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Die Tür von Sheriff Naxons Haus stand noch offen, als sie ankamen. Ein breiter Lichtschein fiel aus ihr auf den kiesbestreuten Pfad, der zu dem Haus hinaufführte. Der alte Harry, das Pferd mit seiner traurigen Last am Zügel haltend, wartete draußen, während Devon eintrat.
Er hatte geglaubt, das Innere ebenso verwahrlost zu finden, wie das Haus von außen, der Garten und – es läßt sich leider nicht leugnen – die Person des Sheriffs, so daß er sehr erstaunt war, als er von einer würdig und freundlich dreinschauenden Dame in ein äußerst sauberes, nett eingerichtetes Wohnzimmer gebeten wurde, um sich einen Augenblick zu gedulden.
Devon musterte den runden Teppich, auf dem er stand – einen sogenannten Flickenteppich in den fröhlichsten Farben, unter denen das Rot und Blau unbrauchbar gewordener Flanellhemden vorherrschte. Dann besah er sich das Klavier in der einen Ecke, den kleinen Tisch in der anderen, auf dem sich, zwischen zwei Stützen aufgereiht, eine Anzahl Bücher befand: eine Bibel, eine Märchensammlung in großblumigem Stoffeinband, ein Werk über amerikanische Geschichte und eine mehrbändige Shakespeare-Ausgabe – seltene Schätze in dieser Gegend, die offenbar den hohen Kulturstand des Hauses beweisen sollten. Neben den Büchern lag ein großes Lichtbildalbum, dessen hölzerner Deckel kunstvolle Brandmalerei trug, zwischen zwei kleinen Schalen, in denen Blumen welkten.
Im angrenzenden Eßzimmer, aus dem übrigens würziger Speisengeruch drang und das ganze Haus angenehm durchzog, hörte Devon jetzt den Sheriff sagen:
»Aber warum läßt du ihn denn nicht einfach herein? Alf – geh doch mal rüber und hol ihn.«
Die Dame des Hauses versuchte gegen diesen Vorschlag zu sprechen, doch offenbar vergeblich, denn das Geräusch von bloßen Füßen wurde draußen in dem Vorraum hörbar, und in der Tür erschien ein sommersprossiges Bubengesicht, das sich zu einem breiten Grinsen verzog.
»Vater läßt sagen, Sie möchten ins Eßzimmer kommen.«
»Ich möchte aber lieber hier auf den Sheriff warten.«
»Das läßt sich nicht machen; wenn Vater was sagt, ist's besser, Sie tun's.«
So folgte Devon dem Jungen in das Eßzimmer, das gleichfalls sehr sauber, aber so klein wie eine Schiffskabine war. Die Hausfrau erhob sich errötend, sichtlich ein wenig befangen, der Sheriff aber zeigte auf einen Stuhl und sagte freundlich:
»Setzen Sie sich, Kamerad, und erzählen Sie mir, was ich für Sie tun kann – aber zunächst nehmen Sie mal eine Kleinigkeit.«
»Vielen Dank – ich habe keinen Hunger.«
»Ach was – für ein Stück Apfelkuchen hat man immer Platz.«
»Nein, auch dafür muß ich danken.«
»Wie kann man nur so schüchtern sein? Verlaß dich drauf, Mary, es ist nur Schüchternheit; gib ihm mal ein ordentliches Stück von dem Zeug und eine Tasse Kaffee mit recht viel Sahne.«
»Sheriff, was ich Ihnen zu sagen habe –«
»Das können Sie mir ebensogut erzählen, wenn Sie gegessen haben. Nun setzen Sie sich mal endlich, Devon! Wie geht's denn Ihrem Vater?«
Frau Naxon räusperte sich.
»Was ist denn los?« fragte der Sheriff.
»Erinnerst du dich denn nicht? Der arme Mr. Devon –«
»Na, erlaube mal, ein Mann der tausend Morgen besitzt, ist doch nicht arm«, unterbrach er sie.
»Das meine ich ja nicht.«
»Warum sagst du dann nicht, was du meinst? Es ist schon ein Elend mit den Frauen, daß sie immer in Andeutungen um die Dinge herumreden müssen!«
»Ihre Frau wollte Sie daran erinnern, daß mein Vater tot ist.«
»Tot? Jack Devon tot? Ja, richtig, natürlich – jetzt fällt mir's ein! Selbstverständlich ist Jack Devon gestorben – sein Tod war sogar ein höllisch schwerer Verlust für die verdammte Gegend hier.«
»Fluch doch nicht so schrecklich«, bat die Frau bescheiden.
»Verdammt und höllisch ist doch kein Fluchen«, erwiderte der Sheriff. »Das sagt man doch nur, um Worte gewissermaßen zu unterstreichen. Aber Sie haben ja noch immer nicht Platz genommen, junger Mann. Lockt Sie der Kuchen wirklich nicht?«
»Ich bin zusammen mit dem alten Harry gekommen, er ist draußen, und da kann ich doch nicht –«
»Meinen Sie Jack Devons Harry?«
»Jawohl.«
»Ja, zum Teufel, warum kommt denn der nicht rein? Braucht der vielleicht eine Extraeinladung? Ein verdammter Blödsinn! Vorwärts, Alf, scher dich raus und hol ihn sofort rein!«
Der Knabe sprang auf, doch Devon hielt ihn zurück.
»Es befindet sich noch ein Dritter draußen«, sagte er, dem Sheriff zublinzelnd.
»Ein ganzes Regiment können wir allerdings nicht hereinbitten«, erwiderte dieser, augenscheinlich allmählich verstehend, »dazu ist der Raum leider zu beschränkt. Na, dann kommen Sie mal, Devon. Und du, Alf, bleibst gefälligst hier, wo du hingehörst. Wenn ich dich wieder dabei erwische, daß du dich abends aus dem Haus schleichen willst, sollst du mich mal kennenlernen!«
Frau Naxon sah ihren Mann angstvoll an, sagte aber nichts, sondern legte nur dem Knaben den Arm um die Schultern und zog ihn dicht an sich heran. Da verstand Devon, daß der abgeklärte, ergebene Ausdruck ihres Gesichtes und das Würdige ihrer Haltung ihren Grund darin hatten, daß sie jedesmal um das Leben ihres Gatten zitterte, wenn dieser in Erfüllung seiner Amtspflicht das Haus verließ.
Die beiden traten aus der Tür, stiegen die Stufen hinunter – Devon führte Naxon dorthin, wo Harry im Dunkeln wartete. Der Sheriff zog eine kleine elektrische Lampe aus der Tasche und ließ deren Schein auf das Gesicht des Toten fallen, das er aufmerksam betrachtete.
»Wer hat das getan?« fragte er dann.
»Ich«, erwiderte Harry.
»Das heißt, wir haben es zusammen getan«, wandte Devon ein.
»Unsinn – den Schuß hab ich abgegeben«, erklärte Harry.
Der Sheriff nickte.
»Saubere Arbeit, das!« meinte er. »Und warum haben Sie den Jungen erschossen?«
»Weil er uns mit noch drei anderen im Wald überfallen hat.«
»Und wo sind die anderen drei? Haben Sie mir den da nur als Muster mitgebracht?«
»Die anderen drei sind entkommen – mehr oder weniger verwundet durch Walt Devon. Einer von ihnen heißt Lewis, genannt ›der Schläger‹.«
»Den kenn ich.«
»So? Für wen arbeitet denn der?«
»Für den Teufel – würde ein Geistlicher sagen.«
»Gelegentlich für Les Burchard.«
»Kennen Sie auch den Toten da?«
»Jack Watts heißt er.«
»Was war er?«
»Nichts Besonderes – eine Zeitlang hat er mal für Les Burchard die Bücher geführt.«
»Damit wäre die Sache geklärt«, meinte Devon. »Ich hatte schon vorher Grund genug, Les Burchard im Verdacht zu haben, aber jetzt ist es ja vollkommen sicher, daß er mich ermorden lassen will.«
»Sie glauben wirklich, daß Burchard hinter dem heutigen Überfall steckt?« fragte der Sheriff leise.
»Ich bin felsenfest davon überzeugt.«
»Seltsam – Burchard? Das würde mich denn doch wundern.«
Man hörte es der Stimme des Sheriffs an, daß er tatsächlich überrascht war.
»Aber es sieht ganz so aus, als ob er Walt und uns aus dem Weg räumen wollte«, bestätigte Harry, »Walt allerdings noch mehr als Jim und mich.«
»Was sollte er für einen Zweck dabei verfolgen?«
»Er will Walts Land haben, das der nicht verkaufen will.«
»Aber um Gottes willen, wozu?«
»Das weiß ich nicht, aber er wird's schon wissen«, erwiderte Harry. »Wie steht's denn nun, werden wir dafür eingesperrt?«
»Daß Sie den jungen Jack Watts erschossen haben?«
»Nein, deswegen sperr' ich Sie nicht ein. Sie müssen sich nur zur Verfügung halten, wenn ich Sie vorlade.«
»Selbstverständlich«, entgegnete Harry.
»Dann wäre die Angelegenheit also in Ordnung«, erklärte der Sheriff. »Laden Sie den Toten ab, und ich werde nach dem Leichenbeschauer schicken.«
Während Harry die Umschnürung löste, erzählte Devon in kurzen Worten, was sich zugetragen hatte.
»Da werde ich zunächst einmal mit Ihnen in Mrs. Purleys Kosthaus gehen und mir das junge Mädchen ansehen«, sagte Naxon, als Walter geendet hatte.
»Das ist ganz überflüssig«, erwiderte Devon lebhaft. »Sie ist an dem Überfall so schuldlos wie ein neugeborenes Kind.«
»Da mögen Sie vielleicht recht haben, aber trotzdem möchte ich ein paar Worte mit ihr sprechen.«
Sie ließen also Jack Watts auf dem Rasen liegen – weglaufen werde er ja kaum, meinte der Sheriff – und begaben sich zu dem Kosthaus, wo sie zu ihrer größten Überraschung erfuhren, daß die schöne Miss Maynard spurlos verschwunden war – keiner der Angestellten wußte, wohin.