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Wenn der Kritiker Belinsky in seinen literarischen Jahresüberblicken die Werke der modernen russischen Dichtkunst an seinem Auge vorüberziehen ließ, dann suchte er immer ihre engen Beziehungen zu dem Zeitmoment, zu dem nationalen Wollen und Werden hervorzuheben. Wer seitdem die russische Literatur lediglich nach ihrem ästhetischen Wert würdigen will, kann ihrer vollen Bedeutung nicht gerecht werden. Die Ideen und Forderungen, die den geistigen Inhalt der russischen Gesellschaft im Zeitalter der Reformen ausmachen, geben auch zu Turgenjews bedeutendsten Werken den Hintergrund. Seine sozialen Romane sind Dokumente russischer Kultur; sie zeichnen die Symptome und Stadien der Krankheitsgeschichte des Volkes in der Zeit, da es sich zur Genesung durchringt. Scharfsichtiger und feinfühliger hat niemand den Moment zu erfassen vermocht.
Den Dichtern, die in weltschmerzlicher Klage, in bitterer Satire und in wildem Haß ihre Unzufriedenheit mit dem Geschick des Vaterlandes erschöpft hatten, stand das Ziel ihrer Angriffe noch nebelfern. Erst die neue Generation begann, die Kräfte des Feindes und die eigene Kraft abzumessen. Dem Zusammenprall der Massen geht der Aufklärungsdienst voran.
Wann wird der Retter kommen seinem Volke? Die Frage lastete uns Turgenjews »Tagebuch eines Jägers« auf. Und mit dem Zweifel: Bist du es, oder sollen wir eines anderen warten? wenden wir uns den Helden seiner kulturgeschichtlichen Erzählungen zu. Ihre Reihe beginnt mit » Rudin« (1855).
In die Welt einer ländlichen Abgeschiedenheit, in den Kreis einfacher, tüchtiger Menschen, die auf dem Gute der Frau Darja Michailowna Lassunsky leben, tritt plötzlich Dimitri Nicolaitsch Rudin. Er ist ein Mann von 35 Jahren, mit unregelmäßigen, aber ausdrucksvollen, intelligenten Zügen; in seinen dunkelblauen, lebhaften Augen schimmert ein feuchter Glanz. Sofort mit seinem Erscheinen entspinnt sich eine echt russische Gesprächigkeit über soziale Theorieen, Hypothesen, Systeme. Der Neuling offenbart sich als ein belesener, geistreicher, formgewandter Sprecher, der mit seinem feurigen Schwunge, seinen kühnen Gleichnissen und mit seiner klangvollen Stimme – kurz, mit der Musik der Beredsamkeit die Zuhörer alle dahinreißt. Darjas Tochter Natalie ist sogleich von diesem Zauber gefangen. Sie ist jung und mit ihren siebzehn Jahren noch nicht völlig entwickelt, doch sind ihre Züge markiert, regelmäßig und edel. Sie ist schweigsam, aber unter dieser schwermütigen Stille schläft eine starke und tiefe Leidenschaft. Rudin wird ihr Held, dieser Romantiker, den sie im Glorienschein sieht, wie er einem großen Volke seine großen Gaben austeilt. Er liest ihr Goethes Faust vor und redet zu ihr vom Tragischen in der Kunst und im Leben. Und sie öffnet ihm ihr Herz und gibt es ganz in seine Hand. Aber Rudin ist ein Poseur, ein Feigling. Die Zuneigung Nataliens schmeichelt ihm, doch als er handeln soll, als er das tapfere, goldene Mädchen an sich reißen, zu seinem teuern Besitz machen und verteidigen soll, bringt er es nur zu phrasenhaften Lamentationen über sein verwünschtes Geschick. Statt entschlossener Kraft eine armselige Resignation. Da wendet sich die Willenskräftige von dem Schwachmütigen, und der Theaterheld, der so oft von Aufopferung und Hingabe deklamiert hat, sinkt gar jämmerlich vor ihr zusammen. Natalie schließt das romantische Kapitel ihres jungen Lebens ruhig und sicher ab, und der Name Rudins tritt nicht wieder auf ihre Lippen. Von allen Personen ist der Gutsbesitzer Leschnew der einzige, der Rudins Wesen klar bestimmt; er kennt ihn von der Moskauer Universität her. Rudin liebt es, auf Kosten anderer zu leben, er ist kalt wie Eis, und seine Ehrlichkeit und Offenheit sind nicht über allen Zweifel erhaben. Aber er ist doch auch wieder kein Betrüger und Schelm. Und wenn er selbst auch aus Mangel an Energie nichts Großes vollbringen kann, – seine Worte können doch eine Aussaat sein, die in vielen jungen Seelen schöne und edle Gedanken aufgehen läßt. »Wenn der geistige Gehalt dessen, was man der Jugend vorträgt, nur schön und wertvoll ist, so kümmert sie sich blutwenig um den Ton; in sich selbst wird sie immer schon den richtigen Ton finden.« Rudin ist Kosmopolit, und sein Unglück ist es, daß er Rußland nicht kennt. »Ja, die Natur hat mir viel gegeben«, – schreibt er in seinem Abschiedsbrief an Natalie – »aber ich werde sterben, ohne etwas getan zu haben, was meiner Fähigkeit würdig wäre … Das Ende wird sein, daß ich mich hinopfern werde für irgend eine Torheit, für irgend ein Nichts, an das ich selbst nicht einmal glaube.« So zieht er ruhelos wie Ahasver durchs Land, ein Samenstreuer, aber kein Erntender; er beginnt tausenderlei und bringt nichts zu Ende. Das ermattet Körper und Geist und läßt das Haar früh ergrauen. Am 24. Juni 1848 wird er auf den Barrikaden vor Paris erschossen. Zur Gestalt dieses Helden hat Turgenjews früherer Freund, der Agitator Michael Bakunin, dem Dichter gesessen, und alle Hoffnungen des jungen Rußlands, alle ringenden Ideen und Aufgaben einer erwartenden Zeit leben und weben in der Atmosphäre dieser Geschichte.
Als Sewastopol gefallen und der Friede von Alexander II. unterzeichnet war, begann für Rußland die Wiedergeburt. Es war eine Epoche, die an die Zeit der preußischen Reformen nach dem unglücklichen Tage von Jena und Auerstädt denken läßt. Die furchtbaren Schläge, die im Krimkriege herabgesaust waren, schrieben Herrscher und Volk einmütig den Mißbräuchen der Verwaltung zu. Das konservative Rußland Nikolaus' I. war tot, jedermann fühlte freisinnig. Ein Sturm jugendlichen Dranges brauste daher, die Zungen, die früher die Zensur zum Schweigen verdammt hatte, redeten eine unerhört kühne Sprache, tausend ungezügelte Wünsche strebten nach Gestaltung. »Wir haben es dem Kriege zu verdanken,« – hieß es in einer Zeitschrift – »daß er uns die Augen über die Schattenseiten unserer staatlichen und geselligen Zustände geöffnet hat, und es ist unsere Pflicht, aus dieser Lehre Nutzen zu ziehen … Wir haben im Namen der höchsten Wahrheit gegen die Selbstsucht und die armseligen Ansprüche des Augenblicks zu kämpfen; wir müssen unsere Kinder vom zartesten Alter an daran gewöhnen, an diesem Kampfe teilzunehmen, der jeden ehrlichen Menschen erwartet.« Rücksichtslos ward aller Romantismus abgetan, und wo ein paar Russen zusammenstanden, lenkte das Gespräch auf Erziehung, Selbstverwaltung, gewerbliche Association, auf Handelspolitik, auf Eisenbahn- und Bankwesen ein. Fleißige Hände kehrten den alten Schutt zusammen und rissen nieder, was morsch und schwammig war, um dem Neubau des Staates Platz zu schaffen. In London erschien 1857 Herzens Wochenblatt »Die Glocke« ( Kolokol) und wirkte mit scharfem Stachel auf die öffentliche Meinung in Rußland ein. Die verbotene Zeitschrift war in aller Händen und erregte mit ihrer rückhaltslos freien Sprache die Nation, die zur Mitarbeit berufen war. Das Land war in der Stimmung des heiligen Abends, und die Herzen klopften dem beglückenden Morgen entgegen.
Diesen Moment packt Turgenjews Novelle » Am Vorabend«. (1859. Auch unter dem Titel »Helene«.)
Zwei junge Russen, Freunde miteinander, der jugendlich sorglose, geniale Bildhauer Schubin und der ungelenke, pedantische, ehrliche Philosoph Berssenjew, lieben beide dasselbe junge Mädchen. Die ganze Dichterkraft ist auf die Modellierung dieser Helene konzentriert. »Sie war vor kurzem 20 Jahre alt geworden. Sie war von hohem Wuchs, hatte ein bleiches, brünettes Gesicht, unter runden Augenbrauen große, graue Augen, um die seine Sommersprossen lagen, Stirn und Nase in ganz gerader Linie, einen festgeschlossenen Mund und ein ziemlich hervortretendes Kinn. Dunkelbraune Haarflechten fielen über den schlanken Hals tief in den Nacken hinab. In ihrem ganzen Wesen, im gespannten und etwas scheuen Ausdruck des Gesichts, im klaren, doch wechselnden Blick, in dem gleichsam gezwungenen Lächeln, in der sanften und ungleichen Stimme lag etwas Nervöses, Elektrisches, etwas Heftiges und Hastiges, mit einem Worte etwas, was nicht jedermann ansprechen, ja manchen sogar abstoßen konnte.« Das Leben gibt sich diesem Mädchen nicht leicht und gräbt alle Eindrücke scharf in ihre Seele, und ihre Anforderungen an die Menschen selbst sind stets auf das Höchste gerichtet. Schwäche empört sie, Dummheit ärgert sie, Lüge verzeiht sie in alle Ewigkeit nicht. Von Kindheit an ist sie bedacht, sich nutzbringend zu beschäftigen, und ihre Tätigkeit widmet sie den Armen und Kranken, selbst den leidenden Tieren. Die wohlhabenden, aber geistig schwerfälligen Eltern schränken ihre Neigungen nicht ein; sie ist unabhängig und sucht sich doch frei zu machen und quält sich müde. Der ernste Berssenjew, an den sie sich lehnt, erzählt ihr einst von seinem Studienfreunde, einem Bulgaren, dessen ganzes Sinnen auf die Befreiung seines Vaterlandes gerichtet sei. »Sein Vaterland befreien«, – sagte Helene – »diese Worte auszusprechen ist schon gewaltig, so groß sind sie!«
Dieser Freiheitsheld ist Inssarow. Seine Vergangenheit ist geheimnisvoll und romanhaft; sein fünfundzwanzigjähriges junges Leben ging schon durch Not und Tod hindurch. Er ist hager und sehnig, mit eingefallener Brust; seine Gesichtszüge sind scharf, die Stirn ist niedrig, die Nase gebogen; die kleinen Augen liegen tief unter den dichten Brauen und blicken starr. Wenn er lächelt, kommen herrliche weiße Zähne auf einen Augenblick hinter den feinen, harten, gar zu scharf geschnittenen Lippen zum Vorschein. Er ist ein Mann von Eisen, mit herbem, verschlossenem Wesen, aber dem Vertrauten gibt er sich mit Kindlichkeit und Offenherzigkeit. Geschichtliche und sprachwissenschaftliche Studien beschäftigen ihn. Ist aber von seinem Vaterlande die Rede, dann wird sein ganzes Wesen fester, vorwärtsstrebend, die Lippe unerbittlicher, und in der Tiefe seiner Augen entzündet sich ein dunkles, unauslöschbares Feuer.
Helene lernt ihn kennen, und er ist die Erfüllung ihrer leidenschaftlichen, jungen Sehnsucht. Ihrem Tagebuch gibt sie Rechenschaft von dem Aufschwung ihrer Seele: »Er ist der erste wahrheitsliebende Mensch, den ich kennen lernte; alle anderen lügen« … »Sobald er von seinem Vaterlande erzählt, wächst er und wird immer größer« … »Es sind nicht bloß Worte, er sieht schon auf Taten zurück, und andere Taten harren seiner« … »Wir können uns beide nicht für Gedichte erwärmen und haben beide kein Verständnis für die Kunst« … »Sein Wesen ist deshalb so klar, weil er sich ganz seiner Idee, seiner Aufgabe hingiebt« … »Das erlösende Wort ist gefunden, das Licht ist aufgegangen! Mein Herr und Gott, sei mir gnädig, – ich liebe!«
Auch Inssarow fühlt, daß er liebt; aber er will dieser Liebe entfliehen, um nicht seinen Plänen und Pflichten untreu zu werden. Da er ihr ausweicht, geht sie zu ihm. Sie bedeckt ihr Gesicht, und ihr Körper zittert: »Sie wollen mich zwingen, Ihnen zu sagen, daß ich Sie liebe, – jetzt – habe ich es ausgesprochen.« Er aber steht regungslos, mit kräftiger Umarmung hält er dies junge Leben, das sich ihm hingegeben hat, er fühlt diese neue, unendlich kostbare Last an seiner Brust; Rührung, unsägliche Dankbarkeit haben seine harte Seele gebrochen, und nie geahnte Tränen treten ihm in die Augen … Sie aber weint nicht; sie sagt nur immer, »O, mein Freund! o, mein Bruder!« … »Und du gehst mit mir überall hin?« fragt er … »Überall hin, bis ans Ende der Welt; wo du bist, da bin ich auch.« Ohne Schwanken bricht Helene alle Beziehungen zu ihrem Elternhause und ihrem Vaterlande ab; sie will dem Geliebten in seine Heimat folgen, über die der Tag der Freiheit jetzt kommen soll. Der Krimkrieg bricht los. Aber eine Lungenentzündung wirft Inssarow nieder; als ein Sterbender erreicht er die Lagunenstadt. Mit glühenden, goldigen Tönen rauscht der Hymnus auf die traumhaft schöne Venezia, die im Reize des Hinwelkens ihre höchsten Triumphe feiert, – und der Lobgesang wird zu einem ergreifenden Sterbelied – morir si giovane. Eine kurze Glückseligkeit voll Vergessens, dann steht der Tod am Lager Inssarows. »O Gott«, – fleht Helene – »gib ein Wunder, oder, sind wir schuldig, dann laß uns beide sterben, aber nicht im dumpfen Zimmer, sondern einen ehrenvollen Tod auf dem Schlachtfelde in seiner Heimat!« Sie denkt an den Schmerz, den sie ihrer Mutter bereitet hat, und weiß nicht, daß das Glück jedes Menschen das Unglück anderer zur Voraussetzung hat. Sie steht am Fenster und sieht über dem Wasser eine weiße Möve aufgeschreckt hin- und herflattern. Kommt die Möve hierher geflogen, – denkt sie – so ist es ein gutes Vorzeichen … aber die Möve fliegt weit hinaus ins Dunkle. Am nächsten Tage ist Inssarow tot. Es ist das grause, unbestechliche Schicksal, das ihn zerbricht. Was braucht der arme Mensch zu grübeln, ob der Tod eine Strafe Gottes ist für eine begangene Schuld? »Jeder von uns ladet schon dadurch, daß er lebt, eine Schuld auf sich; niemand ist davon ausgenommen. Weder der bedeutendste Denker, noch der größte Wohltäter der Menschheit kann sich von dieser Schuld loskaufen, – selbst sie erhalten durch den Nutzen, den sie der gesamten Menschheit stiften, noch nicht ein Anrecht auf das Sein.« – Helene bleibt dem Andenken des Gatten und seiner Aufgabe getreu; sie führt den Leichnam in seine Heimat hinüber und pflegt im Freiheitskampfe der Bulgaren die Kranken und Verwundeten.
Inssarow ist ein ganzer Mann mit einem Geist voll Klarheit und einem Herzen voll kühner, großer Ideen. Rußland hat solche Männer nicht; aber es hat herrliche Frauen, willensstark und klug und selbstlos wie Helene. Das ist der politische Grundton der Geschichte. Schubin drückt ihn gelegentlich am besten aus: »Ich muß doch sagen, daß Inssarow verdient, die Helene zu besitzen. Aber nein, das ist Unsinn. Ich gebe ja zu, daß er ein tüchtiger Mensch ist und in der Not seinen Mann stehen wird, – aber bis jetzt hat er doch wahrhaftig nicht mehr geleistet als unsereiner auch. – Wir wollen nicht prahlen; wir haben keinen Grund dazu, denn wir haben überhaupt keine Männer, wohin wir auch immer blicken mögen. Entweder haben wir es mit unlustigem, verdrossenem Gelichter zu tun, Hamletsnaturen, oder mit total unwissenden Knaben, oder endlich mit Müßiggängern und Maulhelden … Nein, dieses Mädchen würde sich nicht so leicht entschlossen haben, unsern Kreis zu verlassen, wenn dieser Kreis wirklich tüchtige und kluge Leute aufzuweisen hätte. Nun, Uwar Iwanowitsch, was meinen Sie, – wann werden wir so weit sein, tüchtige Leute in unserem Kreise zu sehen?« … Und der dicke, schlafmützige Uwar sagt: »Warte nur ab, sie werden schon kommen!«
Wenn die Zeit kommt, die das Alte stürzt, dann scheiden sich Väter und Söhne. Den Vätern ist es nicht mehr gegeben, mit junger Schwungkraft über die Mauern zu setzen, die ihren Horizont umbauen. Draußen aber stürmen die Söhne dahin wie ein wirbelnder Sausewind über den Eichenwald und regen den Staub in Wolken auf, Reformierer, die das ganze Leben der Gesellschaft, die sich selbst und die Menschheit umbilden wollen. Die Idealisten werden zu Materialisten und pietätlosen Egoisten, das Gefühl schweigt, der Verstand spricht. Wer beugt da noch das Knie vor einer ehrwürdigen Autorität, wer betet da noch zu den schönen Göttern, die Dichter und Künstler geschaffen! Nur die positive Wissenschaft gilt. Das ist die Strömung des Nihilismus. Turgenjew hat dies Wort geprägt, das bald über die ganze Erde ging.
Aber in den sechziger Jahren hatte der Nihilismus noch nicht das Terroristische an sich, das später seine Marke wurde. Die Nihilisten trugen noch nicht den Dolch im Gewande, »sie verfolgten im Grunde sehr unschuldige, rein persönliche Ideale, sie wollten sich eine freie, bürgerliche Existenz gründen, ein sittenreines Leben führen und sich von jeglicher Korruption frei halten.«
Zu Ventnor auf der Insel Wight faßte Turgenjew im August 1860 den Plan zu seiner Erzählung » Väter und Söhne«. Nach der Art seines dichterischen Schaffens ging er bei der Konzeption von einem festen Punkte aus. Das waren die Gesichtszüge eines jungen russischen Kreisarztes, den er auf einer Bahnfahrt in Deutschland durch Zufall kennen gelernt hatte. Ein großer, hagerer, schwindsüchtiger Mensch mit schwarzem Haar und braunem Teint. Alle seine Ansichten waren schneidend und originell. Aus dem, was die Erinnerung dieser Begegnung in Turgenjew zurückließ, schuf er den Nihilisten Basarow. Und um dies Gebilde setzte sich dann die ganze Fabel des Buches an. In Paris warf der Dichter noch im Winter die ersten Kapitel aufs Papier; der Schluß wuchs im Juli 1861 in Spaßkoje hinzu. Im März 1862 erschien das Ganze in Rußki Westnik.
Auf seinem schönen Landgute zu Marino lebt einsam nach dem Tode seiner Frau Nikolaus Petrowitsch Kirsanow, in dem wir manchen Zug von Turgenjews eigener Persönlichkeit entdecken. Es ist im Jahre 1859, zwei Jahre vor der Aufhebung der Leibeigenschaft. Er hat sich mit seinen Bauern bereits »arrangiert«, und die anderen Gutsbesitzer nennen ihn ob seiner harmlosen liberalen Gesinnung den Roten. Er ist zu wohlwollend, zu gutmütig und unerfahren, um ein tüchtiger Landwirt sein zu können, zumal in einer wirtschaftlichen Krisis, da alle neuen Anordnungen zur Regelung des Verhältnisses zwischen dem Herrn und seinen alten Leibeigenen noch wie ein schlechtgeschmiertes Rad knarren. So zeigen die Felder des Gutes nicht minder als die armseligen Dörfer mit den niedrigen, halbzerfallenen Hütten und erbärmlichen Scheunen ein elendes Aussehen. Faule Arbeiter, diebische Bauern, verschmitzte Verwalter, unbrauchbare Maschinen überall, und nirgends Wohlstand und nirgends Fleiß inmitten eines grüngoldigen, funkelnden Frühlings. Kirsanow meistert die Lage nicht; mit dem Gleichmut, der sich in das Schicksal fügt, legt er die Hände in den Schoß und behagt sich, weit davon entfernt, unglücklich zu sein, im Sinnen und Träumen von den Tagen seines Liebesglücks. Dann spielt er mit Gefühl Schuberts süße Melodieen aus dem Violoncell, und dem leicht Gerührten tritt ein Vers von Puschkin auf die Lippen und eine zarte Träne in die Augen. Er ist ein Romantiker inmitten des erwachenden Realismus.
Unter seinem Dache lebt mit ihm in herzlicher Weise zusammen sein Bruder Paul Petrowitsch, ein verabschiedeter Gardeoffizier. Ein verwöhnter, koketter Löwe der Petersburger Gesellschaft ist das einst gewesen. Die unselige Liebe zu einer excentrischen Fürstin hat ihn aus der Bahn gerissen und zerbrochen. Da ist seine Seele vertrocknet, und er wurde ein eigensinniger Hagestolz, zu spröde, um ein neues Leben zu beginnen, melancholisch, vereinsamt, verbittert, sarkastisch. Das Edle, Feinfühlige, Gutmütige seiner Natur ist im Grunde geblieben, auch wenn er sich launenhaft mit einer Sphäre der Unnahbarkeit umgiebt und in hoheitsvoller Pose den stilvollen Menschenfeind und prinzipienfesten Aristokraten aus Alexanders I. Tagen spielt. Sein peinlich gepflegtes Äußeres, sein elegantes, modernes englisches Kostüm schält ihn aus dem primitiven russischen Milieu heraus.
In das stille Leben dieser zwei alten Brüder, in das enge Gehege ihrer Anschauungen und Traditionen platzen nun zwei junge Leute wie eine Bombe hinein. Nikolaus' Sohn Arcadi kehrt von der Universität heim; er ist ein kleiner Renommist, der gern den Energischen spielen möchte und doch als herzensguter Junge mit kindlicher Zärtlichkeit die Liebkosungen des gerührten Vaters erwidert. In jugendlichem Enthusiasmus hat er sich der Freundschaft eines Mannes hingegeben, dessen Ideen ihn ganz erfüllen und beherrschen; und diesen Freund bringt er nun mit sich in die Heimat. Es ist Eugen Wassiljew Basarow. Ein Plebejer tritt er sans gêne in den Kreis der Aristokraten. Er ist jung und schlank, seine Hände sind breit und rot, er hat ein langes, mageres Gesicht, eine hohe Stirn, starke Nase, große, grünliche Augen und einen lang herabhängenden, sandfarbenen Backenbart. Seine wenig sorgfältige Toilette ist mit dem intensiven Geruch von billigem Tabak imprägniert. Um seine Lippen liegt ein ruhiges Lächeln, und seine ganze Physiognomie drückt Geist und Selbstvertrauen aus. Als Gelehrter erkennt er nur die exakte Forschung der Naturwissenschaft an, und im Leben leitet ihn allein der Grundsatz der Nützlichkeit. In allem ein gesunder, nüchterner Mann, ein Feind des Faulen, Schlaffen, Arroganten, Lügenhaften, ist er ganz auf sich selbst gestellt. Täppisch reißt seine Hand all den schönen Schein herunter, den Menschensinn um die nackten Dinge webt. Was ist ihm Raffael! Er kennt nur die Kunst, Geld zu verdienen und die Hämorrhoiden gründlich zu kurieren; und Schubert und Puschkin und Liebe und Ehe und Staat und Gemeinde und Heimatsgefühl und Naturschwärmerei, – es ist ihm alles Alfanzerei und alberne Romantik. Selbst die Logik ist eine müßige Abstraktion. Keine Prinzipien, keine Autoritäten finden Gnade; er hat die Kühnheit, alles zu negieren und zu glauben an nichts, – kurz, er ist der Nihilist. In seinen Disputationen mit Nikolaus und Paul Kirsanow reißt er die Kluft auf, die die Väter von den Söhnen scheidet, und in all diesen Wortgefechten sitzt er fest im Sattel, selbstbewußt und gescheit führt er das Wort, und da er nie trivial oder schwatzhaft wird, erzwingt er sich die Sympathieen.
Als Basarow am Morgen nach seiner Ankunft in Marino ausgegangen ist, um Frösche zum Secieren zu suchen, sitzen Nikolaus und sein Sohn Arcadi auf der Terrasse beim Frühstück, und als dritter gesellt sich Paul zu ihnen. Er dreht seinen Schnurrbart und wendet sich an Arcadi: »Was ist denn eigentlich der junge Herr Basarow?« fragte er langsam.
»Was Basarow ist?« Arcadi lächelte. »Oder soll ich dir sagen, lieber Onkel, was er eigentlich ist?«
»Tu mir den Gefallen, mein teurer Neffe.«
»Er ist Nihilist.«
»Was?« fragte Nikolaus Petrowitsch.
Was Paul Petrowitsch betrifft, so hob er das Messer, dessen Spitze ein Stückchen Butter trug, plötzlich hoch empor und blieb dann unbeweglich. »Er ist Nihilist,« wiederholte Arcadi.
»Nihilist!« sprach Nikolaus Petrowitsch. »Das Wort kommt von dem lateinischen nihil = nichts, soweit ich es beurteilen kann, und bezeichnet also einen Menschen, der … nichts anerkennt?«
»Oder vielmehr, der nichts achtet,« versetzte Paul Petrowitsch, der sein Brot wieder mit Butter zu bestreichen anfing.
»Oder vielmehr, der alles vom Standpunkte der Kritik aus beurteilt,« bemerkte Arcadi.
»Kommt das etwa nicht auf eins hinaus?« fragte Paul Petrowitsch.
»Nein, durchaus nicht. Ein Nihilist ist ein Mann, der sich vor keiner Autorität beugt, der kein einziges Prinzip auf Treu und Glauben annimmt, gleichviel in wie hohem Ansehen dieses Prinzip in der Meinung der Menschen steht.«
… »Früher hatten wir Hegelisten, jetzt also Nihilisten. Wir werden sehen, wie ihr in dem Nichts, in dem Vacuum, gleichsam unter einer Luftpumpe existieren könnt. Und jetzt, Bruder Nikolaus, sei so gut und klingle eben, ich möchte meinen Kakao trinken.«
Und bei einem anderen Gespräch, als Paul Petrowitsch es für unbegreiflich hält, wie jemand ohne Grundsätze leben könne, entgegnet Basarow selbst noch deutlicher: »Wir lassen uns von dem leiten, was wir als nützlich erkennen. Gegenwärtig scheint es uns nützlich, alles zu verneinen, – und wir verneinen.« – »Alles?« – »Alles!« – »Wie! nicht bloß Poesie und Kunst … sondern auch …, ich nehme Anstand es zu sagen …« »Alles,« wiederholte Basarow mit unaussprechlicher Ruhe. »Aber erlauben Sie, erlauben Sie,« mischte sich Nikolaus Petrowitsch ein, »Sie verneinen alles, oder, um mich richtiger auszudrücken, Sie zerstören alles … Aber man muß doch auch wieder aufbauen!« »Das geht uns nichts an … Zunächst muß reine Bahn gemacht werden!« Und weiter sagt Basarow, als man ihn nach dem Treiben der Nihilisten fragt: »Wir predigen nicht, wir klagen an. Zunächst haben wir damit begonnen, die Aufmerksamkeit zu lenken auf die Bestechlichkeit unserer Beamten, auf den Mangel an Straßen, auf die Abwesenheit von Handel und Industrie und auf den elenden Zustand unserer Justiz … Und wir sind nicht so wenige, als Sie glauben; wissen Sie denn nicht, daß ein Kopekenlicht genügte, die ganze Stadt Moskau einzuäschern!«
Von den beiden »alten Knaben«, die nach Basarows Schätzung in die Rumpelkammer gehören, besitzt der gutmütige Nikolaus Resignation genug, um der Jugend ihr Recht zu geben. Nach einem heftigen Wortgefecht sagt er zu seinem Bruder: »Weißt du, an was dieser Disput mich erinnert hat? Einst stritt ich mit unserer seligen Mutter; sie schrie und wollte mich gar nicht anhören … Endlich sagte ich zu ihr: Freilich, du kannst mich nicht verstehen, wir gehören zwei verschiedenen Generationen an! Diese Worte verletzten sie schrecklich; ich aber dachte, was ist da zu machen? Die Pille ist bitter, aber sie muß verschluckt werden. – Jetzt ist die Reihe an uns, und unsre Nachfolger können ihrerseits zu uns sagen: Ihr gehört nicht zu unserer Generation, verschluckt die Pille!«
Anders Paul Petrowitsch. Der Aristokrat haßt instinktiv den Plebejer, dessen geistige Überlegenheit und Schlagfertigkeit ihn wie mit Peitschenhieben trifft. Er verteidigt seine Position ritterlich, aber es hätte eines besseren Helden bedurft, um den Glauben an Autorität und an Prinzipien und all den schönen Blütenduft der Zivilisation zu retten.
Basarow ist ein Sieger. Die Kinder, die Leute des Dorfes fühlen eine natürliche Neigung zu ihm, und die Achtung der anderen weiß er sich zu erzwingen. Da bringt ihn eine Frau aus dem Gleichgewicht, das seine Stärke ist. Es ist die schöne, liebenswürdige, kluge Anna Odinzow, die nach dem Tode ihres Mannes zusammen mit ihrer jungen Schwester Katia auf ihrem Gute lebt. In ihrer Einsamkeit interessiert sie Basarow, sein gescheites Gespräch, seine feste Persönlichkeit fesseln sie; und der Mann, der über die Liebe erhaben war, der jeden Toggenburg und Troubadour für verrückt hielt und lieber Steine geklopft als einer Frau die Spitze eines Fingers geküßt hätte, muß jetzt den Reiz süßer Frauenanmut spüren. Er kann das Gefühl nicht mehr mit cynischem Scherz verjagen, es empört sich in ihm, es bricht aus ihm: »Ich liebe Sie närrisch, wahnsinnig.« Einen Augenblick blitzt auch in ihr eine unwillkürliche Zärtlichkeit auf, nur einen Augenblick, dann stößt sie den Wilden von sich; die Liebe soll ihre Ruhe und Unabhängigkeit nicht stören.
Basarow flüchtet zu seinen Eltern, den prächtigen, frommen Alten von der Schar der geistig Armen, die den einzigen Sohn vergöttern. Aber die quälende Leidenschaft scheucht ihn von ihrem stillen Herde auf, daß er zu der Flamme zurückflattert, die ihm die Flügel verbrannte. Frau Odinzow versteht es schon zu theoretisieren: »Sehen Sie, wir haben uns beide getäuscht, wir stehen nicht mehr in der ersten Jugend, besonders ich nicht; wir haben ausgelebt, wir sind müde. Wir sind beide kluge Leute; anfangs interessierten wir uns für einander, die Neugierde war erregt … und dann …« »… Und dann wurde ich ein Narr,« ergänzt er. Ihm hilft alles Spintisieren nicht über das nagende Gefühl hinweg, daß er der Frauenliebe unterlag. Und abermals flüchtet er zu seinen Eltern. Seine Raubvogelnatur hat er eingebüßt, langweilig schleichen ihm die Tage dahin. Selbst das Schimpfen vergißt er. Eines Tages vergiftet er sich bei der Sektion einer Typhusleiche. Den Riesen fällt der kleine Schnitt im Finger. Traurig welkt das Leben, das so strotzender Keime voll war. Im Tode triumphiert die Romantik über den nüchternen Realisten. Seine Gedanken fliegen im Fieber zu Frau Odinzow. »Sagt ihr, Eugen Basarow läßt sie grüßen, und – er wäre am Sterben!« Sie eilt zu ihm; er sieht sie wie den himmlischen Engel an seinem Bette stehen; unter dem Kuß, den sie auf seine Stirn drückt, entschlummert er.
»Väter und Söhne« ist unter den sozialen Erzählungen Turgenjews höchste Leistung. Es ist das Psychologische Bild einer bedeutsamen Kulturepoche in maßvoll begrenztem Umfang und in reizvoller Beleuchtung. Nicht viele Gestalten beleben es, aber jede ist ein Stück Menschheit. Die Charaktere treten nicht von vornherein fest geprägt vor uns; ihr Wesen ist bildsam, und jede neue Lebenswelle bewegt es und läßt eine Seite zu Tage treten, die vorher verborgen war: bei den Starken eine weichmütige Schwäche und bei den Kalten eine warme Gutmütigkeit. Eine gewinnende, einfache Liebenswürdigkeit spielt um alle Personen; sie vermag sogar das eigentümliche Verhältnis des alten Kirsanow zu der jungen Fenitschka mit mildem, unverdorbenem Sinn aufzufassen und in das Licht einer reinen und schlichten Natürlichkeit zu rücken.
Mit einem milden, zarten Finale klingt die Erzählung aus. Im abgelegensten Winkel Rußlands liegt ein kleiner, trübseliger Dorffriedhof, von Unkraut überwuchert. Zwischen den verfaulten hölzernen Kreuzen und den eingesunkenen Leichensteinen werden die Schafe. Aber ein Grab ist da, von keiner Menschenhand entheiligt, von den Tieren nicht mit Füßen getreten. Die Vögel singen darauf ihr Morgenlied. Eugen Basarows Stätte. Und zwei alte Leute kommen alle Tage aus dem Dörflein herüber, vom Alter gebückt und einer auf den anderen gestützt. Sie starren auf das Grab und beten, und ihre bitteren Tränen fallen auf den stummen Stein, unter dem ihr Sohn ruht. – »Ist es möglich daß ihre Tränen, ihre Gebete fruchtlos wären? Ist es möglich, daß Liebe, heilige, hingebende Liebe nicht allmächtig sei? O nein! Wie leidenschaftlich, sündhaft und rebellisch das Herz auch war, das im Grabe ruht, die Blumen, die darauf blühen, sehen uns friedlich an mit ihren unschuldigen Augen: sie erzählen uns nicht bloß von ewiger Ruhe, von der erhebenden Ruhe der gleichgültigen Natur, sie erzählen uns auch von ewiger Versöhnung und von einem Leben, das kein Ende hat.«
»Väter und Söhne« hatte eine eigentümliche Wirkung in Rußland. Der Roman verursachte in beiden Heereslagern eine Explosion, bei den Reaktionären und bei den Fortschrittlern. Hier fand man sich aufs tiefste beleidigt durch die Karikierung des jung-russischen Sturmes und Dranges, dort war man im Gegenteil über die Verherrlichung des Nihilismus empört. Als Turgenjew einige Wochen nach dem Erscheinen seines Werkes, am Tage einer gewaltigen Feuersbrunst, in Petersburg eintraf, schwebte das von ihm gemünzte Wort Nihilist bereits auf aller Lippen. »Sehen Sie, das haben Ihre Nihilisten getan, sie stecken Petersburg in Brand,« waren die Worte, mit denen ihn der erste Bekannte begrüßte. Bald wurde er gewahr, daß nahestehende Personen ihn unfreundlich empfingen, andere, die er als Gegner ansah, ihm Glückwünsche spendeten. Der Dichter war nicht gleichgültig gegen die Anfeindungen. Er hat sich 1869 in einem Nachwort ausdrücklich dagegen verteidigt. Weder Antipathieen noch Sympathieen beeinflußten ihn bei der Gestaltung Basarows über die Maßen, sondern allein die Wahrheit. Er sagt: »Beim Zeichnen der Figur Basarows stellte ich ihn als allem Künstlerischen abgeneigt dar und gab ihm einen scharfen, rücksichtslosen Ton, und zwar nicht in der ungereimten Absicht, das junge Geschlecht zu kränken, sondern weil ich das bei meinem Bekannten, dem Doktor D., und ähnlichen Personen so beobachtet hatte … Meine persönlichen Neigungen kamen dabei wenig in Betracht, und es werden viele meiner Leser erstaunt sein, wenn ich behaupte, daß ich, mit Ausnahme von Basarows Kunstansichten, dennoch beinahe alle seine Ansichten teile. Man nimmt vielmehr an, ich hätte auf Seiten der Väter gestanden, … ich, der in der Gestalt Paul Kirsanows beinahe gegen die künstlerische Wahrheit verstieß, seine schwachen Seiten karikierte, ja ihn selbst lächerlich machte!« … »Auf meinem Namen lag ein Schatten. Ich täusche mich nicht, der Schatten wird nie von meinem Namen schwinden.«
Im Zeitalter der Reformen spielten sich die Verwandlungsprozesse Jungrußlands in so schneller Aufeinanderfolge ab, daß die gesellschaftlichen Zustände nicht in Jahrzehnten, sondern fast in jedem neuen Jahre auf eine andere Stufe rückten. Turgenjews nächster Roman » Dunst« erschien 1867, ist also um 5 Jahre von der Erzählung »Väter und Söhne« getrennt. Die Zeit der Handlung ist um 3 Jahre vorgeschoben; es ist das Jahr nach der Bauernemanzipation.
Dem Wohlbehagen des Volkes, das aus jahrhundertlangem Schlummer erwachte und seine Glieder dehnte, mischte sich eine gute Portion nationaler Selbstüberschätzung bei. Die Niederwerfung des polnischen Aufstandes und der Terrorismus der Moskauer Patrioten stärkten wieder jenen patriotischen Eigendünkel, der im alleinseligmachenden Glauben an die Kulturmission des Ostens dem abgestorbenen, verfaulten Westen seine Fußtritte versetzte und doch dabei vor der Meinung der Pariser Modenarren und Hohlköpfe sich bückte und bei ihren Grisetten und Loretten antichambrierte. Basarow verbarg unter seinem burschikosen Renommistentum viel warmes und edles Gefühl und war in seinem Kerne urgesund; das Russentum, zu dem uns Turgenjew jetzt nach Baden-Baden führt, ist wurmstichig durch und durch.
Als der Dichter seine Erzählung »Dunst« niederschrieb, standen vor seinem Auge zwei Gestalten, wie sie ihn stets reizten, eine Frau, unselig stark und berückend, und ein Mann, weichmütig und haltlos. Aus dem Verhältnis dieser beiden entwickelte er die Fabel mit künstlerischer Gelassenheit. Als er aber dann die kleine Geschichte in das Treiben der russischen Gesellschaft zu Baden-Baden hineinbaute, verlor seine Feder die schöne Besonnenheit. Sein alter Groll über die Angriffe der Slawophilen bäumte sich zu einer Parteileidenschaft auf, die ihm sonst fremd war, er büßte die Fähigkeit ein, maßvoll Licht und Schatten zu verteilen, und stellte mit übertriebener Verzerrung russische Karikaturen hin, die viel zu grotesk sind, um den Eindruck der Lebenswahrheit zu erwecken. Man empfindet diese Gestalten als unliebsame Eindringlinge, die einem seitenlang den Reiz der Erzählung entfremden.
Gregor Michailowitsch Litwinow, ein junger Russe, ehrlich, tüchtig, unbefangen, hat eine fleißige Studienzeit in Deutschland verbracht; nun will er heimkehren, um mit seinen soliden Kenntnissen das vernachlässigte väterliche Gut zu bewirtschaften. In Baden-Baden erwartet er seine Braut Tatjana. Sein Lebensweg liegt sonnenbeschienen vor ihm; heiter und jugendlich selbstbewußt baut er seine Zukunft. Da begegnet er seiner Jugendgeliebten Irina. Einst vor 10 Jahren hatte sie, die Tochter einer herabgekommenen fürstlichen Familie, ihn in Moskau berückt mit ihrem entzückenden, eigenwilligen und leidenschaftlichen Wesen, ihrem aschblonden Haar und ihren dunkelgrauen, grünlich schimmernden Augen; in der Liebe zu ihm war sie weich und fromm geworden. Da erschloß ihr ein Ball im Adelsklub die Sphäre voll vornehmen Lichtes und Glanzes, und mit jähem Ruck entschwebte sie dem armen Studenten. Aus unerreichbarer Ferne strahlte der Ruhm ihrer aufblühenden aristokratischen Schönheit zu ihm; es tat seinem Herzen unendlich weh, bis er sie endlich vergaß. Sie wurde dann die Frau des eleganten, korrekten und flachen Generals Ratmirow. Übersättigt von dem faden Leben, das unter all den Larven dieser russischen Generale und Diplomaten sie mit langweiliger Monotonie beengt, dürstet ihre kraftvolle Natur nach einem Menschen. Und sie ist schön! Die schmeichelnde Stimme, der Blick der träumerischen und doch durchdringenden Augen mit den langen Wimpern, die Wärme und wonnige Frische ihres königlichen Körpers üben den Höllenzauber der Frau Venus auf Litwinow aus. Sie ist eine komplizierte Natur, katzenartig schlau und zugleich rücksichtslos offen. Nicht ohne Koketterie und Kaprice, voll weiblichen Stolzes, aber auch liebevoller Hingabe fähig. Sie will nicht aus Eitelkeit die Zahl ihrer geopferten Anbeter mehren; ihre Kraftnatur muß sich erproben an einem Mann, aus dessen unverdorbenem Wesen es wie ein reiner Luftzug der heimischen Steppe sie überkommt. Litwinow ringt nur eine kleine Weile; das feine Gift der süßen Schauer, die er in Irinas Nähe empfindet, schleicht durch seine Adern. Er will entfliehen, und seine Kraft versagt. Nicht im Rausch, der die Sinne umnebelt, unterliegt er; er federt sich selbst, sieht mit nüchternem Verstande seinen Widerstand erblassen, seinen Plebejerstolz welken, seine Ehrlichkeit und Selbstachtung zerschmelzen. »Solche gesetzte Naturen sollten sich nie der Leidenschaft hingeben; sie zerstört selbst den Sinn, den Zweck ihres Lebens … Aber die Natur beugt sich nicht der Logik, unserer menschlichen Logik; sie hat ihre eigene, die wir nicht begreifen und nicht eher anerkennen, als bis sie uns wie ein Rad zermalmt hat.«
Als seine Braut Tatjana in Baden-Baden erscheint, das herrliche Mädchen, so gut und klug, so ruhig und sonnig, zerschneidet er in einer Art, die ihn jämmerlich genug kleidet, Liebe und Pflicht. Reue und Mitleid berühren ihn nicht, aber er hat das dumpfe Gefühl, als ob er jemand ermordet habe, und die Selbstverachtung heftet sich an ihn und belästigt ihn unablässig, wie das Summen der aufdringlichen Fliegen in der Sommerszeit. Seine Vergangenheit ist tot, seine Hoffnung ist tot, und er klammert sich an die, die das alles getötet hat.
Irina wirft sich mit krampfhafter Leidenschaft an seine Brust, legt sein Geschick in seine Hand, will ihm folgen ans Ende der Welt. Aber um sie herauszureißen aus ihrem aristokratischen, weichen Wurzelboden, um aus den Trümmern eines zerbrochenen Lebens ihr ein neues zu bauen, dazu gehört mehr als Sinnenrausch, dazu bedarf es einer überlegenen, unbedenklich zupackenden, stählernen Kraft. Litwinows Hand hängt schlaff herunter. Irina fühlt, da sie schon mit ihm fliehen will, daß er die Herrennatur nicht ist, die ihrem verwöhnten Leben Ersatz bietet, und sie zieht nach kurzem Schwanken einer Chimäre die Wirklichkeit vor, die sie umgiebt; sie bleibt eine Mondaine in der Welt, über deren Hohlheit sie spottet und deren schönen Schein sie nicht meiden mag.
Litwinow, zweimal betrogen von demselben Weibe, verläßt die Stadt mit dem Gefühl, daß das Blut ihm zu Kopfe steigt, daß es langsam und schwer zum Herzen strömt, um dort zu Stein zu werden. Auf seiner russischen Heimaterde weicht dies Gefühl des Versteinertseins von ihm, in rüstiger Pionierarbeit gewinnt er sich allmählich den alten Lebensgeist zurück, und aus toter Gleichgültigkeit ersteht ein neuer Mensch. Und in dem Bewußtsein seiner jungerwachten fröhlichen Kraft findet er auch den geraden, ehrlichen Weg zu Tatjana wieder.
In Litwinows weichem, fließendem Charakter spiegelt sich Turgenjew selbst. In Irina hat er mit glänzender Dichterkraft die berückenden Sinnenreize der Frau gemalt, die ungerührt, wie das Schicksal, den Mann zerbricht; und daneben hat er in Tatjana den liebenswerten Typus des großrussischen Mädchens gestellt, über dessen Stirn beständig ein Sonnenstrahl zieht, das kraftvoll und schön, – das die Entsagung, die Milde, der Edelmut selbst ist. Neben diesen Dreien taucht eine Fülle anderer Gestalten auf. Die Petersburger und Moskauer Aristokratie, die sich um den »russischen Baum« in Baden-Baden oder um die Roulette versammelt, diese princes russes, bizarre Diplomaten und hohle Streber, junge elegante Löwen in glattgescheiteltem Haar und in Londoner Anzügen, und die überreich aber geschmacklos gekleideten Fürstinnen. Das schwirrt durcheinander und tändelt mit dem Leben, – und welche Langeweile und Albernheit in diesen Köpfen, welche brutale Unwissenheit und welche Verständnislosigkeit für alles das, was das Dasein adelt und verschönt!
Nicht minder betrübend und abstoßend steht da eine andere Russengruppe, wo nicht Ambraduft, sondern Biergeruch und Tabaksqualm die Atmosphäre bildet. Es sind die Heidelberger Studenten, die Physik und Chemie studieren, die deutschen Professoren durch ihren scharfen Blick und ihr gesundes Urteil zuerst in Staunen setzen, um sie gleich nachher durch ihr absolutes Nichtstun, ihre unerschütterliche Faulheit noch mehr zu verblüffen. Gubarew ist ihr Häuptling. Er hat keinen Charakter und kein Talent, aber mehr Willenskraft als die anderen, und darum herrscht der orakelnde Faselhans über seine gläubige Herde, über den schwammigen, unwissenden, stets ekstatischen Bambajew, der ein Schreier und Fresser ist, über die verdrehte, aufgeregte Suchantschikow und über den rosenroten, würdevoll dozierenden Datenkrämer Woroschilow, der nur die allerneuste Wissenschaft gelten läßt. Sie alle verhimmeln einander als russische Originale und schauen die Zukunft ihres Vaterlandes im Glanze der Verheißung. Abseits dieser Slawophilenrasse steht ein Spötter, der linkische, aber kluge Sonderling Potugin. Er schaut durch den dicken Dunst mit philosophischer Ruhe hindurch, sieht die Dinge unverschleiert, wie sie sind. Er haßt und liebt Rußland leidenschaftlich. Die Zivilisation des Westens hat er in sich ausgenommen, von der jene Chauvins sich lossagen. »Ich bin der Ansicht,« – sagt er – »daß wir nicht nur unser Wissen, die Kunst, das Recht – der Zivilisation verdanken, sondern daß sogar das Gefühl des Schönen und der Poesie sich, unter dem Einfluß her Zivilisation entwickelt und verbreitet, und halte das sogenannte nationale, naive, unbewußte Schöpfungsvermögen für eitlen Unsinn.« Wie deckt er die Hohlheit der Phrase auf, daß vom slavischen Bauernrock das Heil der Welt kommen soll! Wie reißt er von den eingebildeten russischen Originalgenies die Drapierung herunter und spottet über die gerühmte russische Erfindungsgabe, die klug zu schwadronieren, aber nicht einmal eine praktische Korndarre zu konstruieren vermag! »In London, im Krystallpalast,« – sagt er – »der eine Encyclopädie des menschlichen Erfindungsgeistes ist, sah ich nichts Russisches unter all den Werkzeugen und Maschinen und Produkten; unser gutes Mütterchen, das heilige Rußland, könnte in den Tartarus versinken, ohne daß sich ein einziger Nagel, eine einzige Stecknadel im Krystallpalast zu rühren brauchte … Denn sogar den Samowar, den Bastschuh, das Krummholz und die Knute, unsere berühmtesten Produkte, haben wir nicht einmal selbst erfunden … Und unsere Rohprodukte, beachten Sie wohl, sind nur infolge gewisser abscheulicher Umstände gut. Unsere Schweinsborsten, zum Beispiel, sind lang und fest, weil die Schweine schlecht sind; unser Leder ist dauerhaft und dick, weil die Kühe mager sind; der Talg ist hart, weil er mit Stücken Fleisch herausgerissen wird.«
Dunst ist all das Politisieren und Debattieren um Rußlands Zukunft, Dunst ist der Heidenlärm der Gubarewschen Klique und die geschraubte Konversation des Petersburger und Moskauer high-life, Dunst ist das russische Leben und das eigene, Dunst ist alles Menschliche, – so reflektiert Litwinow, als er im Eisenbahnzuge Baden-Baden verläßt und mit starren Augen den Dunstwolken folgt, die Wirbel auf Wirbel vom Wind gehetzt an seinem Coupéfenster in einförmiger, wilder Jagd vorüberdrängen. »Alles ist nur Rauch und Dunst, alles ändert sich unaufhörlich. Ein Bild vertreibt das andere, aber im Grunde bleibt alles, wie es war; alles stürmt und eilt irgendwohin, – und alles verschwindet spurlos, ohne irgend etwas erreicht zu haben. Es weht ein andrer Wind, – und alles wirft sich auf die entgegengesetzte Seite, und dort beginnt von neuem das fieberhafte, aufgeregte und – unnütze Spiel.«
Basarow in der Erzählung »Väter und Söhne« hatte sich von der Menschheit isoliert, die russischen Reformschwärmer in »Dunst« sind ohne Bindeglied mit der Menge, das nächste Stadium des Jungrussentums aber muß endlich diesen Konnex suchen, es muß sozialistisch werden. In der Tat, es kommen jetzt die Apostel der Nächstenliebe; sie gehen – um ein Wort Bakunins zu gebrauchen – unter das Volk, als die Boten einer neuen, schönen Zukunft.
Chose incroyable, j'ai achevé mon grand diable de roman schreibt Turgenjew an Flaubert am 8. August 1876 aus Bougival. Im Jahre darauf erschien der Roman, der In der deutschen Übersetzung » Die neue Generation« oder »Neuland« heißt. Der Verfasser setzte als Motto über sein Buch: »Es soll das Neuland nicht mit leicht die Oberfläche streifender Hacke, sondern mit tief einschneidendem Pfluge geackert werden!« Seit dem Erscheinen des »Dunst« war ein Jahrzehnt vergangen. Die Handlung des neuen Romans ist dagegen um 6 Jahre vorgerückt. Wir sind im Jahre 1868.
Der Dichter führt uns auf das große Landgut Arschano. Es gehört dem Geheimrat Sipjagin. Kein Mann ist das, sondern ein Beamter. In seiner Erscheinung ist er die personifizierte Ordnung und Eitelkeit, in seinen Reden tröpfelt ein Quantum koketten, lauwarmen, liberalen Öles, und seine Seele ist überfirnißt von glattem Petersburger Strebertum. Ein Meister in der Kunst, Sand in die Augen zu streuen, ein blagueur. Ein kleiner Zug charakterisiert ihn vorzüglich: Als der arme Teufel Paklin sich ihm vorstellt, versteht er es, dessen richtigen Namen zu ignorieren, und in dem ganzen Zwiegespräch nennt er ihn mit willkürlicher Erfindung Konopatin. Paklin konnte sich endlich nicht mehr halten: »Paklin« – schrie er – »Paklin ist mein Name!« – »Ja, ja; nun, es kommt ja auf eins hinaus; bezeichnet ganz dasselbe. Aber welch eine kräftige Lunge Sie haben, und das bei Ihrem hageren Äußeren!«
Sipjagin lebt in einer korrekten Musterehe mit seiner Frau Valentine Michailowna, die sein Wesen völlig ergänzt. Eine hohe Gestalt mit kastanienbraunem Haar und mit den wunderbar tiefen Sammetaugen der Sixtina. Auf den frischen Farben des Gesichts stets ein gewinnendes Lächeln, – eine entzückende Erscheinung. Aber seelenlos und ohne Leidenschaft, ein funkelndes Eis, das seine Strahlen spielen läßt, doch niemals sich trübt und niemals schmilzt. Sie hat die Grazie der liebenswürdigen Egoisten, die weder Poesie noch wahres Gefühl atmet. Ihr wohnt das geheime Verlangen inne, ein wenig zu kokettieren, zu gefallen und zu herrschen. Die Tugend ist ihr leicht, denn eine Erregung naht ihr nicht. Die Schöne, Heilige ist eine Lügnerin, eine Komödiantin.
Der Tischgenosse dieses Paares ist der Kammerjunker Kallomeizew, ein Vollblutaristokrat von bürgerlicher Provenienz, eine verächtliche Kreatur, süßlich und schmachtend, weibisch und boshaft, ein Reaktionär und Orthodoxer bis zur Sinnlosigkeit, der mit Behagen den Toast eines Freundes wiederholt: »Ich trinke auf die beiden einzigen Prinzipien, die ich anerkenne, auf die Knute und auf Roederer!«
In die Harmonie dieses Trios tritt nun eines Tages ein junger Student, den Sipjagin in Petersburg als Hauslehrer seines Sohnes gewonnen hat, Alexis Dimitriewitsch Neschdanow. Man weiß, daß er der illegitime Sohn eines Fürsten und einer Gouvernante ist. Die unbedeutenden, aber feinen Züge, die zarte Haut, das schöne weiche Haar, die kleinen Hände, Ohren, Füße, – das alles verrät den Aristokraten. Aber er ist Demokrat aus Prinzip. Als Student lebt er im Kreise der jungen Generation, die mit heiligstem Eifer das Russenvolk aus seinem Schlummer wecken will. So sehr ihn die Genossen schätzen, er paßt doch nicht zu ihnen, zu diesem Pimen Ostrodumow, zu dieser Thekla Maschurin und dieser ganzen Zelotenschar, die ewig rauchend, ewig ohne Geld, ewig mit freudelosem Gesicht, aber voll Ehrlichkeit und Energie beim Werke ist. Der Widerspruch zwischen seiner Geburt und seiner Lebensführung ist nicht die einzige Dissonanz seines Wesens. Er ist ehrenhaft und keusch bis zur Prüderie, und seine Ausdrücke lieben das Grobe; er ist ein Idealist, und seine Ideale macht er lächerlich; er betet in der stillen Nacht zur Schönheit, und am Tage wird er ihr Verächter. Und dieser Zwiespalt wird stets größer und untergräbt seine ganze Natur. Das soziale Werk fordert Tatkraft und handgreifliche Prosa, und er ist ein Träumer, ein Melancholiker, ein Poet; das Werk fordert Selbstvertrauen und ein ruhiges Gleichgewicht, und er ist nervös, launenhaft, empfindlich. Nicht mit Unrecht nennt ihn sein gescheiter Freund Paklin den »Romantiker des Realismus«. Sein romantischer Charme, der ihn selbst so unglückselig verstimmt, macht ihn gerade zu einem so liebenswürdigen Jungen und zieht die Kameraden mit zärtlicher Liebe zu ihm hin. Wahrlich, der Jugend voll sehnsüchtigen Dranges nach einem fernen, unklaren Ziel, voll zarter Keuschheit und stiller Schwermut, voll weltschmerzlicher Verzagtheit bis zum Tode, – dieser Jugend ist nie ein schöneres Lied gesungen worden; und denkt man die politische Nüance hinweg, so ist das nicht eine neue Generation einer bestimmten Zeit, sondern jede liebenswürdige Jugend jeder Zeit.
Der ehrliche Neschdanow im Hause der Sipjagins, in der Welt des Blendwerks und der Lüge, leidet zunächst nicht allzustark unter moralischen Bedenken, sondern fügt sich mit guter Laune in den vornehmen Ton des Müßigganges eines komfortablen Landlebens, schaut zu den weißen Wolken, die am Frühlingshimmel, ihre Brust abrundend wie große, träge Vögel, über das stille Leben schweben. Aber er darf nicht träumen, denn »das Werk« ist da und wartet. Er findet auch an Sipjagins Tisch, einen Menschen, der ihn daran gemahnt. Das ist Marianne, Sipjagins Nichte, die Tochter eines degradierten Generals, eine Waise, die das Gnadenbrot des Oheims ißt und einen heimlichen, ununterbrochenen Kampf gegen ihre Verwandten kämpft. Sie ist nicht hübsch, aber ihr Wesen atmet Kraft und Kühnheit. Ihre Augen sind groß und glänzend; und wenn sie die Freiheit und Leidenschaftlichkeit ihrer Seele widerstrahlen, wenn der finstre Zug von ihrem Antlitz weicht und wenn ihre Lippen sich mit dem Ausdruck der Begeisterung öffnen, dann ist sie wunderbar schön. Sie haßt diese ruhigen, reichen, satten Menschen, von deren Gunst sie leben muß, und ein Durst nach Unabhängigkeit verzehrt sie und ein Drang nach einer Tätigkeit, die allen Unterdrückten und Leidenden Hilfe bringen soll. Doch sie fühlt, daß sie nichts weiß und nichts versteht und nicht aus eigener Kraft nützen kann. Da spinnen sich die Fäden zwischen ihr und Neschdanow, zwischen den zwei Heimatlosen, deren Schicksal und Lebensziel gleich sind. Auch in ihrer Seele schlummert, ihr selbst ein Geheimnis, die verachtete Sehnsucht nach dem Schönen. Ein Freimaurerbund vereint die beiden, eine Kameradschaft, eine Liebe. »Es ist seltsam,« – sprach er – »wir haben uns einander unsere Liebe offenbart, ja wir lieben einander, und kein Wort ist davon zwischen uns gesprochen worden.« »Wozu auch Worte?« flüsterte Marianne und schlang plötzlich ihre Arme um seinen Hals und lehnte ihr Haupt an seine Schultern, … aber sie küßten sich nicht einmal; das wäre zu gewöhnlich gewesen, – wenigstens hatten beide das Gefühl – und sie trennten sich sofort, nachdem sie einander fest die Hand gedrückt. Keine sorglose Liebeständelei; sie wollen arbeiten miteinander und zusammengehen bis ans Ende der Welt. »So nimm denn meine Hand … nur küsse sie nicht … und drücke sie fest als Kamerad, als Freund … so, so! Und zusammen gingen sie nach Hause, schweigend, glücklich … Das junge Gras streifte schmeichelnd ihre Füße, das junge Laub säuselte um sie her, die Licht- und Schattenflecke glitten rasch über ihre Kleider, und beide lächelten über dies lebhafte Lichtspiel, über die fröhlichen Windstöße, über das frische Schillern des Laubwerks, über ihre eigene Jugend – und über einander.«
Aber wo bleibt »das Werk«? Frau Sipjagin hat einen Bruder, Markelow. Ein armer, hagerer, trockener, galliger Edelmann, doch ganz aus der aristokratischen Art geschlagen, ein Pechvogel, vom Leben gestoßen und getreten, – so ist er einer der »Unsrigen« geworden. Ein unklarer Kopf, aber eine ehrliche Haut; ein Freund der Bauern, die ihn nicht verstehen; ein Fanatiker, der nicht warten kann, sondern eine schnelle Erhebung des Volkes herbeisehnt. In seinem Hause trifft Neschdanow seine Gesinnungsgenossen wieder, schmiedend an dem großen Werk. Was ist denn aber dies Werk? Eine Umwandlung aller Dinge soll sich verwirklichen, – mehr wissen selbst die Werkmeister nicht zu sagen. Eine geheime, tiefsinnige Korrespondenz bindet die Genossen, stets warten sie auf geheime Instruktionen aus einem geheimen Hauptquartier, die Agenten reisen zwecklos zwischen Petersburg und Moskau und Genf hin und her, Broschüren werden verteilt, in Tabaksqualm und Biergeruch wird diskutiert und debattiert, und wie Schneeflocken wirbeln in der erhitzten Atmosphäre die großen Worte durcheinander »Fortschritt, Regierung, Literatur, Steuerfrage, Kirchenfrage, Frauenfrage, Gerichtsfrage, Klassizismus, Realismus, Nihilismus, Kommunismus, international, klerikal, liberal, Kapitalismus, Administration, Organisation, Association und sogar Kristallisation.«
Nun stehen jedoch die Bauern und die Fabrikarbeiter verständnislos für das Heil da, das man ihnen bringen will, und man fühlt, die junge Generation kennt die Welt gar nicht, die sie auf den Kopf stellen will. So bleibt das Treiben sinnlos, und alle Anstrengungen sind Lufthiebe eines Komödienspiels. »In der Gesellschaft keine Sympathie, im Volke kein Verständnis für die Situation, – diese Nuß knacke mir einer!« sagt Neschdanow ganz treffend.
Neschdanow flieht mit Marianne aus dem Hause Sipjagins zu seinem Freunde Solomin. Hier wollen die Liebenden die graue Theorie in die Praxis übersetzen; sie wollen »unter das Volk gehen«. Es ist rührend, wie sie sich »vereinfachen«. Marianne schlüpft aus ihrem Petersburger Modekostüm in ein verwaschenes, buntes Kattunkleid und beginnt Schüsseln zu waschen, Hühner zu rupfen, Kinder und Kranke zu pflegen. Mit der Tüchtigkeit, die der russischen Frau in höherem Maße eigen ist als dem Mann, füllt sie ihren Platz aus. Aber der arme Neschdanow! In seinem gelben Nankingrock, der ihm das Ansehen eines kleinstädtischen Viehhändlers gibt, erscheint er völlig deplaziert, nicht viel besser als ein Hanswurst. Und als er, die Taschen mit Flugschriften gefüllt, auf die Propaganda zu den Bauern zieht, empfängt man ihn mit Spott und Drohungen; und als er mit ihnen in der Branntweinschenke fraternisiert, streckt ihn der widerliche Fusel nieder, daß man ihn betrunken nach Hause bringt. Sein nervöses, feinfühliges Aristokratenblut schickt sich nicht zur grobknochigen Demagogie. Dazu fehlt ihm der Glaube, der da Berge versetzt; und der Zweifel wächst nach seinen Mißerfolgen und seiner Demütigung immer größer, der Zweifel an sich selbst und an seinem Werk. Da hält er sich für bundbrüchig, er streicht sich aus und springt in den Abgrund. So gibt er die Geliebte frei, deren Vertrauen er mit seinem eigenen Selbstvertrauen schwinden sah. Es ist so unsäglich traurig, wie der Arme in Mariannes Zimmer tritt und das Fußende ihres schmalen Bettes mit einem einzigen stummen Aufschluchzen seiner Lippen küßt und dann mit dem Revolver hinunter geht zu dem alten Apfelbaum im Gärtchen. Er schickt seine Augen zu dem kleinen Fenster hinauf, hinter dem ihm ein Asyl kurzen Glücks und Friedens bereitet war. »Er denkt: wenn mich jemand in diesem Augenblick sieht, dann verschiebe ich es vielleicht. Aber nirgends zeigte sich ein menschliches Gesicht. Alles war wie ausgestorben, alles wandte sich von ihm ab, entfernte sich auf immer, überließ ihn der Willkür seines Schicksals. Nur die Fabrik sandte ihm ihr dumpfes Dröhnen und ihre häßlichen Gerüche, und von oben herab begann in feinen, scharfen Tröpfchen ein kalter Regen sich zu ergießen. Da blickte Neschdanow durch die gewundenen Zweige des Baumes, unter welchem er stand, zu dem niedrigen, grauen, teilnahmslos blinden, nassen Himmel auf, gähnte, schüttelte sich und dachte: Es bleibt mir ja nichts anderes übrig! – Er warf seine Mütze von sich, und zum voraus in allen seinen Gliedern eine gewisse süße, heftige, beklemmende Spannung empfindend, hielt er den Revolver gegen die Brust und drückte auf die Feder des Hahns.« – – Sterbend legt er Mariannens Hand in die Hand seines Freundes Solomin. Neschdanow war ein Hamlet in einer Zeit, die Charaktere fordert.
Markelows voreiliger Putsch mißlingt, seine eigenen Bauern sind taub gegen den Freiheitsruf und liefern ihn aus. Er ist ein Phantast, und Neschdanows Genossen alle sind Phantasten, die von Barrikaden schwatzen, die doch keiner baut.
Dem Solomin gehört die Zukunft. Er hat keine Nerven, aber Selbstvertrauen und Gleichgewicht; er ist aus dem Volke hervorgegangen und Arbeiter geblieben; er ist gründlich gebildet und in seiner fachmännischen Tätigkeit ein bewunderter Meister; er ist einfach, wahrhaftig, natürlich. Mit klarem Blick und gesundem Menschenverstand sieht er ebenso gut durch alle Phrasen und durch die Hohlheit des Volksbeglückungssystems hindurch, wie durch Sipjagins gouvernemental-liberale Kunststückchen. Er ist kein schnellfertiger Heilkünstler der sozialen Wunden, – aber er ist ein famoser Bursche, der sich überall durchbeißt und das Erreichbare erreichen wird.
Der bissige Paklin aus der Familie Potugin spricht den Epilog: Es ist eine Lust zu leben! Stillstand, Langeweile, Leere überall in der russischen Gesellschaft, überspanntes Slawophilentum in der Literatur und Kunst. »Das Volk im tiefsten Elend; die Steuern haben es vollständig zu Grunde gerichtet, und die einzige Reform, welche zu stande gekommen ist, besteht darin, daß die Bauern jetzt Mützen tragen und die Bäuerinnen ihren landesüblichen Kopfputz abgelegt haben … Und der Hunger! Und die Trunksucht! Und die Kornwucherer!«
Die Saiten springen dem Dichter, und ohne daß ein freudiger Ton sonniger Hoffnung im Herzen nachklingt, endet die Tragödie aller dieser Basarows und Neschdanows. – Das Volk ist ein Siebenschläfer. Neschdanow hatte das einst in Versen ausgedrückt:
… In tiefem, tiefem Schlaf liegt Stadt und Land;
Bei Tage und bei Nacht, im Liegen, Sitzen, Stehen,
In den Telegen, in den Schlitten, leicht bespannt, –
Sie alle schlafen, tief im Tal wie auf den Höhen;
Die Wächter schlafen einsam auf der stillen Wacht,
Es weckt sie nicht des Winters Frost, der Sonne Glühen;
Der Kaufmann schreitet schlafend neben seiner Fracht,
Und der Beamte schläft bei seines Amtes Mühen;
Der Richter schläft, der Angeklagte, Herr und Knecht,
Der Bauer, der sich plagt vom frühen Morgenscheine, –
Sie alle schlafen; der geschlagen wird, der schlägt,
Und nur das Laster in der Schänke wacht alleine:
Das ganze heil'ge Rußland schläft, vom hohen Pol
Bis zu dem Kaukasus, – es schlafe ewig wohl!
Der junge Poet hatte seinen Zeilen das Postscriptum zugefügt: »Ja, unser Volk schläft … Aber ich glaube, wenn es durch irgend etwas geweckt wird, dann wohl nicht durch das, wodurch wir es zu wecken gedenken.«
Der anonyme Verfasser des bekannten Buches »Aus der Petersburger Gesellschaft« (Leipzig 1880) schätzt die Bedeutung, die Turgenjews Erzählung »Die neue Generation« für die europäische Kenntnis russischer Zustände und zugleich für die neuere russische Sittengeschichte hatte, als unermeßlich. Bei seinem Erscheinen wurde das Buch als tendenziös und pessimistisch verschrieen, als aber die Ereignisse der nächsten Jahre das Treiben der jungrussischen Revolutionspartei auf offener Scene zeigten, bestätigte sich in fast verblüffender Weise, wie richtig der Dichter auch diesmal den Moment erfaßt hatte. Die Geschichte der Wera Sassulitsch, Mirskys, Myschkins, Ssolowjews – die Reihe der unheimlichen Attentate bis zur Ermordung des Zaren Alexanders II. – nicht als einen Haufen wirrer, unverständlicher Tatsachen, sondern als Erscheinungen, die dem Boden der russischen Gesellschaft naturgemäß entsprießen mußten, betrachtet sie der, der die »neue Generation« gelesen hat.
Der gesunde Geist des jungen Geschlechts hat dann auch, als die Erregung und Entrüstung über sein Spiegelbild einer vernünftigen Selbsterkenntnis Raum bot, den Dichter, den es verfehmt und proscribiert hatte, mit warmherzigem Triumph in seiner Heimat gefeiert.
Turgenjews Kunst, eine Situation fest und greifbar hinzustellen, daß sie im Geiste des Lesers mit der überzeugenden Kraft eines unvergeßlichen Bildes zurückbleibt, und seine andere Kunst, die Charaktere mit ihrem Detail so zu modellieren, daß sie voll atmenden Lebens mitten unter uns stehen, – das alles mußte ihn verführerisch reizen, seinem Talent auch die Bühne zu erobern. Und doch konnte das Wagen kaum gewinnen. Der Novellist stand hier dem Dramatiker im Wege.
Das Weiche und Fließende seines Temperaments, das der strengen Zucht der überlegenden und überlegenen Vernunft nur ungern sich fügte, läßt schon in seinen Erzählungen den Stoff oft der Hand entschlüpfen und die Fülle über den Rand der Form hinausgleiten. Die Ästhetik rügt den Mangel an geschlossener Komposition; der Leser fühlt ihn kaum, so sehr freut er sich an dem leicht gefälligen Fluß der Rede, der ihn sanft an immer neuen dichterischen Schönheiten vorüberführt. Das Drama jedoch fordert kategorisch ein energisches Zusammenraffen der Kraft zu einer kunstvoll scenischen Form, daß der Hörer sich nicht in Sinnen und Träumen verliert, sondern von einem festen Zügel widerstandslos fortgerissen wird. Bei einem Turgenjewschen Drama verharrt der Zuschauer meist in kühlem Gleichmut; er sieht, ohne den Anhauch frischer Lebenswärme von der Bühne her zu fühlen, dem schleppenden Gang der Handlung zu, auch wenn er spürt, daß dieser oder jener Charakter sich einer ernsteren Studie lohnte.
Turgenjew dichtete in den Jahren 1843 bis 1851 eine ganze Reihe dramatischer Werke: »Unvorsichtigkeit«, »Ohne Geld«, »Allzudünn reißt oft«, »Der Hagestolz«, »Ein Monat auf dem Lande«, »Die Provinzialin«, »Ein Imbiß beim Adelsmarschall«, »Das Gnadenbrot«, »Ein Gespräch auf der Landstraße«. Nächst dem »Gnadenbrot« mit der erschütternden Tragik des armen, alten, gehänselten Edelmanns Kusowkin hat »Ein Monat auf dem Lande« (»Natalie«) auch auf deutschen Theatern Erfolg gehabt. (Übersetzung und Bearbeitung von Eugen Zabel.)
Im ruhigen Gleichklang der Tage hat Natalie Petrowna, die schöne, nicht mehr junge Frau eines Gutsbesitzers, der sie herzlich liebt, dahingelebt, als in den stillen Kreis ihres Hauses der Friedensstörer tritt. Das ist Lorin, der Hauslehrer, ein unfertiger Charakter, scheu und versteckt unter den Erwachsenen, übermütig knabenhaft unter der Jugend. Nur mühsam erklärt sich, daß Natalie den Reiz empfindet, sich gerade ihm an die Brust zu werfen und mit ihm aufzuleben. Nie hat sie bisher die flammende Liebe gekannt; es weht sie aus Lorins Naturburschentum etwas wie die frische Natur selbst an. Und ihre kühle Verständigkeit geht mit ihr durch.
Die Liebe, die in Turgenjews Novellen den Mann zerreißt, wird hier zum Schicksal, das die Frau aus ihrer Bahn wirft und mit dem widerstandslosen Opfer spielt. Ein Zufall eröffnet dem bestürzten Lorin, daß Natalie, die hohe, unnahbare Frau, zu der er auch in Gedanken nie seine Augen erhoben hat, ihn liebt. Da wird der Ungeschickte voll Feuer und Kühnheit, und von dem unerwarteten Glück berauscht, will er den Himmel stürmen. So packt auch ihn der Dämon der Liebe mit Geierklauen und trägt ihn fort. Doch Turgenjew hat nicht den Mut, das Schicksal in seiner ganzen rohen Gewalt sich nun austoben zu lassen. Es lebt da ein Freund im Hause Nataliens; der ahnt den kommenden Sturm. Und er redet zu Lorin: »Liebe ist nicht das Höchste, Frauenliebe saugt uns aus, macht uns zum Sklaven. Retten Sie Ihre Freiheit! Retten Sie Ihre junge Zukunft, die so strahlend vor ihnen liegt«. Lorin siegt über die Leidenschaft: »Ich habe die Pest in dieses Haus gebracht und alle angesteckt … Ich will fort … in die Freiheit!« Und in demselben Moment, in dem die Liebe aus der ernüchterten Natalie ihre Krallen zurückzieht, greift Lorin zur Pistole und tötet sich.
Turgenjew war nicht verblendet. Er hat sich, als der Erfolg seiner Versuche seinen Erwartungen nicht entsprach, selbst das Talent zur dramatischen Dichtkunst abgesprochen.