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Sechstes Kapitel.
Der kleine Pilger kommt zu zwei großen.

Wohin? – Heinrich hatte sich diese Frage noch nicht einen Augenblick lang vorgelegt. Wie er aus der Heimat ohne Ueberlegung, sondern nur im liebenden Drange seines Herzens, um den teuren Eltern eine Last abzunehmen, geschieden war, und wie das kindliche Gottvertrauen ihn weiter zog: so ging er auch jetzt seine Wege; er hatte genug zu thun, das pochende Herz über die Trennung zu besänftigen. Aber die tapfere Selbstüberwindung, mit welcher er seinen Liebling von sich gejagt hatte, obwohl er ihm ein tröstender und erheiternder Gefährte gewesen wäre, stärkte und stählte ihn, und je kräftiger er den Boden stampfte, desto mehr wuchs sein Mut. Als er an einem Gesträuche vorüberkam, brach er sich einen Wanderstab, hing sein Bündel daran und versuchte ein Liedlein zu pfeifen. Ohne daß er es merkte, verstummte er jedoch und war mit allen Gedanken in der Meierei. Er sah Schnuffl zu Jakob zurückkehren, vor demselben aufwarten und ihm dabei seine letzten Grüße bringen. Er sah Jakob mit der Herde ganz traurig ausziehen, hörte dessen Peitsche knallen, aber sie hatte keinen lustigen Ton; er sah Annaliese in der Küche hantieren, hörte die hölzernen Teller klappern; er sah den Vater im Felde, die Mutter im Stalle, jedes an seiner Arbeit; er sah dabei Baum und Strauch, jede Oertlichkeit in ihren einzelnen Gegenständen; alles, alles sah er, als ob er mitten darunter wäre.

Heinrich schaute in seinen Gedanken zum Himmel empor, und da zog plötzlich ein strafendes Gefühl durch seine Brust. Heute hatte er noch gar nicht gebetet. Sogleich nahm er sein Hütlein ab – blickte um sich – ja, er war mutterseelenallein. Nun faltete er seine Hände um den Hut, kniete nieder und sprach: »Lieber Gott! ich, Heinrich Findelkind, bin wieder allein, wie dazumal unter dem Baum. Aber nun kann ich selber gehen und mit den Händen arbeiten. Hilf Du mir jetzt weiter und führ' mich zu guten Leuten, wo ich Aufnahme und Arbeit finde. Wenn's recht weit ist, so geh' immer mit mir, lieber Gott, oder schick' mir, weil ich noch so klein bin, einen guten Geleitsmann, damit ich mich nicht verirre, keine bösen Menschen und keine wilden Tiere mir was thun und ich nicht verhungere. Behüte sie alle daheim, daß es ihnen wieder gut geht, und vergilt ihnen tausendmal, was sie an mir, Heinrich Findelkind, gethan haben. Amen.«

Nun stand er auf und wanderte viel mutiger und frischer weiter manche Stunde lang auf der Straße gen Lindau.

Er mochte bereits mehrere Stunden gewandert sein und war an manchem einsamen Gehöfte vorbeigekommen. So oft er auch dabei anhielt und sich fragte: gehst hinein? suchst eine Unterkunft? verneinte es eine innerliche Stimme und trieb ihn gewaltsam fort. Nun befand er sich auf einem ganz freien Felde; weit und breit kein Mensch, kein Haus. Er spähte umher, und sein Auge erforschte einen großen Eichbaum. Da schlug sein Herz freudig und heimatlich. Sogleich stand vor seinem Geiste die Meierei von Kempten. Da eilte er zum Baum, legte sein Bündelein ab und sich daneben ins Gras, wobei er die zusammengebundenen Zipfel des Tuches löste und seinen Vorrat ausbreitete. O, was hatte die gute, vorsorgende Mutter doch alles hineingethan! Brot, Käse, gedörrte Pflaumen, Aepfel- und Birnschnitze – lauter Festtagsspeisen.

»Jetzt stehen sie daheim um den Tisch und beten,« flüsterte Heinrich.

Sogleich stand er auf, faltete die Hände und betete laut und deutlich genau so, wie er daheim gethan hatte. Dann setzte er sich nieder, brach ein Stück Brot und Käse ab und aß mit tüchtigem Hunger sein Mittagsmahl. Mit gewohnter Sparsamkeit beschränkte er sich jedoch; aber einen einzigen Apfelschnitz konnte er sich nicht versagen. Dann packte er wieder alles zusammen und betete wieder wie daheim.

»Jetzt gehen sie an die Arbeit.« – Arbeit? Er hatte keine; seine »Lämmerherde« am blauen Himmel war leicht zu hüten, sie schien auf ihn zu warten. Lange sah er sie an; bald zerrannen auch sie, und er war tief und fest eingeschlafen.

Als Heinrich erwachte, fuhr er ganz erschrocken empor. Ihm war's, als hätte er morgens daheim verschlafen und der Vater werde nun schelten. Er sah staunend um sich, besann sich und wußte nun alles. Nein, es war nicht mehr so sonnenklar, wie bei seinem Einschlafen. Die vorangegangene Traurigkeit und die nachherige Ermüdung hatten den Schlaf so fest und lang gemacht, daß sich der Tag bereits zum Ende neigte. Nun raffte er sein Bündelein zusammen und ging weiter. Aber die kleinen Füße waren wie Blei, er dachte jetzt zum ersten Male an die Nacht und wo er sie verbringen würde. So oft er ein Gehöfte sah, blieb er zögernd stehen; wenn er sich jedoch demselben näherte, scheuchte ihn entweder ein böser Hund weiter, oder eines der Leute war ebenso ganz anders, wie daheim, daß er schnell vorüberschritt, während es ihm das Wasser in die Augen trieb.

Endlich wurde es ganz Nacht; doch der Mond ging feurig auf in einer großen Scheibe. Der war ihm wie ein guter Bekannter von daheim, und die beiden schritten miteinander weiter. Bald waren sie die einzigen in der Gegend, welche noch wachten, alle Fenster der Gehöfte starrten dunkel in die Nacht hinaus. Heinrich fürchtete sich nicht, nur fühlte er eine große Ermattung. Als der Mond ihm wieder ein Haus zeigte, ging er mit sich zu Rate, was er thun solle. Auch dort war bereits alles zur Ruhe gegangen; es war so still, daß ihm vorkam, als ob man die Schläfer atmen höre. Nun zeigte ihm der Mond einen Haufen Stroh; dieser sah beinahe wie ein Berg aus. Sein Herz schlug vor Freude. Wie oft hatten Jakob und er sich in eine solche Festung versteckt und gewünscht, eine Nacht daselbst zu verbringen, erst in einer so schönen, mondhellen Nacht! Leise schlich er zum Strohhaufen, nichts regte sich. Nun machte er sich einen Schlupfwinkel und dazu noch einen recht warmen. Da lag er nun und war in der allerkürzesten Zeit eingeschlafen.

Bei Tagesanbruch erwachte er. Das hatte gut gethan und ihn ganz frisch gemacht. Nun aber trieb's ihn fort. Er fürchtete, einen Menschen des Gehöftes zu sehen, und hier bleiben zu müssen. So nah', nur wenige Stunden von der Heimat, konnte er's nicht aushalten; er fühlte, daß er eines baldigen Tages davon- und heimlaufen würde; nein, er mußte weit, weit fort. Eilig raffte er sich auf und rannte von dannen, als ob er etwas gestohlen hätte. Bald gelangte er an einen munter dahinfließenden Bach. Sogleich wusch er sich die verschlafenen Augen aus und fühlte sich ganz frisch. Unter dem Baum daneben hielt er nun sein Frühstück, aber nicht so sparsam, wie tags zuvor, denn es hungerte ihn sehr. Jetzt aber ging's in der frischen Morgenluft tapfer vorwärts; er mußte nun schon weit von Hause fort sein, und er wunderte sich, wie weit es wohl so in der Welt fortginge, bis er dahin käme, wo der Himmel sich abrundete.

Als Heinrich nach drei Stunden ein wenig rastete und seine Augen sich eben schließen wollten, wurde er wie von einem Orgelton aufgeschreckt, als ob er in einer Kirche geschlafen hätte. Er blickte verwundert um sich und sah in einiger Entfernung zwei Gestalten daherschreiten, welche ein frommes Lied sangen. Es waren seltsame Männer, denn sie glichen weder den Rittern, noch den Bürgern und Ratsherren, und auch nicht den Geistlichen, die er bisher gesehen hatte. Ihr Haupt war mit einem breitrandigen Pilgerhute bedeckt; lange, schwarze Mäntel mit Kragen, inmitten des Leibes von einem Strick umschlungen, an dem ein großer Rosenkranz herunterhing, umhüllten sie. Jeder hatte einen dicken Reisestab in der Hand; so schritten sie ruhig und gleichmäßig dahin und der Schall ihrer schweren Tritte begleitete ihren feierlichen Gesang.

Heinrich sprang sogleich auf die Beine, und als die Männer nahe kamen, stand er reisefertig da, das Bündelein an seinen Wanderstab gehängt. Sie gewahrten ihn, unterbrachen ihr Lied und sagten: »Gelobt sei Jesus Christus!«

»In alle Ewigkeit, Amen!« gab er den frommen Gruß, zurück und die Männer stimmten wieder den unterbrochenen Gesang an.

Wie eine Engelsstimme klang's in Heinrichs Herzen: »Geh' ihnen nach, geh' mit ihnen!« und sogleich stampften seine kleinen Füße hinter ihnen drein; er lauschte, während sein Herz höher pochte. Als sie das Lied beendet hatten, trat tiefe Stille ein, so, daß man selbst die Kindertritte auf dem harten Boden vernahm. Einer der Männer wandte sein Haupt und sagte zu seinem Begleiter: »Der Knabe folgt uns.«

Nun sah auch dieser zurück. Es war ein edles, mildes Gesicht von einem langen, dunklen Bart umgeben, das sich gegen Heinrich richtete und dessen treuherzigen, blauen Augen begegnete. Der Mann blieb stehen, wendete sich um und sagte: »Wohin gehst du, mein Knabe?«

Bei dieser Frage tauchte in Heinrichs Herzen die ganze bisher fast unbewußte Hilflosigkeit seiner Lage auf; sie zeigte sich in seinem Gesichte und legte sich als kindliche Bitte mit dem rührenden Vertrauen der Unschuld in seine Augen, indem er entgegnete: »Ich weiß es selbst nicht; aber seid so gut und laßt mich mit Euch gehen, lieber Herr!«

Der Mann lächelte kopfschüttelnd und sagte: »Mit uns, Kind? Das wäre ein weiter Weg für deine kleinen Füße.«

Statt hierdurch entmutigt zu sein, leuchteten vielmehr Heinrichs Augen, und er rief: »Das ist gerade recht! ich will weit, weit fort! für mich ist kein Weg zu weit. O laßt mich um Gotteswillen mit Euch gehen! Wohin geht Ihr denn?«

»Bis nach Rom, mein Knabe!«

»Nach Rom? Ist das also recht weit fort?«

Der Mann nickte bejahend.

»Viel weiter als Lindau und Bregenz?«

Diese beiden Städte umschlossen seine sämtlichen geographischen Kenntnisse, denn er hatte sie oft von dem Vater nennen hören. Der Mann lächelte wieder zu der knabenhaften Frage und entgegnete: »Wohl hundertmal weiter.«

»Und gibt es in Rom auch Schafe zu hüten?«

Da sagte der Mann mit zum Himmel gerichtetem Blicke und mehr als ob er mit sich, als mit dem Knaben spräche: »Du ewige Hirtenstadt der Welt! Wann wirst du wieder deinen Hirten umfangen, zu dem Christus sagte: »Weide Meine Lämmer, weide Meine Schafe!«« – Der Pilger bekreuzte sich und schien den Knaben vergessen zu haben. Seine Gedanken schweiften nach dem fernen Avignon, wo der oberste Hirte der Christenheit damals seinen Sitz aufgeschlagen hatte. Aber Heinrich forschte nach der dunklen Rede und frug: »Herr, wie heißt dieser Hirt, von dem Ihr redet, und kann ich in Rom seine Schafe nicht hüten?« Der Pilger sagte freundlich erklärend: »Mein Kind, das ist der Heilige Vater, der Papst. Wir pilgern nach Rom, wo der erste Stellvertreter Christi, der heilige Petrus, seinem göttlichen Meister nachfolgte im Kreuzestode. Wir pilgern in die Stadt der alten Wunder, nicht um ihre Herrlichkeit zu schauen mit ihrem tiefen blauen Himmel, ihren duftigen Orangenwäldern und Cypressenhainen, sondern um dort zu beten und unser Gelübde zu erfüllen.«

Heinrichs Augen leuchteten wie der blaue Himmel, von welchem der Pilger sprach, und sein Herz verlangte nach, dieser ungekannten Herrlichkeit. Er rief also wieder: »O Herr, nehmt mich mit! Ich will Eure Reisesäcke tragen und Euch dienen. Nehmt mich mit in die schöne Stadt; ich möchte am liebsten mit Euch gehen!«

»Und warum denn mit uns am liebsten, Kind?«

»Weil Ihr so freundlich seid, so schöne Lieder singt, und weil Ihr mir allerlei erzählen könnt, was ich gern wissen möchte.«

Sie waren inzwischen weiter gegangen, Heinrich immer neben dem einen Pilger, indem er in dessen Gesicht schaute. Nun aber blieb derselbe wieder stehen, sah dem Knaben recht forschend ins Gesicht und sprach: »Wie kommt es, daß du so allein dahinwanderst ohne Ziel? Du, noch ein Kind! Wie heißest du? woher bist du?«

»Ich bin Heinrich Findelkind!« sprach der Knabe in stiller, demütiger Weise.

»Ein Findelkind!« rief nun der Mann im Tone tiefsten Mitleids. Dann fuhr er fort: »Aber wer hat dich bisher erzogen und ernährt? Wie kommt es, daß du jetzt heimatslos dahinwanderst? Erzähle mir alles, Knabe!«

Sie waren wieder weiter gegangen und Heinrich erzählte mit der ganzen, schlichten Beredsamkeit eines dankerfüllten Herzens seine Lebensgeschichte, vom ersten bis zum letzten Tage. Jetzt, wo er zum ersten Male von allem, was seine Seele erfüllte, reden konnte, fehlte es ihm nicht an Worten; es quoll und sprudelte von seinem Munde, wie ein freigelassener Quell. Er verweilte bei allen Einzelheiten und die Namen seiner Geschwister flochten sich wie Blumen eines Kranzes in die Erzählung. Als er zum Abschiede gelangte und auch den letzten Abschied von Schnuffl erwähnte, brach der Schmerz zum ersten Male ganz hervor, und ein lautes Schluchzen erstickte seine Worte.

Der Pilger hatte ihn nicht ein einziges Mal unterbrochen; auch jetzt schwieg er immer noch, aber seine Blicke ruhten mild und erbarmend auf dem armen Knaben, der, noch ein Kind, die Entschlossenheit eines Mannes im selbstsuchtslosen, dankbaren Herzen bewiesen hatte. Endlich sprach er leise mit seinem Begleiter, der sich vor ihm ehrerbietig, gleich einem Diener, neigte, und dann ergriff er des Knaben Hand, indem er in weichem Tone sagte: »Heinrich!«

Dieser erhob das mit Thränen übergossene Gesicht beim Tone seines Namens, den er so lange schon nicht mehr gehört hatte, und noch mehr Vertrauen kam dabei in sein Herz.

»Heinrich, du kannst mit uns ziehen. Gott, der unser Begleiter ist, wird auch der deinige sein und zeigen, wie weit deine Pilgerschaft führen soll. Er, der gute Hirte, wird dich selbst als Schäflein weiden, bis du deine Herde findest. Nun aber laß uns beten und ein Pilgerlied anstimmen, auf daß wir frohen und seligen Mutes werden.«

Der Pilger hielt immer noch Heinrichs kleine Hand in der seinen, und so schritten sie die Straße vereint dahin, während ihre vollen Männerstimmen ein frommes Wallfahrtslied sangen, das nun auch den kleinen Pilger beruhigen sollte.

In Gottes Namen fahren wir,
Seiner Gnaden 'gehren wir:
Nun helf' uns allen Gottes Kraft,
Verleih' uns Pilgern Schutz und Macht.
            Kyrieleison.

Und das heilige Kreuze
Ward uns allezeit nütze:
Das Kreuz, dran Gott Sein Marter leid',
Dasselbige sei unser Freud'.
            Kyrieleison.

Auch das heilige Grab,
Da Gott selbst inne lag,
Mit Seinen fünf Wunden also her:
Fröhlich fahren wir daher.
            Kyrieleison.

Als die Pilger dieses Lied beendet hatten, trat eine tiefe Stille ein. Der fromme Sang hatte Heinrichs Seele durchzogen wie ein Frühlingshauch, und es war ihm wunderbar heilig zu Mute.

Sie mochten eine Stunde schweigend dahingegangen sein, als der eine Pilger, welcher offenbar der vornehmere war, sagte: »Rasten wir ein wenig dort im Schatten jenes Gebüsches.«

Bald waren sie daselbst angelangt, und nun legte er sich aufs Gras, während der andere aus einem Sacke allerlei einfache Speisen hervorholte und sie auf dem Rasen ausbreitete. Sogleich löste auch Heinrich den Knoten seines Tüchleins und rief jubelnd in der Freude des Gebens: »Ich habe auch etwas! Thut es zu dem Eurigen!«

Die Männer sahen wohlgefällig auf den Knaben, und der eine davon schnitt mit seinem Messer sogleich ein Stück Brot und Käse ab, verkostete es und sagte: »Das ist gut! hat es deine Pflegemutter selbst bereitet?«

Heinrich war ganz stolz über das erteilte Lob und rief: »Sie und Bärbele; Annaliese hat ihnen geholfen; die kann's auch schon grad' so gut. Und versucht nur die Schnitz! die sind erst prächtig! Die Aepfel wachsen all in unserem Garten; der Jakob und ich haben sie gebrockt und geschnitten!«

Heinrich vergaß über sein Lob, selber zu essen, bis die Pilger ihn mahnten, auch zuzugreifen und sich am gemeinsamen Vorrate zu laben. Nach der Mahlzeit begehrte der Herr einen Trunk; aber die Reiseflasche war leer. Sogleich sprang Heinrich auf und rief: »Wartet ein wenig! ich will gleich eine Quelle finden. Gebt mir nur die Flasche.«

Mit dem richtigen Instinkte für die verborgene Schatzkammer der Natur, welche derselben stets Leben verleiht, eilte Heinrich in den nahen Wald und kehrte nach kurzer Zeit mit der gefüllten Flasche wieder zurück. Sein Gesicht strahlte vor Vergnügen, daß er nützlich sein konnte, und als sie getrunken hatten, eilte er aufs neue in den Wald, um die Flasche zu füllen. Wie er nun wieder bei ihnen saß, sagte der Herr: »Ei, Heinrich, du bist ja ein wackerer Leibknappe! besser, als ihn arme Wallfahrer verdienen.«

Sogleich entgegnete er wißbegierig: »Mit Vergunst, Herr, möchtet Ihr mir nicht sagen, was sind denn Wallfahrer?«

Der Mann bedachte sich eine Weile, um die richtigen, einfachen Worte für Heinrichs Verständnis zu finden; dann sagte er lächelnd: »Nun, ein Wallfahrer ist, wer eine Wallfahrt unternimmt.«

»Aber mit Vergunst, Herr, was ist denn eine Wallfahrt?« Und der Knabe schaute mit gespannter Aufmerksamkeit in des Pilgers Gesicht, welcher erwiderte: »Eine Wallfahrt ist der Pilgergang, den man entweder allein, oder im Verbande mit mehreren zu einem besonders heiligen Orte in der Absicht macht, entweder ein Werk der Buße zu verrichten, oder Gott zu lobpreisen für eine bereits empfangene Gnade, oder auch eine solche zu erflehen. Dieser Pilgergang darf aber keine gewöhnliche Reise sein zu einem Vergnügen, sondern ein frommer Gang in stiller Demut; nicht hoch zu Roß, von Dienern begleitet, sondern mühselig zu Fuß, arm und niedrig, weshalb die Wallfahrer sich in Pilgerkleider hüllen, damit jeder gleich ist, sei er Herr oder Knecht, Ritter oder Bettler; es ist ein Werk der Demut und Liebe zu Gott; alles, was man in diesem Geist verrichtet, nimmt Er gnädig auf. Und so eine Wallfahrt thut der Seele gut, mein Knabe. Ritter und Knechte, Bürger, Bauern und Frauen haben daheim nicht Zeit und nicht Einsamkeit genug, um über göttliche Sachen nachzudenken. Auf dem weiten Wallfahrtswege jedoch hat man Zeit und Gelegenheit dazu. Das Wandern in der freien Natur mahnt das Herz an den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde; der Reiche lernt dabei arm sein und entbehren, was der Arme täglich entbehrt. Wie fromm stimmt aber erst die Ankunft beim heiligen Orte das Gemüt! Tausende haben vor ihm da gebetet, tausende beten mit ihm, tausende werden hier beten, wenn er selbst wieder daheim oder schon gestorben ist; tausende haben ihren Schmerz an diesen Ort getragen und Erhörung gefunden. Und sagt nicht Christus: »Wo zwei oder drei versammelt sind in Meinem Namen, da bin Ich mitten unter ihnen.«

Der Pilger hielt inne; sein Antlitz leuchtete im Strahl der Begeisterung; er faltete die Hände und schien zu beten. Eine tiefe Stille herrschte in dem kleinen Kreise. Heinrich hatte mit inniger Andacht zugelauscht, und er begehrte nun um so lebhafter, ihre Wallfahrt zu teilen. Seine Blicke ruhten ehrerbietig auf den Pilgern und nach einer Weile sprach er schüchtern: »Herr, seid Ihr auch ein vornehmer Ritter und ist der andere Euer Diener?«

Der Pilger umging diese Frage, indem er antwortete: »Auf der Wallfahrt sind alle Menschen Brüder. Ja, nenne mich Bruder Anselm und meinen Begleiter Bruder Balthasar. Nun aber laßt uns aufbrechen und unsere Reise fortsetzen!«

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