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XII. Du bist das erwählte Gefäß!

Im Oktober 1793 hatte der Prozeß gegen die unglückliche Königin begonnen, dessen Ende zu bekannt ist, als daß man länger bei ihm zu verweilen brauchte. Schändlicher vielleicht noch als das Todesurteil war die Frage des zynischen Hébert, ob die Königin nicht mit ihrem eigenen kleinen Sohn Unzucht getrieben habe. Mit der Antwort auf diese skandalöse Frage erreichte Marie Antoinette den dritten großen Augenblick ihres Martyr-Königinnentums. Ihre Antwort war:

»Ich frage alle hier anwesenden Mütter, ob so etwas überhaupt möglich ist!«

Da ging durch die Menge, die den Gerichtssaal füllte, eine flutende Bewegung. Alle waren entrüstet, alle waren gerührt. Selbst die scheußlichen Trikoteusen, die gleichmütig ihre Stricknadeln klappern ließen, während im Saal Todesurteile gefällt wurden, selbst diese »lécheuses de Guillotine« hatten Tränen in den Augen.

Doch alle Bewegung der Galerien und all ihre persönliche Würde konnten die Königin nicht retten. Noch ehe der Prozeß begonnen hatte, war ihr Haupt dem Henker zugesprochen worden, und es fiel am 16. Oktober 1793, wie ein halbes Jahr später (10. Mai 1794) das ihrer Schwägerin, der sanften, frommen Madame Elisabeth, fallen wird. Nun saßen im Temple nur noch die Königskinder: der kleine Dauphin, der dahinsiechte, und die halbwüchsige Prinzeß Marie Therese. Diese beiden jugendlichen Gefangenen waren gewiß keine Bedrohung für das Land, und selbst Robespierres wachsames Mißtrauen hatte sich niemals um die beiden und ihr Los gekümmert. Nach der Hinrichtung von Madame Elisabeth aber trat er eines Tages unvermutet bei Marie Therese ein. Schweigend kam er, starrte das Mädchen eine Weile wortlos an, blätterte dann ein wenig in Büchern, die umherlagen, und verschwand ebenso stumm wie er gekommen war. So erzählt Marie Therese, spätere Herzogin von Angoulême, in ihrem »Journal«, fügt hinzu, daß niemand ihr seinen Namen genannt, daß sie aber aus der großen Unterwürfigkeit, mit der ihre Wächter ihm begegnet seien, geschlossen habe, daß dieser fremde, stumme Mann Robespierre gewesen sein müßte.

Ob er es wirklich war, und was er mit diesem plötzlichen Besuch bezweckte, ist in Dunkel gehüllt geblieben. Und eben weil Dunkel darüber schwebte, benutzten dies späterhin Robespierres Feinde als wichtiges Belastungsmaterial …

Doch noch ist es nicht so weit. Noch kämpft Robespierre Schulter an Schulter mit Danton gegen »Verdächtige« und »Verräter«, und im Klub zittert wohl jeder insgeheim, daß heute oder morgen oder übermorgen auch er aus der Mitgliederliste gestrichen werden könnte. Streichung aus dem Jakobinerklub bedeutete ja ungefähr soviel wie Streichung aus der Liste der Lebenden. Wahrhaftig, der Verrat gleicht einer Hydra: für jeden Verräterkopf, der fällt, wachsen hundert neue nach, und wer weiß, ob nicht selbst Marat, wenn er noch lebte, nicht eines Tages als »Verräter« vor die Schranken gefordert würde! Aber Marat ist tot, und Danton hat sich die Wiederkehr dieses Toten sehr energisch verbeten. Als etwa ein halbes Jahr nach der Tat der Corday Varlet im Konvent eine Lobrede auf Marat halten wollte, rief Danton unwillig: »Schluß mit den ewigen Leichenreden auf Marat! Dieser neue Heilige war, ehe er Abgeordneter wurde, ein großer Missetäter! Sehr oft hat er die Bestecke der Speisewirte, von denen er Essen holen ließ, versetzt, und die Geschädigten mußten ihr Eigentum auf eigene Kosten aus dem Pfandhaus auslösen!«

Im Konvent und auch in der Stadt wunderte man sich ein wenig über diese nicht eben schmeichelhafte Nachrede des Kollegen, aber Robespierre war mit Dantons Wort gewiß sehr zufrieden. Wozu die endlose Verhimmlung dieses Mannes, der die Pöbeldiktatur gewollt und Robespierre den weiten Blick des Staatsmannes abgesprochen hatte?! Noch besser entsprach ihm ein anderes Wort Dantons, das sich gegen den zügellosen Atheismus der Hébertiten richtete: »Da wir den Priester des Irrtums und des Fanatismus nicht ehren, wollen wir auch den des Unglaubens nicht ehren.« Ja, dies war aus dem Herzen des Unbestechlichen geredet, der unerschütterlich an dem Bekenntnis festhielt: »Ein Geistlicher ist so gut Staatsbürger wie jeder andere.« Selbstverständlich meinte er nur den Geistlichen, der den Eid auf die Verfassung geleistet hatte, aber wenn dieser Eid geleistet war, kümmerte er sich nicht weiter um das Kleid und das Bekenntnis dieses Mannes. Die atheistischen Ausschweifungen Cloots, Héberts und dessen Genossen waren ihm ein Greuel, und voll Ekel wandte er sich vom Kult der »Göttinnen der Vernunft« ab, der nackte Weiber auf die entweihten Altäre stellte und die Kirchen mit dem Treiben eines Jahrmarktes erfüllte. Als Mensch wie als Politiker war ihm dies ganze herausfordernde Treiben zuwider; denn er begriff sehr wohl, daß nichts der Republik mehr schaden konnte als dieser demonstrative Unglaube, daß nichts der Reaktion eine festere Handhabe bot. Scharf geriet er im Klub mit Cloots aneinander, dem er vorwarf, daß Frankreich sich die Feindschaft der frommen Belgier durch diesen aufdringlichen Atheismus zugezogen hätte, wie denn das Ausland überhaupt mit Verwunderung und Unwillen auf die Vergewaltigung der Überzeugung blickte, die im Lande der Freiheit Gesetz zu werden schien. Nein, diese Freiheit mochte Cloots, Hébert und anderen Narren oder Dieben gefallen – den Einsichtigen gefiel sie durchaus nicht, und von den Zuständen und der Stimmung, die durch das brutale Vorgehen gegen den alten Kult hervorgerufen wurden, gibt ein Brief Zeugnis, den ein Bürger aus Lyon an Robespierre richtete: »Das Unheil ist groß, die Wunde tief … Ich durchstreife die angrenzenden Gegenden und erkenne sie nicht wieder. Schmerz, Schrecken, starre Verwunderung stehen auf allen Gesichtern. Der Sterbende verlangt nach seinem Priester, um aus dessen Munde Worte des Trostes und des Friedens zu vernehmen, doch der Priester, der diese Menschenpflicht erfüllt, ist von der Guillotine bedroht … So sieht unsere Freiheit aus … Alle oder beinahe alle friedlichen Bürger priesen die Revolution, jetzt aber verwünschen sie alle und sehnen die frühere Regierung zurück. Die Landleute sind bereit, alles dem Wohl des Vaterlandes zu opfern, aber sie begehren die Durchführung der Verfassung, die völlige Glaubensfreiheit, die Rückkehr ihrer verurteilten Priester, die sie gerne auf eigene Kosten unterhalten wollen. Versagt man ihnen all dies, so wollen sie lieber sterben.«

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Marie Antoinette.
Nach einem 1791 von Kucharsky angefertigten Pastell.
Aus: Memoires de Mme. la Duchesse de Tourzel.
Poubliez par le Duc des Cars. Paris 1883. Bd. I

Solche Worte verhallten nicht ungehört. Der Wohlfahrtsausschuß wandte sich in strengen Schreiben an provinziale Regierungsvertreter, die unduldsam gegen die Diener des alten Kults auftraten. »Durch sein Dekret vom 18. Frimaire, Bürgerkollege, hat der Konvent jeglicher Behörde überstrenge Maßregeln gegen die Diener des alten Kultus untersagt.« Es heißt da: »Jegliche Maßregel, die geeignet ist, die Freiheit der Glaubensbekenntnisse zu gefährden oder sie zu vergewaltigen, ist verboten. In den Berichten, die Du sandtest, hat der Wohlfahrtsausschuß diesen Geist vermißt. Du hättest begreifen müssen, daß weniger noch als irgendeine andere Meinung religiöse Überzeugung durch Gewalt zu erzwingen oder zu erobern ist. Die Erfahrung hätte Dich lehren müssen, daß in Glaubenssachen jegliche Verfolgung dem Fanatismus schreckliche Kräfte verleiht … Tyrannen und Pfaffen machen gemeinsame Sache – durch Martyrtum hoffen sie die Gegenrevolution herbeizurufen, durch Schließung der Kirchen den Aufruhr in der Vendée zu schüren. So laßt uns die Gesetze treulich erfüllen: strafen wir den Verräter, der sie mißachtet, gestatten wir den schwachen, aber friedliebenden Seelen, das höchste Wesen nach ihrer Art zu verehren, bis zu dem Tag, an dem Aufklärung sie zur Wahrheit geführt haben wird. Wenn wir klug und langsam vorgehen, ist die Priesterherrschaft für immer dahin. Möge das Gesetz, möge die siegreiche Republik all ihre inneren Feinde durch die triumphierende Macht der Vernunft zerschmettern! Der Tag der Philosophie ist angebrochen …«

Dies Schreiben, im schwülstigen Stil der Revolution abgefaßt, läßt deutlich erkennen, daß sich die einsichtigen Köpfe Frankreichs der Gefahr wohl bewußt waren, die ein offiziell proklamierter Atheismus über das Land heraufbeschwören mußte. Schneller als andere hatte der große Weltpolitiker – England – diese schwache Seite der Republik ausgespäht, und mit echt englischer Entrüstung (»Herr, ich danke dir, daß ich nicht bin wie jene!«) schrieb Burke: »Die Lage in Frankreich ist ungemein einfach: es gibt daselbst nur zweierlei Gattungen von Menschen: Henker und Opfer. Die ersteren haben die ganze Staatsgewalt in Händen: das Heer, die öffentlichen Einkünfte … Sie haben Gott durch Priester und Volk verleugnen lassen, sie haben es unternommen, aus den Herzen und den Köpfen alle Moralbegriffe (wie schön ist das Wort »Moralbegriff« im Munde eines Angelsachsen!) und natürlichen Gefühle auszutilgen. Ihr Ziel ist, Wilde heranzuziehen, die niemals ein System der Ordnung und der Rechtschaffenheit ertragen könnten …«

Man mag von Burkes Worten die nationale Selbstgefälligkeit abziehen, die jeden Engländer befällt, sobald er europäische Zustände kritisch betrachtet, man mag in ihnen auch unterirdische Agitation gegen das revolutionierte Frankreich erkennen, aber zweifellos spiegelten sich in den Augen des Auslandes die französischen Zustände genau so, wie Burke sie darstellt. Doch was fragt Robespierre nach dem Ausland, das die Freiheit bekämpft! Die »Säuberungen« gehen weiter. Im Januar 1794 wird Fabre d'Églantine verhaftet, der die hübschen Namen für den neuen Kalender erfand, und Danton, der anfänglich versuchte, ihn zu verteidigen, mag ahnend erblassen, da Billaud-Varenne ruft: »Wehe über ihn, der neben Fabre d'Églantine sitzt und sich heute noch von ihm täuschen läßt!« Schon stellt Billaud-Varenne den Antrag, auch Danton verhaften zu lassen, doch Robespierre widersetzt sich, widersetzt sich heute noch: »Man will, wie es scheint, die fähigsten Köpfe der Republik opfern!« Ein Augenblick der Besinnung, aber nur ein Augenblick! Schon gibt Robespierre wieder und immer wieder jeden preis, den er gestern noch Freund genannt. Ein einziges Mal nur will dies unerbittliche Hirn zögern. Das geschieht an dem Tage, da die Enragés gegen Camille Desmoulins wüten, der in seinem Blatte » Vieux Cordelier« sich nicht nur mit seiner kecken Feder an bekannte den Jakobinern teure Persönlichkeiten wagt, sondern sich auch durch eine gewisse Wandlung zur Mäßigung verdächtig gemacht hat. Ihn opfert Robespierre nicht bereitwillig. Er versucht ihn zu entschuldigen, nennt ihn »ein verwöhntes Kind, das durch schlechte Gesellschaft (er meinte Fabre d'Églantine) verdorben worden ist«. Es gelingt ihm auch wirklich, das Scherbengericht des Klubs vorläufig abzuwenden, den schon aus der Klubliste gestrichenen Namen Camilles wieder einfügen zu lassen, und mit kühnem Schwung versucht er, die Aufmerksamkeit des Klubs von dem verirrten Sohn abzuwenden und auf »die Verbrechen der englischen Regierung« hinzulenken. Die Verbrechen und Kriegsgreuel einer feindlichen Macht haben allzeit ein beliebtes Thema für die gegnerische Macht geboten, und an anderen Tagen wäre der Klub gewiß bereit gewesen, jede Scheusäligkeit von den Engländern zu glauben. Doch an dem Tag, da Robespierre für Camille sprach, merkten sie, daß die englischen Verbrechen nur ein Paravent für den »Verrat« Camilles sein sollten, und über ein kurzes wurde der Name Desmoulins abermals aus der Liste gestrichen. Das Schicksal Camilles war besiegelt.

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Camille Desmoulins.
Kupferstich von Levachez.
Aus: Tableaux historiques etc. Bd. III

Nun würgen sich im Jakobinerklub Freunde und Feinde gegenseitig ab, und jeder, der fällt, prophezeit jenen, die ihn zu Falle gebracht, das gleiche schreckliche Ende. Und – grausame Ironie! – hier gibt es keine falschen Propheten; denn einer nach dem anderen kommt an die Reihe, gleichviel, ob er bei den Jakobinern oder bei den Cordeliers eingeschrieben ist. Da die Hébertisten samt Cloots unter Anklage stehen, sagt Ronsin: »Die Partei, die uns in den Tod schickt (Danton), wird den gleichen Weg gehen!«, und wirklich trifft kaum drei Wochen nach Héberts Hinrichtung (24. März 1794) Danton das gleiche Los. Lange schon war ein stummes, erbittertes Ringen zwischen ihm und Robespierre. Jeder von ihnen wußte, daß der andere auf sein Verderben sann, und da Robespierre Danton tödlich traf, war er nur flinker, nicht verbrecherischer als sein Gegner. Der Sturz Dantons war die große Kraftprobe Robespierres, denn Dantons Sprachgewalt, seine Gabe, ganz persönliche, ans Herz greifende Worte und Bilder zu finden, (Robespierres Tiraden wirken daneben hohl und ledern!) hatten ihn ungemein populär gemacht, und es wäre zu erwarten gewesen, daß seine Verhaftung die Massen aufgerüttelt und erbittert hätte.

Doch die Bevölkerung von Paris war schon daran gewöhnt, daß jedem »Hosianna!« schnell das »Crucifige!« folgte, und da Legendre im Konvent den Antrag stellte: »Danton muß hier vor den Schranken verhört werden, ehe der Bericht über ihn erstattet wird«, brachte Robespierre in einer längeren Rede den Antrag zu Fall: »Heute muß es sich unwiderruflich und für immer entscheiden, ob dieser Götze siegen oder in seinem Sturze das Volk und den Konvent zerschmettern soll.«

»Der Götze«, der einst selbst das Revolutionstribunal eingerichtet hatte, war sich über das Wesen dieses Gerichtshofes nicht im unklaren. Er wußte, daß jegliche Verteidigung nutzlos sein würde, aber sein Temperament ließ sich nicht gebieten, und wie ein Vulkan Glut und Flammen speit, so raste seine Rede gleich einem tosenden Meer über alle, über Richter, Geschworene und Galerien hin, und wenn ihm vor Erregung die Donnerstimme einen Augenblick versagte, konnte niemand mehr Atem schöpfen vor Spannung und Bewegung. Ein brandendes Meer von Beteuerungen, Hinweisen auf seine nur dem Vaterland geweihte Vergangenheit und – von Anklagen gegen das Gericht erfüllt den Saal, droht alle Besinnung zu ersticken, Richter und Geschworene wankend zu machen … Doch »der Götze« muß nach Robespierres Willen fallen, und darum erscheint flugs ein neues Gesetz (»Lex Danton« würde man es heutzutage nennen!), das besagt: »Wer die Nationaljustiz beleidigt, verfällt der Ächtung«, d. h.: dem Tode.

Am 5. April 1794 fuhr »der Götze« mit dreizehn Schicksalsgenossen, unter ihnen Desmoulins, zum Richtplatz. Während Camille wie ein Kind weinte, behielt Danton seine Fassung und seinen zynischen Humor, der ihm noch auf dem Todeskarren ein kaustisches Witzwort eingab. Die Weissagung Ronsins aber übertrug er auf Robespierre und dessen Anhänger. Als das im Hof des Revolutionstribunals zusammengelaufene Volk ausrief: »Das ist Danton!« rief er zurück: »Ja, es ist Danton, den ihr noch zurücksehnen werdet! Die Tempelherren gaben Philipp dem Schönen eine Frist von zwölf Monaten, und er starb nach sechsen. Ich gebe meinen Feinden eine Frist von drei Monaten. Mein blutiger Schatten wird sie verfolgen. Vergebens werden sie sich nach der Guillotine sehnen, wenn das Volk ihre zerfetzten Leiber durch die Gassen schleift.«

Auch dies schreckliche Wort sollte sich erfüllen, wie sich Ronsins Wort erfüllt hatte, und wenn Robespierre ein klein wenig abergläubisch gewesen wäre, so hätte er wohl geschaudert, als man ihm diese Worte hinterbrachte. Er aber war nicht abergläubisch und schauderte nicht, ging, eingehüllt in seine Tugend wie in einen Zaubermantel, auf die Fata Morgana zu, die ihn seit seinen frühen Tagen umgaukelte: Jean Jacques' Reich. Nur erst alle Verräter beseitigen, alle, die der Freiheit zu Leibe gehen möchten, die nicht davon überzeugt sind, daß er, Maximilien Robespierre, im Recht ist und das Rechte tut! Immer straffer müssen die Gesetze werden, um diese Elenden zu vertilgen, die allein Schuld tragen, daß die Erde noch kein Paradies geworden ist. Um es schnellstens herzuzaubern, werden fürchterliche Gesetze erlassen, die allem menschlichen Anstand ins Gesicht schlagen. Sie erkennen des Todes schuldig nicht nur den Verräter, nicht nur den Nutznießer der Hungersnot, nicht nur den Defaitisten, der den Mut der feindlichen Heere stärkt, nicht nur den Verbreiter beunruhigender Gerüchte, sondern auch »alle, die versuchen, die öffentliche Meinung irrezuführen und die Reinheit der republikanischen Grundsätze zu trüben«.

Moderne Kautschukparagraphen sind Eisenbarren im Vergleich mit diesen letzten drei Punkten, von denen ein einziger genügte, um einen Menschen dem Henker zu überliefern. So lag denn Paris wie ein Mensch, dem eine würgende Hand an der Kehle sitzt. Gleich einem Pestkeim hatte Robespierres Mißtrauen alles vergiftet, gleich einem Schwalm giftiger Gase lagerten Mißtrauen und Furcht über der einst so heiteren Stadt. Die Menschen wagten kaum mehr zu sprechen, kaum mehr zu atmen. Jeder mißtraute jedem. Der Vater fürchtete den Sohn, die Gattin den Gatten, der Liebhaber die Liebste … Wer fürchten mußte »verdächtig« zu sein, konnte ja nichts Besseres tun, als einen anderen denunzieren! Wo waren die Zeiten des Verbrüderungsfestes hin, da ein besorgter Mentor dem Fremden Wohnung und Preis anmutiger Fräuleins, listenmäßig geordnet, verriet? Ach, heute traut sich solch armes Vögelchen kaum mehr auf die Straße, denn irgendeine Feindin könnte sie ja anzeigen, daß sie »die Sitten verdirbt«. Wenn diese Mädchen sich nachts hinauswagen, kleiden sie sich armselig wie kleine Bürgersfrauen, nehmen einen Henkelkorb und wenn möglich ein Kind auf den Arm, damit man ihnen ihr Gewerbe nicht anmerkt.

Die Stadt fiebert nicht mehr, steht nicht mehr auf. Sie ist der ewigen Greuel satt, der Anblick der triefenden Todeskelter läßt sie gleichgültig oder bereitet ihr Ekel. Auf dem Revolutionsplatz, wo die Guillotine aufgeschlagen ist, steht das Blut knöcheltief, so daß es mit Eimern nicht mehr ausgeschöpft werden kann und man sich anschickt, es durch eine Wasserleitung wegspülen zu lassen. Die Bevölkerung sieht mit Unwillen, daß täglich Scharen von Hunden sich einfinden, um das Blut aufzulecken.

Das große Grausen geht um. Hinter jedem steht täglich, stündlich der Tod. Viele Mitglieder des Konvents wagen nicht mehr, in ihrer eigenen Wohnung zu schlafen, nächtigen wochen-, monatelang jede Nacht bei einem anderen Freund, den sie beim Morgengrauen verlassen, um seine Gastfreundschaft nicht durch einen Haftbefehl lohnen zu lassen. Der Lebensmut dieser einst so lebensfrohen Stadt ist dahin. Es gibt Frauen, die auf der Straße laut rufen: »Es lebe der König!«, nur damit irgendein Spitzel sich ihrer erbarme und sie dem Tod in die Arme führe, den zu entbieten die eigene Hand zu schwach ist.

Er aber, der dem finsteren Winzer unablässig gebot: »Töte!«, er saß derweil in seinem Stübchen der Rue St. Honoré und träumte vom Zukunftsstaat, dessen treuer und glückseliger Sohn er sein wollte. Verblendeter Mann, der nicht begriff, daß er kein Kind der Zukunft sondern ein Mensch der Vergangenheit war, ein hinter seiner Zeit Zurückgebliebener, ein alter 92er, indes die Weltenuhr schon 94 zeigte. Und eben weil er ein Stehengebliebener war, verstand er sie nicht mehr, die mit ihm gestritten und gehofft und gemeint hatten, man brauche nur eine alte Form zu zerschlagen, dann stünde eine neue gleich fix und fertig da. In Glut und Rausch waren sie einst einhergebraust, eine Stoßtruppe der Freiheit. Mit stürmender Hand hatten sie die Bollwerke eines veralteten Despotismus genommen, waren trunken gewesen von Sieg und Glück und Morgenrot. Allmählich aber war der Rausch aus den Köpfen gewichen, und ernüchtert betrachteten sie, was aus ihren stürmenden Siegen geworden war. Da merkten sie, daß doch nicht alles schlecht, bloß weil es alt, und nicht alles gut, bloß weil es neu war, und wenn sie auch entschlossen waren, nie mehr unter die Knute des Despotismus zurückzukriechen, so erwachte doch in den meisten und gerade in den besten von ihnen eine Sehnsucht nach Ordnung, nach Ruhe, nach einem Leben der Arbeit und Stetigkeit nach so vielen Jahren des bewaffneten Müßiggangs und des Umsturzes. Sogar Couthon, Robespierres Kollege im Wohlfahrtsausschluß, meinte, daß man den »Schrecken« beenden und ein neues Regime strenger Gerechtigkeit beginnen müsse.

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Der Triumvir Robespierre.
Satirisches Bild der Zeit.
Aus: A. Challamel, Histoire-Musee de la republique francaise.
Paris 1842. Bd. II

Berauscht waren sie alle gewesen, bis auf einen – Robespierre. Denn was den anderen nur Rausch gewesen, war ihm Weltanschauung, Glaubensbekenntnis. Jean Jacques' Jünger war er stets gewesen, war er geblieben, würde er immer sein. Heute wie einst gilt das Gelöbnis, das er seinem Abgott abgelegt hatte. Er merkt nicht, daß sein Gottesdienst allmählich Baalsdienst geworden ist und daß der Evangelist der Weltglückseligkeit die gräßlichen Opfer verschmähen würde, die täglich auf seinem Altar dargebracht wurden. Er vergißt auch, daß Rousseau selbst erklärt hat, der »Contrat social« eigne sich wohl für ein kleines Land, wie etwa die Schweiz, keineswegs aber für sämtliche Länder ohne jeglichen Unterschied. Unbestechlich, unbeirrbar schreitet er, die kurzsichtigen Augen starr auf die Fata Morgana seines Lebens gerichtet, seinen Weg weiter. Der führt aufwärts, immer aufwärts, daß die Stimmen der Menschen nur mehr als undeutliches Gewirr zu dem Voranschreitenden heraufklingen, der bald so hoch und – so einsam steht wie ein König. Da befällt auch ihn ein Rausch – der Höhenrausch. Vermessen reckt er die schmächtige Gestalt, um jenen zu gleichen, denen es beschieden ist, der stöhnenden Menschheit die Botschaft der Erlösung zu bringen. Und in der Vermessenheit, die grotesk erscheint, zugleich eine Sehnsucht, eine demütige Inbrunst, die so jung, so einfach-menschlich ist, daß sie ergreift.

Ja, eine Heilsbotschaft muß der gepeinigten Menschheit werden. Nach großen Katastrophen macht sich bei allen Völkern ein starkes Bedürfnis nach seelischer Erneuerung, nach Glauben, bemerkbar und so weitabgewandt und weltunkundig Robespierre auch ist, und so still-bürgerlich er auch bei und mit den Duplays lebt, und so viel seine Spione ihm auch von »Verrat« berichten, so weiß er doch: Frankreichs Seele hungert und dürstet, und nur ein neuer Glauben kann ihr Begehren stillen. Wahrscheinlich, ja gewiß könnte es auch der alte sein, den man mit der Monarchie abgeschafft hat, aber Robespierre will nichts wissen von einem zürnenden Jehovah und nichts von einem leidensvollen Christus. Frankreichs Gott soll milde, gütig, erhaben und zugleich freundlich sein, etwa so wie ein heilig gesprochener Jean Jacques, sofern Robespierre an Heiligsprechungen glaubte. Er ist nicht leicht zu formulieren, dieser neue Gott mit seinem neuen Kult, und nur unklar schwebt er Robespierres Geist vor. Aber was könnte mißlingen, was im Geiste und im Namen Jean Jacques' geschieht?!

Immer höher schreitet der Fuß, immer höher reckt sich die schmächtige Gestalt. Einst hieß es: »Was bedeuten sechstausend Tote, wenn es sich um Prinzipien handelt?!« Heute heißt es: »Was bedeuten zwanzigtausend abgeschlagene Köpfe, wenn es als Tausch einen neuen Glauben gilt?!

Höhenrausch … Machtrausch … umnebelnde Verzückung des Mystikers. Und in der Wonne seines Fiebers merkt er die Gefahren nicht, die ihn am Wege belauern. Hört nicht, wie in dem undeutlichen Stimmengewirr, das von drunten zu ihm dringt, schon die Lippen der Verschwörer wispern. Barras … Fouché … Tallien … Fréron … lauter Kommissäre, die in aufständischen Städten wüteten und sich bereicherten. Und neben ihnen andere, Ehrlichere, die nicht aus persönlicher Furcht sondern aus Angst um Frankreichs Leben dem Blutvergießen Einhalt gebieten wollen.

Sie flüstern … machen Pläne … erwägen … schrecken zurück … zaudern … fassen wieder Mut … bedenken sich abermals … Es ist keine kleine Sache, sich an Robespierre zu wagen. Mißlingt sie, behält keiner von all den unternehmenden Herren den Kopf zwischen den Schultern.

Er hört ihr Wispern nicht, ahnt nicht, welch erbärmliche Kleinigkeiten sie aufstöbern, aufbauschen, sinnlos vergrößern werden, um ihn zu Fall zu bringen. Vor allem ahnte er nicht, daß für ihn, auf den die kleine Cécile Renault soeben (Mai 1794) ein lächerlich inszeniertes Attentat hatte verüben wollen, schon eine andere Frau den Dolch schärft …


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