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In Iwan Turgenjews Erzählung »Das adlige Nest« fährt ein russischer Edelmann nach langem Aufenthalt in der Fremde wieder der Heimat zu; da blickt er von seinem Tarantaß auf die Striche Ackerlandes, die fächerartig vorüberzuziehen scheinen, auf die Weidenbüsche, auf die aufgescheuchten Raben und Krähen, auf die langen Gräben, in denen Wermut, Ebereschen und Beifuß wachsen, – und der Anblick dieser frischen, fruchtbaren Steppe, der langgestreckten grünen Hügel, der mit niederem Eichenholz bewachsenen Schluchten, der grauen Dörfer und der hellschimmernden Birkenhaine weckt in seiner Seele süße und zugleich traurige Erinnerungen – er muß seiner Kindheit gedenken.
Wie auf einer Radierung zeichnet hier der Dichter fein und scharf die Linien der russischen Flachlandschaft und tönt sie mit dem zarten Hauch des Heimwehs. An einer anderen Stelle faßt er mit dem Auge des niederländischen Malers behaglicher die Landschaft auf, und sie belebt sich ihm mit dem bunten Treiben einer reichen Staffage … Zehn Werst haben wir auf den Feldwegen zurückgelegt, dann kommen wir auf die Landstraße. Vorüber an Fuhrwerken und an Posthäusern mit dampfendem Samovar unter dem Vordach und vorbei an weit offenstehenden Türen und an Brunnen – von einem Dorfe zum anderen über unabsehbare Felder, an grünen Hanfgärten entlang – weit, weithin geht es. Raben fliegen um die Goldregenbüsche; Weiber mit langen Rechen in der Hand gehen auf das Feld; ein Mann kommt vorüber im abgetragenen Nankingrock; auf den Schultern trägt er einen Quersack, und mit matten Schritten schleicht er dahin. Die stolze Equipage eines Gutsherrn fliegt heran mit einem Sechsgespann großer, mattgewordener Pferde; aus dem Fenster der Kutsche schaut die Ecke eines Kissens, während hintenauf, an einem Riemen sich haltend, ein Lakai sitzt mit einem über und über bespritzten Mantel. Wir kommen durch ein Landstädtchen mit hölzernen, altersschwachen Häusern, endlos langen Zäunen, unbewohnten steinernen Kaufmannsgebäuden und einer alten Brücke, welche über ein tiefes Rinnsal führt. Weiter, weiter geht es. Jetzt kommen die Steppendörfer. Wir schauen von einer Höhe hinaus. Welch ein Anblick! Runde, niedere Hügel, gepflügt und bestellt bis zum Gipfel, laufen in breiten Wellen dahin. Schluchten, mit Gebüsch bewachsen, schlängeln sich zwischen ihnen durch. Von Dorf zu Dorf laufen die Pfade; die Kirchen schimmern weiß. Zwischen den Weinstöcken glänzt ein Fluß, von Dämmen eingefaßt, und draußen fern auf dem Felde stelzen Trappen. Ein altes Herrenhaus mit seinen Wirtschaftsgebäuden, mit Obstgarten und Scheune liegt da neben einem kleinen Teich. Aber weiter, weiter fliegen wir; die Hügel werden kleiner und kleiner; Bäume sind nirgends mehr zu sehen – da liegt sie endlich – die grenzenlose, die unabsehbare Steppe!
Das ist die Heimat Turgenjews. Die weite Tiefebene mit den kurzen, heißen Sommern und mit den langdauernden scharfen Wintern. Wasserreiche, behäbige Flüsse durchziehen das Land, und im steten Wechsel mit unübersehbaren Feldern breiten sich die fruchtbaren Fluren der schwarzen Erde, auf denen Getreide wogt und Hanf reift und Flachs. Im südlichen Großrußland, nicht weit von der Grenze des ethnographisch gesonderten Kleinrußlands, liegt im Quellgebiet des Okaflusses das Gouvernement Orel. Hier auf dem Familiengute Spaßkoje Lutowinowo im Kreise Mtsensk ist Iwan Sergejewitsch Turgenjew am 9. November 1818 geboren. »Wenn Sie, lieber Zola,« so heißt es in einem Briefe, den er einst aus seiner Heimat dem Pariser Romancier schrieb, »einen Atlas haben, so suchen Sie darin die Karte von Rußland und lassen Sie Ihren Finger von Moskau aus nach dem Schwarzen Meere zu gleiten; Sie werden dann auf diesem Wege ein wenig nördlich von Orel die Stadt Mtsensk finden. Nun wohl, mein Landgut liegt zehn Kilometer entfernt von diesem Ort, der sich so schlecht aussprechen läßt, wie Sie sehen; es ist eine vollkommene, stille, grüne, melancholische Einsamkeit.«
Sie waren eine alte Adelsfamilie, die Turgenjews, aus tartarischer Wurzel entsprossen. Nicht der berühmte Novellist hat ihren Namen zuerst in die Geschichte der russischen Literatur eingeführt.
Man findet zur Zeit der großen Kaiserin Katharina II. in Moskau einen »freundschaftlichen gelehrten Verein«, der sich seit 1781 um den edlen Schriftsteller Nowikow scharte. Von freimaurerischen und philanthropischen Ideen getragen, suchte der Bund mit unermüdlicher Energie durch Einrichtung neuer Druckereien und durch billigen Vertrieb belehrender, pädagogischer, populärer und wissenschaftlicher Schriften die russische Gesellschaft zu einem sittlichen und kulturellen Aufschwung fortzureißen. Zu dem kleinen Kreise dieser vorzüglichen Geister, der die besten Namen alter russischer Bojarenfamilien aufweist, gehörte auch ein Iwan Petrowitsch Turgenjew. Er war eines der tätigsten Mitglieder und Verfasser eines Büchleins »Wer kann ein guter Bürger und treuer Untertan sein?«. Die Schrift ist eine Verherrlichung der Freimaurerei und kommt zu dem Ergebnis, daß ein guter Bürger und treuer Untertan eben nur ein Freimaurer sein kann. Die Kaiserin, selbst eine gewandte Schriftstellerin, begnügte sich zuerst damit, in polemischen Essais und satirischen Komödien das Freimaurerwesen zu verspotten; allein die zunehmende Verdächtigung des Ordens, dessen Wirksamkeit man mit den Umtrieben der Illuminaten in Deutschland verglich, steigerte die Animosität der Herrscherin. Gegen alle Mitglieder der russischen Freimaurerlogen und alle Teilnehmer des Nowikowschen Vereins wurden im Jahre 1792 Kriminalprozesse eröffnet; Nowikow selbst büßte bis zum Tode Katharinas in einer Zelle der Festung Schlüsselburg; Turgenjews Los war die Verbannung. Dem Schoße des Moskauer Gelehrtenkreises aber entwuchs bald eine stattliche Phalanx frischer, talentvoller Kräfte, die später der ersten jungen selbständigen russischen Literatur eine Gasse bahnten.
Dort also auf dem Herde, auf dem Nowikow das große Feuer der geistigen Aufklärung entzündete, finden wir einen Turgenjew, und er stellte sich in die Reihen derer, die die heilige Flamme durch das Land in die Dörfer und Hütten trugen. Es scheint, als ob seitdem mit der Turgenjewschen Familientradition schöngeistige Neigungen ebenso verknüpft sind, wie die Pflicht liberaler, humaner Bestrebungen und ein politischer Frondeurgeist.
Der Freimaurer Turgenjew vererbte die Eigenschaften auf seine Söhne, von denen Alexander I. Turgenjew und Nikolaus I. Turgenjew in der Geschichte Rußlands bekannt sind. Sie haben beide auf der Universität Göttingen als Schüler Schlözers und Heerens ihre Studien vollendet und standen auf dem Boden der modernen deutschen Wissenschaft. Alexander Iwanowitsch, geboren 1784, war ein ausgezeichneter Kenner des russischen Altertums. Die Früchte seiner unermüdlichen Forscherarbeit gab die Petersburger Archäologische Kommission als » Historiae Russiae Monumenta« heraus, eine unentbehrliche Grundlage historischer russischer Studien. Sein Briefwechsel bezeugt, daß er in intimem Verkehr mit den großen Denkern, Künstlern und Staatsmännern des westlichen Europas stand und mit ihnen über all die Interessen sich aussprach, die die damalige Gesellschaft bewegten. Mit Stein, Tieck, Sismondi, Dumont, Talleyrand, Royer-Collart, Guizot, Thierry, Capodistrias kam er in Berührung, und auf einer Reise nach Schottland war er mehrere Tage der Gast Sir Walter Scotts in Abbots-Fort. Den Dichter und Historiker Karamsin unterstützte er bei der Herausgabe seiner monumentalen Geschichte des russischen Staates (1816), indem er besonders dessen Beziehungen zu den fremden Gelehrten vermittelte. Mit Shukowsky, dem edlen Vermittler der russischen und deutschen Literatur, und mit dem talentvollen Fürsten Wjasemsky war er befreundet, und er stand an dem Sterbelager Puschkins, als dieser in dem Hause des Fürsten Wolkonsky seiner tödlichen Wunde erlag. Nikolaus Iwanowitsch Turgenjew, seinen Bruder (1789 geboren), finden wir 1813 als russischen Kommissar unter dem Freiherrn vom Stein bei der Verwaltung der deutschen Länder, die den Franzosen entrissen waren. Der große preußische Staatsmann liebte seinen jungen Gehilfen, dessen Name nach seinem eigenen Ausspruch gleichbedeutend war mit Redlichkeit und Ehre. Die Erinnerungsblätter, die er dreißig Jahre später dem preußischen Staatsmann widmete (in » La Russie et les Russes«), stehen noch unter dem Eindruck jugendlicher Begeisterung und berühren den deutschen Leser mit wohltuender Frische. Alexander v. Humboldt schrieb ihm: » Le nom que vous portez est environne dans notre pays de Souvenirs de respect et de haute estime.«
In sein Heimatland brachte Nikolaus 1816 das Herz voll Sehnsucht nach politischen und sozialen Reformen zurück. Im Jahre 1818 schrieb er eine Broschüre, die in der russischen nationalökonomischen Literatur für bedeutend gilt und eine große sensationelle Wirkung erzeugte, »Versuch einer Theorie der Steuern«. In diesem Werke benutzte er jede Möglichkeit und Gelegenheit, um aus politischen und finanziellen Gründen die Leibeigenschaft anzugreifen.
Das war der Feind, mit dem er sein ganzes Leben lang kämpfte, – länger kämpfte und vielleicht früher, als alle seine Zeitgenossen. Im nächsten Jahre legte er auch dem Zaren Alexander eine Denkschrift über die Leibeigenschaft vor, die die Idee verficht, daß nur die Autokratie der schmachvollen Knechtschaft ein Ende machen könne. Die edle Offenheit der Sprache imponierte dem Kaiser. Nikolaus schloß sich 1819 dem Bund des öffentlichen Wohles in Moskau an, der an den deutschen Tugendbund erinnert, und galt bald als Carbonaro. Als dann die extravagantesten Mitglieder ins Fahrwasser der Empörung gerieten, ward der Bund 1824 unterdrückt. Turgenjew war durch ein günstiges Geschick damals ins Ausland geführt, und der Mann, den einst das Ministerportefeuille erwartet hatte, wurde nun als Staatsverbrecher in contumaciam zum Tode verurteilt. 1826 fragte gelegentlich Shukowsky den Zaren Nikolaus I., ob Turgenjew nach Rußland zurückkehren dürfte, und der Herrscher in seinem rechtlichen Sinne erwiderte: »Fragst du mich als Kaiser, so sage ich: er muß! Fragst du mich als Privatmann, so sage ich: besser für ihn, wenn er nicht zurückkehrt.« Und Turgenjew blieb dem Vaterlande fern. Er verfaßte als Emigrant in Paris 1847 sein bekanntes Werk » La Russie et les Russes« in drei Bänden. Im Jahre 1856 wurde er endlich begnadigt und vom Kaiser bei seiner Rückkehr nach Petersburg mit größter Auszeichnung behandelt. Er fürchtete, daß er trotzdem nicht wieder heimisch werden könnte; so kehrte er nach Frankreich zurück. Hier starb dieser homme excellent et respectable, wie ihn sein Neffe Iwan Turgenjew in einem Brief an Flaubert nennt, erst 1871 in Bougival bei Paris.
Diese zwei Turgenjews haben auf die Entwicklung unseres Dichters keinen unmittelbaren Einfluß geübt, aber ein merkwürdiges Spiel der Natur hat ihre liebenswürdigen Charaktereigenschaften und ihre feine Geistesbildung in ihm schaffend wiederholt; selbst den Fluch der Heimatlosigkeit hat es nicht vergessen hinzuzufügen, der den gesamten geistigen Vortrab Rußlands getroffen hat.
Auch Iwan Turgenjew ist ein Westeuropäer, seine dichterische Persönlichkeit fügt sich harmonisch in das große Kulturgemälde der modernen romanisch-germanischen Welt ein, – und doch den eigentümlich russischen Staub vermöchten bei ihm sieben Wasser nicht abzuwaschen. Wer hätte auch russischer aufwachsen können als er!
Der Vater, Sergei Turgenjew, hatte als Oberst in der Armee gedient; nun lebte er nach seiner Verabschiedung auf seinem Familiengute Spaßkoje. Er war mit seiner Frau durch ganz Europa gereist, und die Möbel, Kunstwerke und Nippes, die beide in Deutschland, in Frankreich, in Italien und in der Schweiz aufgekauft hatten, erfüllten alle Räume des großen Hauses. Der Sohn hatte noch später in seinem Kabinett das Portrait des Vaters hängen. In seinen jungen Jahren war dieser dargestellt, angetan mit der weißen Uniform der Gardereiter, ein sehr hübscher Kopf mit weichen Zügen. Die wunderbar dunkelblauen Augen leuchteten von Mut, und um den sinnlichen Mund ging ein kaum bemerkbares Lächeln. Es war die Erscheinung eines Gentleman, wie die Mädchen sich die Helden träumen, – ein kluger und rücksichtsloser Sieger der Herzen. Seine Triumphe waren nicht unbewußte; er kannte seine Überlegenheit, die ihm die Frauen unterwarf, und er floh nicht die Gelegenheit, von seiner Gewalt Gebrauch zu machen. Auch auf das Kinderherz ging ein starker Strom der eigenartigen Anziehungskraft aus, und der Sohn hätte den Vater leidenschaftlich lieben können, wenn dieser nicht jede warmblütige Aufwallung an seiner frostigen Zurückhaltung hätte erstarren lassen. In dem Helden der Novelle »Erste Liebe« dürfen wir nach des Dichters eigener Versicherung seinen Vater erkennen. Viel jünger als seine Frau erscheint er; seine Haltung ist nachlässig stolz, ob er leicht und schlank dahinschreitet, oder mit rauher Hand das zitternde Pferd zügelt; ein Mann von eleganter, ruhiger Höflichkeit, dessen kühle Reserviertheit nur flüchtig im unbewachten Augenblick ein aufflackerndes Gefühl herzlicher Zärtlichkeit durchbricht. – Auf mich, sagt der Dichter, übte der Vater einen seltsamen Eindruck aus; und ganz eigentümlich war unser Verhältnis. Mit meiner Erziehung beschäftigte er sich gar nicht. Ja, er sprach sogar nur höchst selten mit mir; aber niemals kränkte, niemals beleidigte er mich; er achtete meine Freiheit; er war sogar höflich gegen mich; nur gestattete er nicht, daß ich mich ihm besonders näherte. Ich liebte ihn; ich konnte mich nicht satt an ihm sehen; er erschien mir als das Muster eines Mannes, – und, mein Gott, wie leidenschaftlich würde ich mich ihm angeschlossen haben, hätte ich nicht stets seine abwehrende Hand gefühlt. Wenn er es aber wollte, so verstand er es, fast augenblicklich mit einem einzigen Worte, einer einzigen Bewegung in mir ein unbegrenztes Vertrauen zu erwecken. Meine Seele erschloß sich ihm; ich plauderte mit ihm, wie mit einem vernünftigen Freunde, wie mit einem nachsichtigen Erzieher, – dann verließ er mich plötzlich, und seine Hand stieß mich wieder zurück, freundlich und sanft – aber sie stieß mich zurück. Bisweilen überkam ihn eine fröhliche Stimmung; dann ließ er sich herbei, wie ein Knabe toll und ausgelassen mit mir herum zu lärmen; und einmal, aber nur ein einziges Mal liebkoste er mich mit solcher Zärtlichkeit, daß ich hätte weinen mögen. Wenn ich später über meines Vaters Charakter nachdachte, so gelangte ich zu dem Schlusse, daß ich und das Familienleben ihm gleichgültig seien; er liebte etwas anderes und fand bei diesem anderen völlige Zerstreuung … »Nimm selbst, was Du kannst, aber überliefere Dich anderen nicht; sich selbst angehören – darin besteht die ganze Lebenskunst,« sagte der Vater einst zu dem Knaben, und ein anderes Mal: »Der Wille, der eigene Wille nur kann Dir eine Macht verleihen, welche besser ist als Freiheit; verstehe zu wollen, und Du wirst frei sein und herrschen!«
Sergei Turgenjew starb früh, schon im Jahre 1834, ehe noch sein Sohn Iwan zum Manne gereift war. In der »Ersten Liebe« hat der Held an dem Morgen, da ihn plötzlich der Schlag rührt, einen Brief an seinen Sohn zu schreiben angefangen mit den Worten: »Mein Sohn, fürchte Dich vor Frauenliebe, fürchte Dich vor diesem Glück, diesem Gift! …« Was dem raschen Leben des Vaters Kraft und Stoff gewesen, das verraten diese wenigen Worte seines Vermächtnisses.
Iwans Mutter hieß Warwara Petrowna. Sie war die adelige russische Herrin, die mit souveräner Vornehmheit, schroffer Willkür und rücksichtslosem Eigensinn, aber auch mit starrer Energie und kalter Überlegung das Leben des ländlichen Königreichs regierte. Unwillkürlich vergleicht man Kleines mit Großem, und die Figur der Kaiserin Katharina II. tritt in den Kreis der Gedanken.
Die Linien ihres Wesens waren herbe, und aus der reichen Mitgift der weiblichen Natur hatte sie nur die tollste Launenhaftigkeit sich bewahrt. So hatte sie einst die Manie, alle Leute zu kämmen. Sie rief die Stubenmädchen, kämmte ihnen selbst die Zöpfe aus und flocht sie von neuem. In Moskau rief sie einst irgend einen Invaliden, einen Bettler, von der Straße herauf; sie ließ ihn sich an ihrem Toilettentisch niedersetzen, kämmte sein Haar, bürstete und pomadisierte es; dann gab sie ihm Geld und entließ ihn.
Die despotischen Anlagen der Frau fanden auf dem Boden der russischen Leibeigenschaft das günstigste Wachstum. Nie konnte Iwan Turgenjew vergessen, wie sie einst zwei Leibeigene nur deshalb zur Deportation nach Sibirien bestimmte, weil sie einmal versäumt hatten, die Herrin ehrfurchtsvoll zu grüßen. Noch später sah er im Geiste seine Mutter am Fenster sitzen, durch das der helle Sommertag hereindrang, und draußen auf dem Hofe standen die beiden armseligen Bauernburschen mit finsterer Miene und entblößtem Haupt, fertig zur langen Reise; und sie neigten sich in Furcht und Zittern zum Abschied vor der Frau, die ungerührt wie der zürnende Gott sie ins traurige Elend stieß. Diese Reminiscenz aus früher Kinderzeit klingt in dichterischer Umgestaltung aus der Novelle »Punin und Baburin« wieder. Auch in der kleinen Erzählung »Mumu« hat bei der Schilderung der unempfindlichen, herzlosen Herrin dem Dichter die Erinnerung an seine eigene Mutter die Hand geführt. Weniger grausam als malitiös und hippokratisch ist das Gesicht der alten Dame, das uns aus den Memoiren ihrer Adoptivtochter entgegenblickt. Turgenjews Mutter hatte die Gewohnheit, die Geburtstage ihrer Söhne zu feiern, auch wenn diese in der Ferne weilten. In drei großen Räumen waren dann die Tafeln für die Hausgenossen, für die Dienerschaft und für die Leibeigenen gedeckt. Sie selbst saß am Eingange der langen Galerie auf einem großen Fauteuil. Nun erschienen alle Bediensteten dort nach ihrem Range. Ein jeder ging zu ihr, küßte ihr die Hand, nahm dann sein Glas, verneigte sich sehr tief und trank. – Als 1845 sich diese Zeremonie am Geburtstage Iwans wiederholte, lag auf den Mienen der Dame ein drohendes Unheil. Aber es brach doch erst los, als der Tag zu Ende ging. Sie wußte sehr wohl, daß zu derselben Zeit auch ihr Hausverwalter seinen Namenstag feierte und im Verein mit den Hausbeamten und Dienern sich gewohnheitsmäßig über den Zustand der Nüchternheit hinwegzusetzen liebte. Und da ersann sie für diese Arglosen eine kalte Überraschung. Sie stieß mit einem Male einen furchtbaren Schmerzensschrei aus und begann eine regelrechte Todeskomödie zu schauspielern. Der Arzt wurde gerufen, auch der Pope kam. Sie segnete mit ersterbendem Hauch die Bilder ihrer zwei Söhne, während die Umstehenden in Tränen schwammen. Mit einem Ruck richtet sich da die Kranke im Bette auf; die ganze Dienerschaft soll sofort erscheinen, um ihr das letzte Lebewohl zu sagen! Und sie kommen, an fünfzig Personen, einer nach dem anderen. Das halbgeschlossene Auge der Herrin mustert die Vorüberschreitenden ganz genau. – Und dann – ist sie urplötzlich gesund und trinkt zwei Tassen Thee. Die Namen der Diener, die beim Defilieren gefehlt oder einen Anflug von Betrunkenheit verraten hatten, werden notiert, und am nächsten Tage müssen die Schuldigen vor den Fenstern der Gebieterin mit Schaufeln und Besen Hof und Garten kehren.
Ein anderes Mal fühlte sich Warwara Petrowna am Ostermorgen durch den lauten Klang der Kirchenglocken unsanft aus dem Schlafe geweckt und in ihrer guten Laune gestört. Da ihr die Lust zur Festfeier vergangen war, mußten die Glocken sofort schweigen, und mit ihrer ganzen Souveränität dekretierte sie, daß kein Osterfest sei. Die Läden ihres Schlafzimmers blieben geschlossen, sie selbst lag im Bett. Die mit dem sonntäglichen Sèvresporzellan geschmückte Tafel, das Lamm aus Butter, mit Grün verziert, das duftende Osterbrot, die rotgefärbten Eier – alles wartete vergeblich auf den Beginn des Festes. Der Haushofmeister zog allmählich den Frack, die weißen Handschuhe wieder aus; der Pope, der zum Segnen erschien, wurde abgewiesen; der Tag verging – und da es Warwara Petrowna so wollte, so fiel eben in diesem Jahre das heilige Osterfest aus.
Bei despotischen Naturen pflegt wenigstens an einer Stelle des steinernen Herzens ein warmer Strom hervorzubrechen und sich in der milderen Form der Selbstsucht, in der Liebe zu den eigenen Kindern, zu äußern. Bei Turgenjews Mutter floß auch diese Quelle nicht. Der Knabe wurde gestraft – so erzählte er selbst später einmal seinem Freunde Polonsky – wegen jeder Dummheit, fast jeden Tag. Einst hatte eine alte Hausdienerin, Gott weiß was, über ihn seiner Mutter zugetragen. Die Mutter begann, ihn sofort, ohne die Sache zu untersuchen, zu hauen. Sie schlug ihn eigenhändig, und auf alle seine Bitten, zu sagen, weshalb er gestraft werde, erklärte sie: »Du wirst es selbst wissen; errate es selbst, weshalb ich Dich haue!« Als die Züchtigung sich am nächsten Tage wiederholte, war der Knabe in solcher Angst, daß er den Entschluß faßte, in der Nacht davonzulaufen. Wie ein Dieb schlich er im Finstern, schwer atmend und zitternd, durch den Korridor, als eine brennende Kerze auftauchte. Es war der deutsche Hauslehrer, der sich näherte. »Ich will entlaufen,« sagte der Flüchtling und brach in Tränen aus. »Wie? Wohin entlaufen?« – »Wohin mich meine Füße tragen werden.« – »Weshalb?« – »Weil man mich haut und ich nicht weiß, weshalb man mich haut.« – Da liebkoste der gute Alte das Kind, und er setzte es auch durch, daß die Mutter ihren Sohn fortan in Ruhe ließ. Aber dieser scheute sie doch wie das Feuer. Auch das Alter, das die schroffen Härten des Charakters freundlich zu glätten liebt, hat nicht vermocht, eine dauernde herzliche Annäherung der Mutter und des Sohnes herbeizuführen. Warwara Petrowna starb im Jahre 1850.
Iwan Turgenjew hatte einen älteren Bruder, Nikolaus Sergejewitsch. Er spielt keine bemerkenswerte Rolle in der Jugendzeit des Dichters, und auch das spätere Leben hat die Brüder nie in ein enges geschwisterliches Verhältnis gebracht. Es war, wie der Russe sagt, eine schwarze Katze zwischen ihnen hindurchgelaufen. Als am 21. Januar 1879 Iwan die Nachricht von dem Tode seines Bruders empfing, schrieb er an Flaubert: »Die Nachricht macht mir großen Kummer, obwohl wir uns nur selten sahen und fast gar nichts Gemeinsames miteinander hatten. Bruderliebe ist oft weniger wie Freundschaft – aber doch wieder eine ganz andere Sache; sie ist weniger lebhaft, aber intimer.«
Iwan Turgenjews Knabenzeit ruhte nicht auf dem Hintergrunde eines warmen Familienlebens. Umgeben von dem Reichtum einer aristokratischen Welt, entbehrte er den Schatz, der dem ärmsten Bauernkinde die ersten Lebensjahre zu einem märchenhaften Traumlande macht. Vom Vater mit abstoßender Gleichgültigkeit, von der Mutter mir unmütterlicher Strenge behandelt, fand er keinen Ersatz in der zärtlichen Zuneigung eines anderen Verwandten. Und doch blieb sein junges Herz von Verschüchterung und Verstocktheit fern. Eine gütige Fee bewahrte ihn vor dieser Gefahr, indem sie ihn die Sprache der Natur lehrte. Die selige Freude, die der Knabe aus dem vertrauten Verkehr mit Wald und Flur, mit Mensch und Tier sog, hat sein ganzes Gemüt durchsonnt und jede Klage von der Bitterkeit seiner kleinen Leiden übergoldet.
Wandern wir hinüber in die Sphäre des altrussischen Steppenjunkertums, so denken wir an die Vorzimmer, in denen es nach Juchten und Talglichtern riecht, an die Familienzimmer mit den unzähligen Fliegen, mit den Geranientöpfen und dem verstimmten Klavier, an die Gastzimmer mit den großen Pfeilerspiegeln und den gestreiften Diwans. Im weiträumigen Saale prangt die offene Tafel, und die geladenen und ungeladenen Gäste füllen sich den Magen mit allem, was das Herz begehrt, besonders mit den berühmten Erzeugnissen der russischen Küche, die den Menschen bis zum spätesten Abend der Möglichkeit berauben, sich mit etwas anderem als mit Préférence zu beschäftigen. Die prächtigsten Pferde und die schnellsten Hunde stehen in den Ställen, und in den Flügeln des Herrenhauses treibt sich ein ganzes Heer von Musikanten und Sängern, von Tänzern und Possenreißern herum. An den Festtagen wird das ganze Volk im Dorfe mit Bier und Branntwein bewirtet. Und kommt der Winter, dann fährt die altmodische, große Familienkarosse den Herrn nach seinem Paris, nach Moskau. – Iwan Turgenjews stattliches Vaterhaus war nach Landessitte aus Holz errichtet. Es umfaßte eine Unsumme von Gemächern und einen weiten Saal mit zwei Fensterreihen und Emporen. In einem der Seitenflügel befand sich die Webstube, wo man Teppiche, Leinwand und Tuche für den Hausgebrauch wob; in dem andern hauste ein Teil der Dienerschaft, besonders die leibeigenen Musikanten. In dem umständlichen Bau mit seinen unheimlichen Winkeln und langen düsteren Gängen – welches buntfarbige Gewirr von Dienern und Dienerinnen, die in dieser kleinen Welt aufwuchsen und alterten! Sie kannten keine andere Sonne als die Gnade der Herrschaft, mit deren Ereignissen und Erinnerungen sie seit Generationen verwachsen waren. Auf den Korridoren da raunt und lauscht es, in den Gesindestuben da klatscht es und schmeichelt's und flüstert's. Die Ränkesucht spinnt ihre Fäden, und Furcht und Aberglauben, Sagen und Schwänke schleichen durch die Hallen. Der auflauschenden Seele des jungen Herrensohnes führt das tausendfältige Wirken und Walten in dieser Arche Noahs eine unerschöpfliche Nahrung zu.
Wie eine andere Zone empfängt ihn dann die Flucht der elterlichen Wohnräume. Mit ausländischem Hausrat, mit allerhand Raritäten und seltsamem Wirrwarr sind sie erfüllt. Alte, dickbäuchige Kommoden, an denen der Messingbeschlag leuchtet, stehen da und die weißen Stühle mit ovalen Lehnen und gebogenen Füßen. Der gläserne Kronenleuchter ist dicht mit Fliegen besetzt. Eine Uhr, von Lepée mit Amoretten geziert, ticktakt auf dem Kamin. Die Schränke bergen das Porzellan von Sèvres und das alte Silbergeschirr, die Brillantschmucksachen der Mutter und ihre kostbaren Spitzen. Nachgedunkelte Heiligenbilder hängen an den Wänden, unter ihnen eine Kopie des nicht von Menschenhand gemalten Christus. Aber stärker stacheln die Phantasie jene Familienportraits alter Turgenjews in vergoldeten, von den Fliegen beschmutzten Rahmen. Es sind die Tage der Großen Katharina und des Zaren Paul, die diese Gestalten heraufbeschwören, die gute, alte Zeit, wie sie den staunenden Epigonen erschien. Die Bilder bannten den Blick des Knaben, der vor ihnen seine Schritte hemmte, und sie ließen den Dichter nicht los, bis er ihnen in seinen Novellen Auferstehen und neues Leben schuf.
Da blickte jene schöne Frau herab, Melania Pawlona, eine Verwandte von Turgenjews Mutter. La Vénus de Moscou hatte man sie einst genannt, und kein geringerer als der mächtige Günstling Graf Orlow hatte einst ihren Reizen geschmeichelt. Und da war auch der alte Geizhals Lutwinow und dann sein Sohn Wassili Iwanowitsch, der in der Erzählung »Drei Bilder« unter dem Namen Lutschinow auftritt, – der gewissenlose, leidenschaftliche, geschmeidige Gardeoffizier, der seine Cousine Olga verführt und ihren armen Bräutigam, den gutmütigen Rogatschew, mit kalter, teuflischer Berechnung niederstößt. Wir sehen mit den Augen des Dichters diese drei Bilder: In der Mitte hängt eine junge Dame in weißem Kleide mit einem Spitzenkragen und einer hohen Frisur nach der Mode der achtziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts; rechts von ihr auf einem schwarzen Hintergrund das runde, dicke Gesicht eines russischen gutmütigen Gutsbesitzers von 25 Jahren mit einer niederen, breiten Stirn, einer stumpfen Nase und einem einfältigen Lächeln. Die französische gepuderte Perücke paßt sehr schlecht zu dem Ausdruck seines slavischen Gesichtes. Der Maler hat ihn in einem Kaftan von hochroter Farbe abgebildet, mit großen Knöpfen, die mit falschen Diamanten besetzt sind; in der Hand hält er irgend eine unbekannte Blume. Auf seiner Brust aber ist an der Stelle des Herzens ein dreieckiges, regelmäßiges Loch mit einem Florett durch die Leinwand gestoßen. Zur Linken der Dame hängt das Portrait eines dreißigjährigen Mannes, das von einer kunstfertigeren Hand herzurühren scheint; er trägt die grüne Uniform aus der Zeit Katharinas II. mit roten Aufschlägen, eine weiße Weste und feine Battisthalsbinde. Mit der einen Hand stützt er sich auf einen Stock mit goldenem Knopf, die andere hat er in die Westentasche gesteckt. Sein braunes Gesicht drückt Hochmut aus, und die feinen Augenbrauen sind fast zugewachsen über den schwarzen Augen. Auf den bleichen, kaum bemerkbaren Lippen spielt ein böses Lächeln.
Turgenjews Vaterhaus ist später durch einen Brand bis auf den Grund zerstört worden, und viel von dem ehrwürdigen Hausrat vernichtete das Feuer. Das neue Gebäude erhob sich in bescheidener Gestalt auf einem Flügel des alten, und Rasen und Hagedornsträuche wuchsen über der Brandstätte.
Die Erinnerung an die Heimat seiner Kinderzeit hat der Dichter auch in rhythmischen Wohllaut ausklingen lassen; aber nur wenige Verse sind aus dem Gedichte, das er später verbrannte, uns aufbewahrt:
– – Und allgemach begann es ihn zu ziehen
Heim in sein Dorf und in des Gartens Düster,
Wo sich der Linden hohe, schatt'ge Pracht
Mit keuschem Duft der Maienglocke einet;
Wo üppig nieder über das Gewässer
Vom Damm sich neigt der Linse voller Busch;
Wo machtvoll aufwärts von der reichen Aue
Die Eiche strebt und Hanf und Nessel blüht.
– Dorthin, dorthin, zu jenen trauten Fluren,
Wo gleich dem Sammet die Erde dunkel schimmert,
Der Roggen prangt, soweit das Auge schweift,
Sich wiegt in sanften Wogen traut und leise.
– Ein mächtig gold'ner Strahl fällt hell hernieder
Aus duftig weißem, schwellendem Gewölk.
– Wie schön ist's dort! – – –
Ein weiter Garten umgab Turgenjews Vaterhaus. Lindenalleen mit ihrem zarten Laub und den mächtigen, verwachsenen Ästen woben jenes Düster, in dem der Knabe seine Träume spann. Wie liebte er die graugrüne, sanfte Färbung und den feinen Duft der Luft unter ihren Zweigen – diese Bäume, die dem Russen heilig sind, sodaß sie selbst die erbarmungslose Axt des Bauern gerne schont. Im Schatten einer Linde liegt er, und um ihn ist es kühl und still. Die Fliegen und die Bienen, die hier schwirren, scheinen leiser zu summen. Das kurze, smaragdgrüne Gras schimmert nicht so goldig wie dort, wo es von der Sonne hell beleuchtet wird. Still und ruhig, wie von einem Zauber in Bann geschlagen, stehen die Halme, und regungslos wie ohne Leben hängen von den unteren Zweigen des Baumes gelbe Blütenbüschel herab. Mit innigem Behagen zieht jeder Atemzug den kräftigen Duft ein. Weit, weit hinten, jenseits des Flusses, wo Himmel und Erde einander zu berühren scheinen, liegt alles gebadet in Sonnenglanz und Hitze. Kein Vogel läßt sich hören – es ist ja die heiße Mittagsstunde – aber um so eifriger zirpen die Grillen; ihr Geräusch wirkt in seiner Gleichmäßigkeit beruhigend, fast einschläfernd, und regt doch die Phantasie an.
Die längste Allee, schnurgerade, führte zum Teich, den ein Hügelrand einfaßte. Aus dem Uferrande blickten wundersam gestaltete, knorrige Wurzeln, wie große schwarze Adern, wie Schlangen, Flüchtlinge aus einem unterirdischen Reiche. Der Wind kräuselte das Wasser, und Lehmhügel und Baumwipfel spiegelten sich in seiner Flut. Weidengebüsch wuchs am Rande, und höher hinauf zog sich festverschlungenes Hasel-, Flieder-, Geißblatt- und Dornengesträuch, durchwachsen von Haidekraut und Goldlack. Da schlugen im Frühling die Nachtigallen, sangen die Drosseln, rief der Kuckuck. Gern verlor sich in dies Dickicht der Knabe, seine geheimen Lieblingsplätze suchend, von denen außer ihm niemand auf der Welt etwas ahnte. Die Schweiz hatte er einen dieser Winkel getauft. Und da war auch inmitten mächtiger Fichten die alte Orangerie mit den Pfirsichen; da standen die Kirschbäume, die Melonenbeete, die Erdbeeren, die Himbeersträucher, die Stachelbeeren und eine unvertilgbare Menge von schwarzen und roten Johannisbeeren.
Jenseits dieser umhegten kleinen Welt zog der große russische Wald. Mit welchem Behagen muß der Dichter wieder und immer wieder dieses heimatlichen Waldes gedenken. Wir lassen uns einmal von ihm in den Wald von Tschaplygino führen, der aus ungeheuern, uralten Eichen besteht. Ihre stattlichen, mächtigen Stämme schimmern halbdunkel durch das goldige, durchsichtige Grün der Nußsträuche und Ebereschen; sie recken sich empor und zeichnen ihre Äste schwarz vom klaren Lasurblau des Himmels ab. Habichte und Mauerfalken flattern mit Geschrei unter den stillragenden Wipfeln, und bunte Spechte klopfen laut auf die dicken Wurzeln. Der helle Ruf der Amsel erhebt sich unvermutet droben im dichten Laube, und der durchdringende Schrei des Pirols antwortet ihm, während unten im Gebüsch die Grasmücken und Zeisige zwitschern und singen und der Fink behend über den Boden läuft. Ein Hase stiehlt sich längs des Waldsaumes vorsichtig hin. Das rotbraune Eichkätzchen springt leichtfüßig von Baum zu Baum, bleibt plötzlich hocken und hält den Schwanz hoch nach dem Kopf erhoben. Im Grase um die hohen Ameisenhaufen und unter dem Schatten des Farrenkrautes blühen die Veilchen und Primeln, wachsen die Pilze, glänzen die roten Erdbeeren … In der glühendsten Hitze, wenn draußen die Sonne senkrecht steht, ist hier Schatten und Nacht, ist hier Stille, Duft und Frische.
Unmittelbar an den Garten fügte sich das Dorf mit der Branntweinschenke, mit der Schule und dem Gotteshause. Die kleine Dorfkirche ist alt, das Glöcklein oben im Turm ist zersprungen, den Altar hat die Zeit geschwärzt. Die Wände sind nackt, und der Ziegelsteinboden ist zerschlagen. Der greise Vorsänger trägt noch ein Zöpfchen im Nacken und hat sich mit einem grünen Gürtel umgürtet; seine Stimme schallt eintönig durch den Raum. Auch der Geistliche ist hochbetagt; sein ehrwürdiges Gesicht ist stumpf geworden; er trägt ein lilafarbenes Priestergewand, mit gelben Blumen bestickt. Vom goldigen Staube des Sonnenlichtes heben sich die braunen Köpfe der Bauern ab, lauter blondhaarige Gesichter. Von Zeit zu Zeit beugen sie sich und erheben sich wieder, gleich reifen Ähren, wenn der sommerliche Wind wie eine langsam flutende Welle über sie dahinstreicht. In langen bläulichen Streifen schwebt der Weihrauchdampf. Draußen aber vor den offenen Fenstern rauscht und flüstert das junge, frische Laub der Birken; vom Hofe dringt ein Heugeruch herein, und die rote Flamme der Wachslichter erbleicht vor dem hellen Glanz des heiteren Tages. Die Sperlinge zwitschern um das Kirchendach, und aus der Kuppel klingt der feine, scharfe Ruf der segelnden Schwalbe.
Um die Kirche scharen sich die Häuser und Hütten. Ein russisches Dorf weckt in Turgenjews Skizzierung nie die heitersten Gefühle. Da gewahren wir die kleinen, niedrigen Holzbauten, die sich auf die Seite zu legen beginnen. Die Wände sind aus grauem Espenholz, und die schwarzen Strohdächer sind zerrissen und zerfallen. Erbärmliche Scheunen stehen daneben, deren Wände aus Zweigen geflochten sind. Die Höfe liegen von wuchernden Brennesseln und Wermut überwachsen. Ein paar dürre, langschnäbelige Hühner trippeln, und junge Gänse tummeln sich auf staubbedecktem Weideplatz. Abgemagerte, zottige Kühe rupfen gierig das Gras längs den Gräben ab; sie sehen aus, als seien sie soeben mit genauer Not irgendwelchen mörderischen Klauen entkommen. Und ein einsamer schwarzer Hund mit dünnem Schwanze schaut melancholisch darein.
Ein echter, rechter russischer Steppenjunker war von allzugroßer Bürde trockner Gelehrsamkeit nicht beschwert. Er las wenig russisch und verstand nur schlecht französisch; aber er wußte immerhin, daß einmal ein gewisser Voltaire, ein sehr geistreicher Schriftsteller, gelebt und daß Friedrich der Große, ein König von Preußen, sich durch bedeutende Waffentaten ausgezeichnet hatte.
Iwan Turgenjews Erziehung war ein wenig sorgfältiger, aber das Verdienst, die wunderbar reichen Anlagen seines Geistes geweckt oder mit belebendem Hauche erwärmt zu haben, gebührt ihr nicht. Nach alter Tradition war seine junge Seele ganz in die Hand ausländischer Hauslehrer gegeben. Das waren Leute, die nach dem Schiffbruch eines abenteuerlichen Lebens in der weltentlegenen Bucht gelandet und gestrandet waren, zumeist Franzosen und Deutsche, deren Nationalität ersetzte, was ihnen an Fähigkeit und Eifer mangelte. Ziehen diese Schattenrisse in der Erinnerung des Dichters vorüber, so nehmen sie ein groteskes Aussehen an. So schleppte der eine Präceptor, wo er ging und stand, eine gewöhnliche Krähe in einem Käfig mit sich herum, und traten ihm ein paar Schillersche Verse auf die Lippen, so rollten ihm die Tränen aus den Augen. Der Empfindsame enthüllte sich später als ein Sattlersgesell, der, Gott weiß wie und wo, sein bißchen Schulweißheit aufgelesen hatte. Liebevoller gedachte Turgenjew einmal in einem Gespräche mit seinem Freunde Polonsky eines alten, guten deutschen Lehrers, in dessen Trost er einen Schutz gegen die unerbittlichen und unverdienten Züchtigungen der Mutter hatte. Man findet diese treue Seele wohl in dem biederen Sprachlehrer Schimmel wieder, der in der Novelle »Faust« auftritt. Er trägt da einen kurzschoßigen, zimmetbraunen Frack und ist reinlich und sorgfältig rasiert; über sein bescheidenes, ehrliches Gesicht geht ein zahnloses Lächeln, und ein starker Cichoriengeruch, der unvermeidliche Duft aller alten Deutschen, verbreitet sich um ihn. Er glänzt nicht als feinpolierter Geist in der Gesellschaft; als er aber bei einer gefährlichen Kahnfahrt das Steuer in seine ruhige, sichere Hand nimmt, ist er am rechten Platze ein ganzer Mann. »So macht man's bei uns in Kuxhaven,« sagt er lächelnd. In der »Seltsamen Geschichte« läßt der Dichter ein anderes Pädagogen-Original auftauchen, das Abbild seines französischen Hofmeisters. Den schmückt ein grüner Frack mit kupfernen Knöpfen, eine gestreifte Weste mit Stehkragen, ein Jabot und Manschetten; sein Kopf ist ungeheuer dick, das dichte, weiße Haar hat er nach hinten zurückgestrichen; unter den buschigen, schwarzen Brauen lugt eine Habichtsnase, und mitten auf seiner Stirn leuchten zwei große, lilafarbene Warzen.
In der Erzählung »Punin und Baburin« improvisiert der alte Punin mit einem Ausfall gegen die französische Gouvernante des Knaben pathetisch die Reime: »O die Reichen, o die Reichen! Wie sie weichen, wie sie weichen von der Väter Sinn! Wie sie leben, wie sie streben nach des Auslands Sitte hin!«
Von Ausländern ausländisch erzogen, bildete sich Iwan Turgenjew selbst zu einem halben Ausländer heran. Die russische Aristokratie brüstete sich mit der Unkenntnis der Muttersprache. Nach Puschkin dürfen auf roten russischen Frauenlippen neben holdem Lächeln ein paar grammatikalische Klippen nicht fehlen, und dieser Dichter, der wie kein anderer seine Sprache zu meistern verstand, schrieb im Jahre 1820 an einen russischen Freund, » Je vous parlerai la langue de l'Europe, elle m'est plus familière.« So hörten auch im Spaßkojer Salon die Kinder jenen französisch-russischen Jargon, der in der russischen fine fleur zu Baden-Baden für chic galt. Die heimische Literatur fand in den Zirkeln der moskowitischen Klein-Pariser keine Wertschätzung, und die Beschäftigung mit dieser Poesie war vollends de mauvais gout. Durchaus typisch ist es, wenn der Erzähler in »Punin und Baburin« schildert, wie in seinem Vaterhause russische Gedichte für abgeschmackt und plebejisch galten; die Großmutter nannte sie überhaupt nur Reimereien, und ein Dichter war für sie entweder ein Erztrunkenbold oder ein vollendeter Narr. – Als später einmal in Moskau ein Jugendfreund zu Iwan Turgenjew kam und ihm mit Begeisterung ein schwungvolles Gedicht deklamierte, stand Nicolaus Turgenjew, der Bruder, hinter der Türe und wollte vor Lachen fast ersticken.
Einen flüchtigen Blick ins gelobte Land der Poesie hatten allerdings Turgenjews Eltern doch getan. Der Vater war mit dem Dichter Sagoskin befreundet, und die Mutter hatte als junges Mädchen eine Zeitlang die Bekanntschaft des berühmten Shukowsky gepflegt. Sie erzählte wohl noch öfters, wie dieser von seinem benachbarten Gute wiederholt nach Mtsensk herübergekommen war und einmal sogar bei einer Theateraufführung die Rolle eines Zauberers gespielt hatte. Der junge Iwan hat bei seinen Streifereien durch die Rumpelkammer des Elternhauses noch die Zauberkappe mit ihrem Goldpapierschmuck aufgestöbert.
Der Russe träumt von einem fernen, warmen Lande am blauen Meer, wo der Märchenvogel mit seiner süßen Stimme singt, wo kein harter Winter die Blätter von den Bäumen wirft, wo goldene Äpfel auf silbernen Zweigen wachsen und jeder Mensch in eitel Wonne und Glückseligkeit lebt. Das ist die Welt der Poesie. »Ich höre Sie gerne Gedichte lesen; Sie lesen in einem singenden Tone; aber das tut nichts; das deutet auf Jugend hin« – so sagt Sinaide in der »Ersten Liebe« zu dem halberwachsenen Jüngling und fährt dann fort: »Dadurch ist eben die Poesie so schön, daß sie uns das sagt, was nicht ist – und was doch nicht nur besser ist als das, was ist, sondern sogar der Wahrheit näher kommt!«
In Turgenjews Leben drang die Poesie auf eine poetische Weise.
In »Punin und Baburin« erzählt uns das Turgenjew auf eine reizende Art, und wir glauben gern das, was hier als Wahrheit und Dichtung zu uns spricht.
Im Jahre 1830 war es, als in den stillen Winkel seines jungen Lebens eine eigentümliche Erscheinung trat, ein verbummelter Student, der Sonderling Punin. Eine lange, lange Gestalt war es mit gelbem Sommerrock und hoher Filzmütze. In dem langen, weichen, bartlosen Gesicht hat er kleine, rötliche Augen und eine Nase, die ausgereckt und gewunden wie eine Schote über den aufgeworfenen Lippen hing. Und diesem vertrauten Freund der kleinen Vogelwelt, diesem armen Mann voll Gutherzigkeit, Unschuld und Heiterkeit flog das Herz des Knaben zu, trotzdem die Großmutter mißbilligend ihre Lorgnette auf diese intimité mit einem Menschen du commun richtete. So saßen die beiden, das junge und das alte Kind, unter dem Schatten am Teich. Der beredte Mund des kahlköpfigen, hageren Einsiedlers konnte stundenlang plaudern, und die Aufmerksamkeit, mit der der kleine Zuhörer seinen Worten lauschte, reizte ihn zum Übertreiben und zum Fabulieren. Aus der Prosa flog seine emphatische Rhetorik dann im Moment der Begeisterung zum rhythmischen Klange und zum Reimvers auf. Glückliche Stunden. Am wonnigsten war das Entzücken, wenn der lehrhafte Alte im einsamen Versteck ein dickes Buch öffnete und wenn dann mit dem scharfen Modergeruch die ersten süßen Töne russischer Dichtkunst zu dem Schüler drangen … »Punin deklamierte vorzugsweise schwungvolle, klingende Verse. Und seine ganze Seele legte er hinein. Er deklamierte dann nicht mehr, nein, er brüllte sie, feierlich, stoßweise donnernd, wie ein Berauschter, wie ein Verzückter, wie eine Pythia … Er las erst den Vers leise mit halblauter Stimme, wie wenn er etwas vor sich hinsummte. Er nannte das: im Entwurf deklamieren. Dann aber brüllte er, aufspringend und an allen Gliedern bebend, diesen selben Vers in der Reinschrift heraus.« So tat sich vor dem Knaben zuerst die schöne Welt des Scheins auf; ein verkommener, greisenhafter Mensch aus der Hefe des Volkes erschloß dem vornehmen Edelmannssohne die feine, galante pseudoklassische Dichtung aus der Zeit der Elisabeth und Katharina. Lomonossows, Sumarokows, Kantemirs und Derschawins Verse erklangen hier. Aber am mächtigsten packte doch das junge Gemüt der Dichter Cheraskow. »Ja,« pflegte Punin zu sagen, »mit diesem Cheraskow nimmt's keiner auf; allerdings manchmal zerrt er wohl etwas an einem Verse herum und quetscht ihn nur so heraus … aber aufgepaßt! Kaum glaubst du, ihn gefaßt zu haben, so geht's wieder los mit ihm, und dann hallt das und schallt das wie eine Posaune. Nicht umsonst hat er einen so volltönenden Namen – mit einem Wort ein Cheraskow!«
Schnell sprang die Lust zum Fabulieren und zum Reimen vom Meister auf den Zögling über, sodaß die alte Wärterin sich über seine Phantastereien entsetzte und ihn als einen vom Teufel Besessenen anstarrte. Er versuchte sich auch als Dichter in der Beschreibung einer Drehorgel, und Punin, der dem Thema selbst keine dichterische Seite abgewinnen konnte, lobte doch wenigstens die Klangwirkung der kindischen Verse.
Dann kam die Trennungsstunde. Die merkwürdigen Freunde schlossen sich in eine Rumpelkammer ein und versuchten zum letzten Male die Russiade Cheraskows zu lesen. Aber sie blieben bei den ersten Versen stecken, und der Schüler begann vor Schmerz zu brüllen wie ein Kalb.
Ein schöner Traum zerflatterte. Der Knabe mit den rotgeweinten Augen und mit dem bäuerischen Geruch, der ihm noch von der letzten Umarmung mit seinem Freunde Punin anhaftete, stand vor seiner Großmutter. Und sie rümpfte die Nase und sagte mit ihrer schneidenden Stimme: »Die ungeziemenden Albernheiten sollen nun aufhören; es bedarf eines männlichen Erziehers, um mit dir fertig zu werden. Wir kehren nach Moskau zurück.« Da schloß die Idylle der Kindheit ihre Pforten zu.
Die Gestalt der Großmutter in dieser Erzählung hat die Züge von des Dichters eigener Mutter entlehnt, und in Punin steckt als Kern der Wirklichkeit ein russischer Hofknecht, der den Knaben tatsächlich in Cheraskows Russiade einführte.