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Zehntes Kapitel.
Des Alpenhirten weitere Erlebnisse und sein großer Entschluß.

Die Jahreszeit hat in dem stillen Bergwinkel, wo Heinrich Findelkind lebte, seit seiner ersten Almfahrt bereits zu mehreren Malen ihren Reihentanz gehalten, jenen so mannigfaltigen Tanz, der mit linden, sanften Lüften über die starre Erde schwebt, und die jungen Halme und Blätter anhaucht; jenen Tanz von strömendem Regen, durch welchen die Windsbraut pfeift und saust, daß die Aeste der Bäume knarren und krachen; jenen Tanz von Sonnenstrahlen; jenen wilden Tanz, welcher die Blätter wirbelnd zur Erde dreht; jenen Tanz der Schneeflocken, welcher die Klüfte überdeckt mit einem großen Leichentuche.

Heinrich hatte wacker gegen jeden Wechsel der Jahreszeit gekämpft und war emporgewachsen, wie die Tannen, ein mutiger, frischer Sohn der Berge.

Es ist wieder Winter; schneidend kalt weht die Luft, der Hauch dampft vom Munde und gefriert, die Tritte knarren im gefrorenen Schnee, der Wassertropfen hängt gefroren am Baume; die kleinen Tannen sind gleich überzuckerten Weihnachts-Bäumen, und glitzernd hängt das gefrorene Eis hernieder; überall blinkende Eisgebilde, Spitzen und Zacken wie scharfe Speere, überall blendendes Weiß, als ob die Farbe von der Erde verschwunden sei. Es ist, als ob Heinrich eine Sonne in sich trage; den friert's nicht, der arbeitet und regt sich in Hof, Scheune und Stall voll Munterkeit, und wenn er zur Abendruh' in die Stube tritt, ist er Mutter Martha's treuer Knappe, bis alles fertig ist, und man am Tische erst merkt, wie der sprühende Ofen doch ein guter Geselle genannt werden muß. Heinrich hat längst das Kindesrecht im Haus gewonnen, und wenn Knechte und Mägde zur Ruhe gegangen sind, sitzt er noch bei Jacklein und Martha. Da sucht er in Plaudern und Aufhorchen hereinzubringen, was er von der sommerlichen Einsamkeit in seiner Bergwelt nachzuholen hat. Jacklein weiß immer neues zu berichten aus seiner Jugendzeit und dem Kriegsleben als Dienstmann eines Ritters. Heinrich horcht unverwandten Blickes, bis plötzlich Neger unruhig zur Thüre läuft und winselt. Jetzt zieht Jacklein nicht mehr allein zur Hilfe aus; Heinrich ist sein treuer Begleiter. Oftmals des Tages und mitten in der Nacht brachten sie einen verirrten, halberstarrten Wanderer herbei und wieder gab es der Neuigkeiten und Berichte viele.

Allsonntäglich schreitet Heinrich als Jackleins Schwertträger mit diesem zur Kirche nach Dalaas. Der Pfarrer hat bald die aufmerksamen Augen des Jünglings entdeckt und die Bekanntschaft mit demselben geschlossen. Jacklein und Heinrich wärmen sich nach dem Gottesdienste bei ihm; nun kommt Heinrichs kleines Stückwerk der Lesekunst zum Vorschein, und der Pfarrer vervollständigt es. Aber auf diesen kalten Wanderungen steigen allerlei Gedanken auf in seinem Geiste. Der silberblinkende Schein macht ihm besonders zu denken. Bild an Bild steigt vor seinem Geistesauge empor, wo dieser Schnee die warme Lebenskraft des Menschen erstarren machte und ihm zum Leichentuche wurde; wo dieser Schnee zerschmolz, schmutzig und braun, und darunter nun der tote Mann zum Vorscheine kam. Er dachte an dessen Todesstunde voll Angst und Verzweiflung, wie er kämpfte, um Hilfe schrie und niemand ihn hörte, als die starren Berge, an denen sein Ruf zurückprallte; wie er tiefer und tiefer sank, wie seine Kraft erlahmte, wie er in Verzweiflung kein Gebet mehr fand zu Gottes Barmherzigkeit für seine arme Seele, und wie es dann endlich aus war mit dem letzten Kampfe.

So dachte Heinrich, er schauderte und sah auf den pfadlosen Weg, den sie über den Arlberg schritten. Das war seine neue ihm so liebgewordene Heimat, und es schnitt ihm wie ein Messer durch die Seele, daß diese Heimat, welche ihn so rettend aufnahm, als er mit wunden Füßen und zerrissenen Kleidern daher kam, doch so vielen anderen Gefahren und sogar Untergang brachte. Als er an diesem Tage in der warmen Stube saß, horchte er auf jeden fernen Ton; er sah immer wieder auf Neger, ob er die Ohren spitze; er war jeden Augenblick bereit, dem Hunde zu folgen zur Rettung eines Verunglückten; aber heute horchte er vergebens.

Ja, das war ein grimmiger und strenger Winter, wie keiner zuvor. Er wollte gar kein Ende nehmen und kam stets von neuem. Zu dieser Zeit wagte es nur selten ein Wanderer, über den Berg zu steigen. Nun endlich schien es doch etwas milder zu werden, und häufiger sah man wieder Wanderer daherkommen, die bei Jacklein einkehrten und Bericht holten, wie es weiter hin gen Innsbruck zu mit dem Wege stehe.

Eines Tages schritt munter und rüstigen Trittes der Wirt von Dalaas die schneeige Straße herauf; er hielt kurze Rast bei Jacklein, um sich ein wenig zu erwärmen und nach dem Wege zu fragen. Für den war nicht zu bangen; er trug warme Kleidung und kannte den Arlberg so genau wie Jacklein selber. Als er wieder mit frischem Reisemute aufbrach, um noch bei guter Zeit St. Martin zu erreichen, klang ihm ein heiterer Reisegruß nach, und bald war der Mann ihren Blicken entschwunden.

Kaum seit einer halben Stunde mochte derselbe das Haus verlassen haben, als ein donnerähnliches Getöse erscholl, wovon die Berge widerhallten und die Fenster klirrten. Alle fuhren erschrocken auf und riefen gleichzeitig: »Eine Lawine!« Jacklein rief: »Gott sei dem Wirt von Dalaas gnädig!«

Heinrich war augenblicklich hinausgeeilt. Seine Ortskenntnis in der ihn umgebenden Bergwelt, sein geübtes Ohr und seine geistige Vorstellung der ganzen Szenerie hatten bereits entdeckt, von wo die Schneemasse niedergestürzt sein müsse. Er maß die Entfernung und verglich sie mit der hingeschwundenen Zeit, während der Reisende unter Weges war. Nein, er konnte kaum diese Stelle überschritten haben; vielleicht lag er, von Schrecken betäubt, in ihrer Nähe; vielleicht war er noch glücklich bewahrt geblieben; vielleicht – ein Grausen überkam ihn. Er rief alle Knechte und Mägde zusammen; der Schrecken hatte sie bereits versammelt, und augenblicklich waren sie mit Hacke und Schaufel versehen. Es geschah so schnell, daß Jacklein, als er herauseilte, schon den Zug in Bewegung sah und sich ihm anschloß. Aus der Ferne rollte es immer noch in Pausen; neue Schichten stürzten hernieder, und endlich ward es stille. Heinrich befand sich an der Spitze der Schar; er sprang weiter und weiter, gehetzt von unsäglicher Angst, als ob die Lawine ihm auf dem Fuße folge; ihm nach die anderen in gleicher Angst, mit dem gleichen Gedanken. Dort, dort steht die Felsenwand. Ein Blick auf sie – die ganze Masse ihres Schneeturmes ist verschwunden! Dort, dort liegt die Lawine, ein schauerlicher Schneeberg, der den Pfad versperrt; weit und breit die auseinander geschleuderte Masse!

Sie hatten die Strecke in weniger als der Hälfte der sonst hierzu nötigen Zeit zurückgelegt; sie schritten über den weit hinweggeschleuderten Schnee und arbeiteten sich durch, obwohl er von Schritt zu Schritt anwuchs und bis über die Kniee reichte. So waren sie mühsam bis zum eigentlichen Lawinensturze vorgedrungen.

»Laßt uns den Weg räumen!« rief Heinrich und alle griffen unter dem gleichen Schreckensgefühle an. Sie hatten eine heiße Arbeit, trotz der schneidenden Kälte, um nur über die obere Masse Herr zu werden. Der Schnee flog von den Schaufeln auf die Seite und bildete bald neue Wände. Sie gruben nicht rechts und nicht links, nur immer mitten auf dem Wege. Es galt rasche Hilfe, oder keine. Der Sturz war so plötzlich gekommen, daß der Wanderer kaum an ein Ausweichen hatte denken können. Immer tiefer, immer weiter vorwärts schritt die Arbeit. Da flog von Heinrichs Schaufel etwas Dunkles. Ein Schreckenslaut entfuhr jedem Munde. Alle hielten inne. Ja, es war des Verunglückten Hut, und nun ging es vorsichtig weiter in tödlicher Angst, als ob sie selbst in grauser Lebensgefahr schwebten. Jetzt kämen sie auf eine feste Masse, jetzt zogen die kräftigen Männerarme sie heraus – eine verschüttete Leiche!

Ja, das war ein Grab, die schöne, weiße, glitzernde Decke. Das war derselbe Mann, der noch vor kurzem mit frohen Lebenshoffnungen dahingewandert war, der ihnen erzählt hatte von Weib und Kindern daheim. Das war der kurz zuvor so kräftige, lebenswarme Mann, den sie nun bewegungslos und kalt aus dem Schutte trugen, rieben und zu erwärmen suchten. Vergebens! die Wärme war nur in ihren eigenen Händen und teilte sich dem erstarrten Körper nicht mit. Der Schnee hatte ihn erdrückt und erstickt; das Leben war für immer entflohen. Sie bildeten aus ihren Werkzeugen eine Tragbahre und der Totenzug bewegte sich feierlich zur Meierei. Innerlich aber klang es in Heinrichs Herzen:

Mitten im Leben
Sind wir vom Tod umgeben.

Noch am selben Abende ging Jacklein gebeugten Hauptes nach Dalaas. Er hatte nicht den Mut, auf des Verunglückten Haus zuzuschreiten, sondern zeigte den Vorfall dem Pfarrer an; dann schritt er wieder ebenso gebeugt zurück.

In derselben Nacht hielt Heinrich seine erste Totenwache. Als das bleiche Oellicht die starren Züge beleuchtete und sie noch grausenvoller machte, als er in denselben den Schrecken eingefroren und festgebannt sah: da stieg ein Gedanke in ihm auf und der Gedanke nahm immer deutlichere Gestalt an; er formte sich, er wurde zum Entschlusse, ja, er stand bereits vor ihm als – That.

Am anderen Morgen erschien der Priester; er führte das gebeugte Weib und ihr folgten sechs Kinder. Da sah Heinrich nicht nur den Jammer des Todes, er sah auch noch dazu den Jammer des Lebens. Der Tote zeigte zwar die starren Schreckenszüge, aber darunter schlug kein Herz, welches den Schrecken empfand. Die Lebenden in ihren wechselnden Mienen, in ihrem Aechzen und Weinen fühlten jedoch dies alles leibhaftig, fühlten es fort und fort, und trugen die grausenhafte Erinnerung, die Entbehrung und Leere bis ans Ende des eigenen Lebens. Bei diesem Anblicke gelobte Heinrich in der Stille aufs neue, was er bei seiner Totenwache gelobt hatte.

Der Verunglückte wurde nach Dalaas gebracht und dort begraben. Am anderen Tage arbeitete Jacklein mit seinem Gesinde und den herbeikommenden Leuten des Ortes an der Herstellung des verschütteten Weges. Als Heinrich nach vollbrachter Arbeit neben Jacklein saß und Martha stärkende Speisen auftrug, fuhr er aus seinen Gedanken empor und sagte: »Meister, ich kann nicht essen und nicht trinken, bis ich's gesagt hab'.«

Jacklein blickte verwundert auf Heinrich, legte den Löffel weg und erwiderte: »Was ist das? sag's!«

»Ich hab' Euch die Ersparnis von meinem Lohn zum Aufheben gegeben, all die Jahre über; wieviel ist's nun?«

Jacklein überlegte und überzählte. »Zehn Jahr sind's gewesen im letzten Herbst! Fünfzehn Gulden werden's allweg sein, denk' ich halt.«

Heinrich sprach weiter: »Wollt Ihr sie mir auszahlen, Meister?«

Aufs neue verwundert, sah ihn der Meier eine Weile an und sagte: »Aber zu was brauchst's?«

Da leuchteten Heinrichs Augen nicht anders, als ob die Sonne durch den blauen Aether schiene, und er rief: » Ich will die fünfzehn Gulden hergeben, damit jemand einen Anfang macht, auf daß die Leut' auf dem Arlberg nicht also verderben, wie ich die Zeit über gesehen hab'

Nun aber waren die hellen Augen wieder von Mitleid und Traurigkeit umflort, während Jacklein schweigend vor sich hin sah; dann schüttelte letzterer bedächtig den Kopf und sagte: »Das thut's nicht, Heinrich! Wer möcht' den Anfang machen mit fünfzehn Gulden! Das reicht nicht! Aber jetzt iß und trink: gesagt hast's und später überlegen wir's!«

Heinrich schwieg, aß und trank; doch er dachte dabei immer: » Man soll einen Anfang machen mit den fünfzehn Gulden, daß die Leut' nicht so grausam verderben; ich kann's nimmer mit ansehen

Am anderen Tag sagte Heinrich wieder zu Jacklein: »Gebt mir die fünfzehn Gulden; ich frag' den Pfarrer, wer damit den Anfang machen will, vielleicht weiß er jemand.«

Jacklein entgegnete wieder: »Es langt nicht!« Aber er gab ihm das Geld und die Erlaubnis, zum Pfarrer zu gehen.

Der Priester hörte den Jüngling, der seine Anfrage und Bitte mit bewegtem Herzen vortrug; aber auch er schüttelte den Kopf und setzte ihm auseinander, wie das nicht reiche für ein Jahr, um so weniger für mehrere, und daß sich niemand finden werde, um den Anfang zu machen. Er schloß mit den Worten: »Aber ich will's kundgeben weit und breit; frag' wieder an in einiger Zeit!«

Heinrich ging enttäuscht und traurig von dannen. Der Gedanke verließ ihn keinen Augenblick, nicht bei Tag und nicht bei Nacht. Zwischen seine Gedanken drängten sich all die grausenhaften Bilder, die er schon gesehen hatte in all den vielen Jahren: wie man, als der Schnee schmolz, arme, verunglückte Menschen aufgefunden, denen die Vögel die Augen ausgefressen hatten, und das starre Gesicht bei seiner Totenwache mahnte ihn an sein Gelöbnis.

Als Heinrich nach einigen Wochen wieder zum Pfarrer kam, gab ihm dieser das Geld zurück und sagte, daß niemand damit einen Anfang machen wolle.

» Nun, so mach' ich ihn selber mit Hilfe des allmächtigen Gottes und dem Beistande Sankt Christophs, der mir ein großer Nothelfer gewesen ist!« rief nun Heinrich mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen, indem er seine kräftige Gestalt erhob.

Der Pfarrer blickte bewundernd auf den kühnen, frommen Jüngling; er legte seine Hand auf dessen Haupt; seine Lippen bewegten sich leise: es war ein Gebet des Segens. Als Heinrich zu Jacklein zurückkam, stellte er sich freudig vor denselben. Alle seine Kräfte schienen verstärkt zu sein, und der Lebensmut gleich einem raschen Borne in ihm zu fließen. Dann sprach er: » Meister, es will niemand einen Anfang anheben; so will ich's selber thun und Gott und St. Christoph werden mir helfen. Gebt mir fürder Obdach, Nahrung und Kleidung. Dafür will ich Euch ohne Lohn den Sommer über treulich dienen, wie bisher. Im Winter aber laßt mich mit Neger ausgehen und spüren, wo Hilfe Not thut, daß niemand mehr umkommt in heimlichem Elend.«

Jacklein sah in Heinrichs Gesicht; das leuchtete wie verklärt, und ihm selber war ganz wunderbar zu Mut. Er legte sogleich seine feste Hand in Heinrichs ausgestreckte Rechte und sagte: »So sei 's! Gott und St. Christoph mögen dir helfen!«

»Amen!« betete Heinrich.

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