sich um wie Nelson, als erwarte er, daß jeder seine Pflicht tue.
Jetzt kann man deutlich hören, wie aus voller Kraft gebremst wird. Es gibt einen Ruck! Die Fahrt läßt nach. Gleich werden Rufe von Wagen zu Wagen ertönen und ein verstörter Schaffner wird von Tür zu Tür laufen: Ist es hier? – Ist es hier?
Und all' die erschrockenen Gesichter und all' die Flüche, die hinter Adolf Massen und seiner Gesellschaft herklingen, wenn sie mitten aus dem Felde aussteigen werden, nachdem sie bezahlt haben, was es kostet.
Seine Hand greift unwillkürlich nach der Brieftasche. Er lächelt wie ein Sieger und ärgert sich, daß sein Herz doch etwas schneller schlägt, – aber die Situation ist neu und reizvoll.
Wie Betty ihn in diesem Augenblick liebt – gibt es noch einen zweiten wie ihren Adolf?
Jetzt haben es alle gemerkt. Das furchtbare Bremsen, das an den Wagen rüttelt, hat die Reisenden unruhig gemacht. Türen werden aufgeschoben, Passagiere kommen auf den Gang hinaus. Fenster werden klirrend niedergelassen.
Es ist, als ob eine schwere Hand sich auf einen Ameisenhaufen legt.
Die Fahrt wird immer langsamer – der Zug ist drauf und dran, stillzustehen.
Da –
Ein Krachen. – ein Stoß, alles wird durcheinandergeworfen.
Der Zug bebt in Krampfzügen, als schwanke er auf den Schienen und weiß nicht, nach welcher Seite er fallen soll – schließlich aber faßt er sich und bleibt stehen.
Nach dem Getöse, dem Stoß, dem Krampf, dem Geschrei, eine plötzliche Stille – eine Sekunde, von Zeit und Verhältnissen losgerissen, aus der Tiefe einer Ewigkeit.
Die Majestät wirft die Sense über die Schulter und reitet weiter durch die Nacht, auf ihrem knochigen Pferd.