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Nach einem Grundsatze des Mittelalters mußte Jedermann von seines Gleichen gerichtet werden; dieser Grundsatz entsprang scharf begrenzten und eifersüchtig bewahrten Standesrechten. Jeder Stand verwaltete seine eigenen Angelegenheiten, besaß verbriefte Freiheiten und Rechte, die Leibeigenschaft nicht ausgenommen. Auch sie freute sich des Schutzes unveräußerlicher Rechte. Persönlich frei, war der Leibeigene nur an die Scholle gebunden, die er bebaute. Gefiel ihm diese Verbindung nicht mehr, so gab es verschiedene Wege, dieselbe zu lösen, – der einfachste war, sich in der nächsten Stadt als Pfahlbürger nieder zu lassen. Im Allgemeinen führte der Leibeigene ein sorgenfreies Leben. Drückende Steuern kannte er nicht, und seine Abgaben und Frohndienste an den Grundherrn waren leicht erträglich und nichts weiter, als Gegenleistungen für den erhaltenen, meist erblichen Grundbesitz und für den vogteiherrlichen Schutz. Er konnte Eigenthum erwerben, war Theilhaber des Gemeindelandes und nicht ausgeschlossen von Mitnutzung von Weide, Wald und Wasser. Dagegen gehörte es nicht zu den Pflichten seines Standes, Waffen zu tragen, das heißt, Soldat zu werden, – ohne Zweifel eine leicht verwindbare Zurücksetzung.
Die beiden Ideen, welche das christliche Mittelalter bewegten, Freiheit und Religion, erfüllten namentlich den deutschen Bauernstand Duae sunt causae, quas homines affectuosissime tuentur et quas praeponunt animabus suis: altera libertatis, altera fidei et religionis. Job. Saresb. ep. 193. . Selbstbewußt war der Bauer, festhaltend an seinen Rechten, unbeugsam im Herkommen und gerne bereit, für Freiheit und Glauben sein Blut zu vergießen. Dahin gehörte die ländliche Gerichtsbarkeit. Der Schultheiß und die Schöppen bildeten das Gericht in den Dörfern. Weniger als sieben Schöppen durften es nicht sein »Ir sullen ze minsten siebene sin.« Schwabenspiegel c. 172.
Recht wurde nicht gesprochen nach geschriebenen Gesetzen, sondern nach altem Herkommen. Die Schöppen oder Urtheilshelfer suchten und fanden das Urtheil, der Richter sprach es aus.
Die Gerichtsstätte, Ding- oder Malstatt genannt, war unter freiem Himmel, unverrückbar, umfriedet und heilig.
Am Fuße des Melibokus lag das wohlhabende Dorf Auerbach. Nur zinsfreie Bauern bewohnten dasselbe. Früher war der Ort an die nahe gelegene, sehr alte und reich begüterte Abtei Lorsch zinspflichtig gewesen für Güter, die Kaiser Karl der Große jenem Kloster geschenkt. Längst hatten die Bauern von dieser Verbindlichkeit sich gelöst und erkannten als Herren über sich nur Gott und den Kaiser.
Ritter Baldemar, Lehensmann der Abtei Lorsch, war klagbar geworden. Der Diebstahl versetzte die Dorfbewohner in die größte Aufregung und Entrüstung. Man fühlte lebhaft die Schmach und Beschimpfung, durch Hatto's Frevel über die ganze Gemeinde gebracht. Harte Worte fielen gegen den Missethäter, welcher beharrlich die That läugnete. Tag und Stunde des Gerichtes wurden angesagt, Kläger und Beklagter durch den Frohnboten vorgeladen.
Auf der Dingstatt, einem freien, kreisförmigen Platz vor der Kirche, wo die altehrwürdige Gerichtslinde stand, war am frühen Morgen die ganze Gemeinde versammelt. Die engere Dingstatt war ein abgemessener Raum, umfriedet durch eine lebendige Hecke des Haselnußstrauches und so nieder, daß Richter und Schöppen von den Umstehenden gesehen werden konnten. Im Innern dieses umschränkten Raumes, welcher an der östlichen Seite einen Zugang hatte, erhob sich der Richterstuhl, umgeben von den Dingbänken der Schöppen.
Der Richtersitz war ein staffelförmiger Steinwürfel, Stapel oder Staffel genannt. Der Schultheiß, ein würdiger Greis mit klugen Augen, hatte den Stuhl eingenommen. Er war baarhaupt und nüchtern, wie das Herkommen gebot. Ueberhaupt bestanden über die nothwendigen Eigenschaften eines Richters und der Schöppen genaue Vorschriften, und diese geforderten Eigenschaften bilden zugleich einen Beleg, für die strenge Redlichkeit des mittelalterlichen Volksgeistes.
»Der Richter,« heißt es, »soll kein Jude, Ketzer oder Ungläubiger sein, nicht lahm, blind, taub, stumm oder thöricht, nicht unter einundzwanzig und nicht über siebenzig Jahre alt, nicht meineidig, nicht im Banne oder in der Acht, sondern im Besitze aller Tugenden. Auf die Dingstatt muß er kommen unbewaffnet, nüchtern, ohne Bedeckung des Hauptes und der Hände Sachsenspiegel I, 2; III, 55..«
»Ein jeglicher Richter soll vier Tugenden besitzen, nämlich Gerechtigkeit, Weisheit, Standhaftigkeit und Maß. Ein Richter soll Gerechtigkeit also werth halten, daß er weder aus Liebe, noch aus Haß und Furcht etwas thue, außer was recht ist. So stark und standhaft soll er sein, daß er Leib und Gut daran wage, das Recht zu beschirmen. Ein Richter soll auch witzig sein und weise, das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Er soll Gott fürchten, nicht in unmäßigen Zorn gerathen, kein unkeusch Wort reden und Niemand schelten Altdeutsches Landrecht c. 73..«
Gleich edel geeigenschaftet mußten die Schöppen sein.
»Die Schöppen sollen sein von beständiger Frömmigkeit, von friedfertiger Gesinnung, von weiser und redlicher Bescheidenheit, von guten Sitten, wahrhaft, stille und verschwiegen, ehrbaren Wesens und Wandels, nicht kriechend, nicht streitsüchtig, nicht eigensinnig, jähzornig, neidig, übermüthig, wucherisch, ehrgeizig, nicht in Acht und Bann, und auch nicht in großen Schulden Bei Müller, deutsche Culturgesch. Band I, S. 732..«
Auf den Bänken, zu beiden Seiten des Richters, saßen die Schöppen, acht ernste Männer in vorgerückten Jahren, wohl bekannt mit dem Rechtsherkommen.
Den Platz vor dem umwehrten Richtsteg hatte eine dichtgedrängte Volksmenge besetzt, jedoch so, daß zwischen ihr und der eingefriedeten Dingstatt ein freier Raum blieb. Eine Lanze in der Rechten und ein kurzes Schwert an der Seite, wartete der Frohnbote seines Amtes, indem er ungeduldig Andrängende über die vorgezeichnete Linie zurückwies. Im Vordergrunde stand Hatto, der Dieb, bleichen Angesichtes und gesenkten Hauptes, kaum vermögend, die Blicke der Verachtung und des Zornes zu ertragen, die ihn von allen Seiten trafen. Schon seine unmittelbare Nähe war verfehmt; denn wo er stand, hatte der Frohnbote keine ungebührlich Vordrängende zurückzuweisen. Männiglich floh die nächste Umgebung des Entehrten. Nur Ella, Hattos Frau, ein junges, kräftiges Weib und vier kleine Kinder, bildeten hievon eine Ausnahme. Schrecken malte sich in Ellas Zügen; denn oft genug hatte man ihr gesagt, daß für Diebe der Strang sei. Bald kniete sie am Boden und rang in stummer Verzweiflung die Hände, bald raffte sie sich auf, drückte mit Aufbietung aller Kräfte den Schmerz nieder, trat dicht an Hattos Seite und sprach ihm Muth zu. Der Betäubte hörte kaum die Trostworte, wohl aber die heftigen Herzstöße, welche über die farblosen Lippen seines getreuen Weibes bebten. Die Kinder sahen die Thränen ihrer Mutter, umklammerten geängstigt des Vaters Beine und weinten.
Der Umfriedung zunächst stand Ritter Baldemar. Seine Linke ruhte auf dem Griffe des vor ihm stehenden Schwertes, und seine Rechte hing steif herab. Beim jüngsten Turniere zu Mainz stürzte er vom Pferde und brach den Arm. Die Kunst der Aerzte heilte ihn steif. Grollenden Gemüthes blickte Herr Baldemar auf Hatto; denn Zamba war sein Streitroß, das ihn getragen bei manchem Waffenrennen, fast noch mehr bewundert, als der streitbare Reiter. Zugleich empörte den Edelmann die Kühnheit des Bauern, der sich gerade an seinem werthvollsten Eigenthum vergriffen, sintemal Waffen und Roß den höchsten Stolz des Ritters bildeten.
Hinter seinem Herrn, als wolle er sich verbergen, stand Hunolt, fast ebenso niedergedrückt, wie sein Bruder. Ihn mußte ja die Schmach des Diebstahls am Empfindlichsten berühren. Dazu kam die unaussprechlich schwere Pflicht, Zeugniß zu geben wider den Bruder.
Der Schultheiß erhob sich vom Richterstuhl. Das Gesumme verstummte.
»Wir fangen an,« rief er mit lauter Stimme, »im Namen des heiligen und gerechten Gottes, – im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.«
Bei den Worten bekreuzte er sich und die ganze Gemeinde mit ihm. Darauf ließ er sich nieder auf dem Steinstuhle, wo er noch ernster und würdevoller saß, als die Schöppen um ihn.
»Wer ist Kläger?« hob der Richter an.
Baldemar trat vor.
»Kläger bin ich, Ritter Baldemar von Billungen, der Abtei Lorsch Burgmann auf Auerberg.«
»Wen verklagt Ihr?«
»Den Bauer Hatto am Bach.«
Der Angeklagte blieb unbeweglich stehen. Auf den Wink eines Urtheilshelfers, schob ihn der Frohnbote einige Schritte weiter nach dem Vordergrunde.
»Was ist Euere Anklage, Ritter Baldemar?«
»Richter und Schöppen, höret ausführlich den Handel, damit Ihr ein rechtes Urtheil findet!« begann mit erregter Stimme der Edelmann. »Meine Rosse gehen, wie bräuchlich und männiglich bekannt, auf den umpfahlten Matten im Thal. Da meldet am letzt vergangenen zwanzigsten Juli mein Knecht, Zamba sei fort. Ihr Alle kennt Zamba, ein Roß, klug wie ein Mensch, stark wie ein Riese, treu wie ein Hund, fehlerfrei wie die Tugend und prächtig über alle Maßen. Meinen Schrecken könnt Ihr Euch denken, Gerichtsmannen! Wir suchten in Wald und Feld, auf Berg und Thal, manche Stunde im Umkreis, fanden aber von Zamba keine Spur. Da kam ein Knecht des Burggrafen mit der Meldung, er habe den Zamba in Worms gesehen. Ein Mann mit einer rothen Gugel habe ihn gegen den Rhein geritten. Darauf schickte ich meinen Roßknecht Hunolt nach Worms auf Kundschaft und Spähe. Vier Tage war er dort, kam zurück und meldete, er habe den Zamba richtig gefunden. Der Gerbermeister Werner zum Hirsch in Worms reite ihn. Werner habe den Zamba von einem Juden, genannt der rothe Machol, der ein Roßkamm sei, um schweres Geld gekauft. Hunolt ging zu dem Juden. Dieser sagte, er habe den Zamba zu Auerbach gekauft, von dem Bauer Hatto am Bach, um zwei volle Mark Silber und drei Wormser schwere Schillinge. Also hat mir Hatto den Zamba gestohlen und ihn verkauft an den wormser Juden. – Das ist der Handel.«
»Wie hoch schlagt Ihr den Gaul an?« frug der Schultheiß.
»Gaul? Hm!« that Billungen verletzt. »Zamba ist kein Ackergaul, sondern ein rittermäßiges Streitroß, Prächtig genug, vom Kaiser geritten zu werden. – Wie hoch ich den Zamba anschlage? Wer mag den Zamba werthen? Solch' ein Roß ist gar nicht zu bezahlen; mir wenigstens war der Zamba um keinen Preis feil. Ihr hört ja, daß selbst ein Jude zwei volle Mark Silber und drei schwere wormser Schillinge gab.«
»Wer bezeugt die Wahrheit Eurer Aussage?«
»Mein Knecht Hunolt«
»Sonst habt Ihr keinen Zeugen?«
»Nein! Es müßte denn gerade der Jude sein, aber ich ließ den Schelm nicht laden, weil Juden nicht zeugen dürfen gegen Christen.«
»So ist es!« bestätigte kopfnickend der Richter.
»Schöppen,« wandte er sich an die Urtheilshelfer, »mag der eine Zeuge gelten?«
»Nein! Ein Zeuge ist kein Zeuge!« antworteten einstimmig die Schöppen. Unius testimonium, quamvis splendida et idonea videatur esse persona, nullatenus audiendum. Capit. lib VIII, cap. 207
»Hatto, was hast Du aufs die Anklage zu erwiedern?«
»Ich weiß von nichts!« antwortete der Gefragte kurz, ohne den Blick zu erheben.
»Wie ist ohne Zeugen Schuld oder Unschuld des Beklagten zu finden?« wandte sich der Vorsitzende an die Schöppen.
»Der Angeklagte reinige sich, wenn er kann, durch einen Eid!« erklärten die Urtheilshelfer Si res intertiata furto ablata fuerit, liceat ei, cui res intertiata fuerat, per sacramenta se excusare de furto Constit. Caroli cap. 39. – Spec suev cap. 23. §. 4..
»Hatto, bist Du im Stande, durch einen Schwur Deine Unschuld zu beweisen?«
Dieser Frage des Richters folgte die erwartungsvollste Stille. Gespannt ruhten alle Augen auf dem Beklagten. Er zögerte. Da hörte er das leise Weinen seiner Ella, das Wimmern seiner Kinder. Zugleich stieg der Galgen vor seinem erregten Geiste empor. Er sah sich selbst daran hängen und am Boden ohnmächtig sein Weib hingestürzt, umringt von den verlassenen Kleinen. Hatto's Sinne verwirrten sich.
Der Schultheiß wiederholte die Frage. Der Angeklagte nickte bejahend mit dem Kopfe.
»Nicken gilt nicht!« sprach der Vorsitzende. »Ja oder nein, – und dies laut und vernehmlich Also nochmals frage ich: – kannst Du von der Anklage Dich reinigen durch einen Eid?«
»Ja!« sagte Hatto mit klangloser Stimme.
Sofort erhoben sich die Gerichtsmannen und schritten nach der Kirche. Die ganze Gemeinde folgte, tief ernst und schweigend; denn es sollte Außerordentliches geschehen. Gott, der Allmächtige, sollte Eideshelfer werden dem Angeklagten.
Sämmtliche Kerzen des Hauptaltares wurden angezündet. Auf den untersten Altarstufen knieten Richter und Schöppen, hinter ihnen der Kläger und der Angeklagte. Die Gemeinde kniete in den Gängen und Stühlen des Schiffes. Alle hatten die Hände gefaltet und Schauer rieselte durch manches Gebein; denn Gottes Gegenwart erfüllte mit Bangen und heiliger Furcht die Herzen der Gläubigen.
Nach langer Pause erhob sich der greise Schultheiß, während alle Uebrigen in knieender Haltung beharrten.
»Hatto,« begann mit feierlicher Stimme der Alte, »Du willst den heiligen und gerechten Gott, den Richter aller Lebendigen und Todten, als Zeuge Deiner Unschuld anrufen! Solch' ein Fall ist seit fünf und vierzig Jahren in unserer Gemeinde nicht geschehen. Bedenke wohl, was Du thun willst! Dem allwissenden Gott ist Deine Schuld oder Unschuld wohl bekannt. Bist Du schuldig und schwörst dennoch, so machst Du den heiligen Gott gleichsam zum Mitschuldigen Deiner Missethat. Ewige Verdammniß bei den Gepeinigten in der Hölle wird Dein Antheil. Dem Galgen entrinnst Du, aber den ewigen Qualen wirst Du nicht entrinnen. Schon im Leben wirst Du keine Ruhe haben. Tag und Nacht wird Dein Gewissen Dich foltern. Du weißt aus der Predigt, daß Gott gesprochen: »Verflucht sei, wer falsch schwört in meinem Namen! Kommen soll der Fluch in das Haus des Meineidigen, und der Fluch soll leben mitten in seinem Hause und es verzehren!«
Dies bedenke wohl! Am Galgen leidest Du zwei Minuten, – in der Hölle wirst Du ewig heulen.«
Er schwieg. Seine Worte brachten auf Alle starke Eindrücke hervor, namentlich auf Hatto. Die böse Absicht des Meineides öffnete im Spiegel seines religiösen Glaubens einen schauerlichen Abgrund vor seinen Füßen. Das erschreckte Gewissen zeigte ihm die Höllenpeinen in grausigen Formen. Flammenzungen leckten aus der Tiefe zu ihm empor, und in den Flammen bewegten sich schaudererregende Teufelsgestalten, bewaffnet mit scharfen Krallen und glühenden Zangen. Diese behörnten Furien des Abgrundes, wie er sie öfter gesehen auf Bildwerken in den Kirchen, spieen aus weit geöffneten Rachen Feuer nach ihm, und glotzten ihn an mit gräulichen Feueraugen. Sie kamen näher und näher, und jetzt streckten sie die glühenden Gabeln und Hacken aus, um ihn nach der Tiefe zu ziehen. Entsetzen schüttelte Hatto's Glieder. Er sprang empor
»Nein, – nein! Ich kann nicht schwören, ich bin schuldig. Lieber den Tod, als die Hölle!«
Alle erhoben sich von den Knieen und kehrten nach der Dingstatt zurück, ein ernster, schweigsamer Zug, wie Grabgeleite.
»Hatto!« begann der Greis. »Demnach bekennst Du, dem Ritter Valdemar von Auerberg ein Roß, genannt Zamba, gestohlen zu haben?«
»Ja!«
»Weßhalb brachtest Du eine solche Schmach über Dich und die Gemeinde?«
»Ich war in Noth, – hart bedrängt von Juden. Ich dachte, dem Ritter schadet es nicht, wenn er ein Roß weniger hat, und mir wird geholfen. So ließ ich mich betrügen durch die Arglist des leidigen Satans und stahl – – O Gott, ich Unseliger! Hilf Gott, – mein armes Weib und meine Kinder!« rief er, von Schmerz und Reue überwältigt.
Ella kauerte am Boden, zitternd vor Wehe und Entsetzen, umringt von den weinenden vier Kleinen. Thränen schlichen in die Augen aller Frauen. Auch viele Männer senkten ergriffen den Blick, als schämten sie sich weicher Stimmung. Hatto war ein fleißiger, achtungswürdiger Mann gewesen, nur sein Verkehren und Handeln mit Juden hatte oft die Mißbilligung der Dorfgenossen gefunden.
»Um welchen Preis hast Du an den Juden das Pferd verkauft?« frug der Schultheiß.
»Um eine Mark Silber und zehn schwere Wormser Schillinge.«
»Wie die Sache liegt, findet ein rechtes Urtheil,« wandte sich der Vorsitzende an die Schöppen.
Es folgte eine Pause erwartungsvollen Schweigens. Alle Blicke hingen an den Zügen der Urtheilshelfer, deren Meinung nach altem Recht und Herkommen entscheiden sollte. Aber sie selbst fällten keinen Spruch, sie verkündeten nur das Gesetz, wie es im Bewußtsein des Volkes lag und seit unvordenklichen Zeiten in Kraft bestand.
»Geschieht ein Diebstahl, minder als fünf Schillinge, der gehört zu Haut und Haar,« sagte ein Schöppe.
»Diebstähle unter fünf Schillingen mag ein Schultheiß wohl richten, so man nicht verliert den Leib und nicht Blut vergießt,« sprach ein Anderer.
»Jeder Diebstahl, noch so gering, macht ehrlos!« rief mit starker Betonung ein Dritter.
»Beträgt aber ein Diebstahl mehr als fünf Schillinge?« frug der Schultheiß.
»Den Dieb soll man hängen!« erklärten aus einem Munde die Schöppen Lehmann 288 b Schwabenspiegel Kap 114 § 1..
Bei dem Todesurtheil stieß Ella einen herzzerreißenden Schrei aus, stürzte auf ihr Angesicht zu Boden und lag ohne Leben. Zwei Männer trugen die Ohnmächtige aus dem Ring. Frauen erbarmten sich der Kinder und brachten sie nach Hause.
Diese Scene hatte für einige Augenblicke den Gerichtsgang unterbrochen. Abermals wandte sich der Vorsitzende an die Schöppen.
»Wer mag den Spruch fällen?«
»So nicht Haut und Haar verurtheilt wird, sondern das Leben,« erklärten die Schöppen, »kann nicht der Schultheiß richten, sondern Jener, der den Blutbann hat.«
»Ritter Baldemar,« entschied der Vorsitzende, »suchet Recht über Hatto am Bach beim Grafen des Kaisers.«
»Das will ich!« versetzte Baldemar. »Hängen muß der Schelm! Die Schuld hat er bekannt, den Frevel gestanden, – der Galgen ist ihm gewiß.«
Nach diesen Worten wandte er sich ab und schritt von dannen.
Hatto vernahm die Drohworte nicht. Er stand gebeugten Hauptes, wie zermalmt und gebrochen. Ein einziges Wort hatte ihn völlig zerschmettert – ehrlos!
Nicht allein dem Ritter galt Ehre als das Höchste, sondern auch dem Bürger, dem Bauer, dem Leibeigenen, jedem deutsch denkenden und christlich fühlenden Manne. Deßhalb war auch nicht die Todesstrafe die schwerste, sondern das entehrende Hundetragen. Viele, welche den Hund tragen mußten, starben vor Schmerz.
Hatto stand allein auf dem Platze. Alle waren fortgegangen; er merkte es nicht. Das Bewußtsein der Ehrlosigkeit hatte ihn völlig betäubt. Fortwährend hörte er den entsetzlichen Spruch: »Jeder Diebstahl, noch so gering, macht ehrlos!« Der Spruch drückte in seine Seele die Empfindung vollständiger Vernichtung
Wahrscheinlich wäre der Entehrte noch länger gestanden, aber ein Hund lief ihn bellend an. Wie aus qualvollen Träumen erwachend, schaute er auf, gewahrte seine Verlassenheit und ein schneidiger Schmerz ging durch seine Seele. Der Hund bellte heftiger, zog immer engere Kreise um den Regungslosen und zeigte Lust, sein Gebiß in Hatto's Beine zu schlagen. Eine dunkle Gluth flammte auf in den bleichen Zügen des Bauers. »Schon hetzen sie die Hunde auf den Ehrlosen!« dachte er, wandte sich um und eilte fort. Hinter ihm her lief der Kläffer bis ein schriller Pfiff ihn zurückrief.
Als der Unglückliche sein Haus betrat, fand er Ella von einigen Frauen umgeben. Er sah es kaum, warf sich auf die Bank in der Ecke und starrte, wie geistesabwesend, vor sich hin.
Ella hatte sich vollständig von der Ohnmacht erholt. Eine Achtzigjährige saß neben ihr, raunte Trostworte und fuhr schmeichelnd mit der runzelichen Hand über Ella's Rechte.
»So schlimm steht es doch nicht, mein Kind!« sprach die Alte. »Sie haben Deinen Hatto nicht zum Galgen verurtheilt. Der Ritter muß weiter klagen. Es giebt noch einen Weg, Deinen Hatto zu retten, wenn Du ihn gehen willst.«
»Ich gehe ihn!« versetzte rasch das junge Weib, wie durchströmt von neuer Lebenskraft. »Was ist das für ein Weg? Zeigt mir ihn!«
Die kluge Alte sprach lange und eindringlich. Ella nickte fast beständig, zum Zeichen des Einverständnisses, mit dem Kopfe. Dann erhob sie sich, band ein Tuch um Haupt und Nacken, schürzte das Kleid zum raschen Gange und trat vor Hatto.
»Verzweifle nicht, Mann!« sprach sie »Es giebt noch einen Weg zu Deiner Rettung, – ich gehe ihn.«
Sie nickte den Frauen grüßend zu und eilte fort.
Hatto vernahm weder die Rede seines getreuen Weibes, noch ein Wort ihres Verkehrs mit den Frauen.
»Er ist ganz von Sinnen!« sagte die Alte.
Sie nahte ihm und legte die Hand auf seinen Kopf. Er zuckte bei der Berührung zusammen und sah aus unheimlich lodernden Augen auf die Greisin.
»Rührt mich nicht an, – besudelt Euch nicht, – ehrlos bin ich!« sprach er heftig.
»Das Wort soll Dir nicht das Herz abfressen; es giebt noch Hilfe.«
»Ehre hin, – Alles hin!« versetzte dumpf der Unglückliche.
»Du irrst, Hatto! Wir haben eine barmherzige und gar mächtige Mutter, die Alles heilt, sogar Seelentod und Ehrlosigkeit.«
Die Frauen gingen fort mit den Kindern.
Hatto saß allein in der Stube, versenkt in düsteres Hinbrüten. Unverrückt stand vor seinem Geiste das furchtbare Wort »ehrlos«. Er fühlte sich verfehmt, ausgestoßen aus der Gesellschaft, verachtet und geflohen von seinen Mitbürgern, rechtlos, lebendig todt. Der Galgen wäre für ihn eine Wohlthat gewesen; denn er brachte Erlösung aus einem entsetzlichen Dasein. Warum fanden die Schöppen nicht das Todesurtheil? Sollte ihn Ehrlosigkeit langsam zu Tode martern? – Er grollte den Schöppen, die ihn zwangen, schmachbeladen umher zu gehen. Plötzlich sprang er empor. Seine Augen glitzerten nächtig, seine Brust arbeitete heftig.
»Was sie mir weigerten, den Tod, – kann ich ihn nicht suchen und finden? Habe ich keinen Strick?«
Seine Augen fuhren suchend um die Wände. Dort hing ein Strang, noch neu, erst gekauft, das erwartete Kalb anzubinden. Er ging einige Schritte nach der Stelle, dann blieb er stehen, zurückgehalten durch ein mächtiges Hinderniß. Er fuhr mit der Hand nach dem Kopfe, schaute vor sich hin und abermals sah er, was in der Kirche ihm begegnet, als er den Meineid schwören wollte. Sein religiöser Glaube beleuchtete den Frevel des Selbstmordes in so abschreckenden Farben, daß ihm graute. Der Estrich des Fußbodens that sich auf, und vor ihm gähnte der Schlund der Hölle. Entsetzt wich er zurück.
»Nein, – nein, ich thue es nicht! Satan, zum Stehlen hast du mich getrieben, – zum Meineiden und zum Morden sollst du mich nimmer treiben! Beim heiligen Gott,« – rief er, durch einen Schwur sich wappnend gegen die Versuchung, »ich schwöre bei Gott, dem allwissenden und gerechten und heiligen Gott, daß ich leben will!«
Er taumelte zurück nach der Bank. Dort versank er neuerdings in peinvolle Träumereien, sich krümmend unter den Geißelstreichen der Ehrlosigkeit, bis ihn der Gang ländlichen Lebens aus dem Banne befreite.
Das hungrige Vieh brüllte lauter und lauter im Stalle, für jeden Bauer ein Zeichen, das unwillkürlich zur Thätigkeit aufrüttelt. Auch die Schweine, anfänglich nur grunzend, fingen jetzt einen Höllenlärm an. Sie schrieen in den höchsten Tonlagen ihrer durchdringenden Stimmen und bearbeiteten mit den Rüsseln die Fallthüren über den Trögen. Das Concert zu vervollständigen, begannen die Hühner das Gegacker in lautes Geschrei zu steigern. Der Hahn stand auf der Schwelle und krähte herausfordernd. An der Spitze der Hühnerschaar schritt er über den Flur in die Stube. Eine Weile beäugelten die Gefiederten den säumigen Brodherrn. Dann stellte sich der Hahn spreitzbeinig vor ihn hin und krähte den Träumer wach.
Hatto fuhr mit der Hand über das Gesicht. Er sah vor sich die hungrige Hühnerfamilie, hörte den Lärm in den Ställen, und auf den sonst emsigen Hausvater wirkte diese Wahrnehmung, wie eine elementare Macht. Wie Einer, der sich verschlafen, erhob er sich geschwind und streute den Hühnern Körner. Er ging nach der Scheuer, füllte mit Heu die Reffe des Rindviehes, schüttete den Pferden Hafer in die Krippen und befriedigte die Schweine. Diese Thätigkeit entlastete flüchtig seinen gequälten Geist. Als jedoch die Arbeit gethan war, überfiel ihn abermals die frühere Stimmung. Er saß auf dem Stoßtroge in der Scheuer und weinte heftig.
Inzwischen lief Ella über Matten und Fluren. Heiß brannte die Sonne und eine dicke Schwühle brütete über der Rheinebene. Das Weib lief ohne Unterbrechung, so lange es zu laufen vermochte. Das dichte Gewebe der Kleider rauschte schwer um die Beine, in vollen Tropfen rann der Schweiß über das geröthete Gesicht. Dann versagten zum Laufen die Kräfte. Ella ging eiligen Schrittes, immer den Blick gegen Westen gerichtet, wo die Thürme des Klosters Lorsch empor ragten. Von Angst getrieben, beständig den Galgen vor Augen, an den ihr Hatto sollte gehängt werden, strebte sie vorwärts. Dennoch wurden die Schritte immer langsamer, die Kräfte weniger. Seit gestern hatte sie keinen Bissen gegessen und vorgestern bei Wasser und Brod gefastet, zu Ehren der vierzehn Nothhelfer, damit diese einstehen mit ihrer einflußreichen Fürbitte bei Gott, zur Rettung ihres Mannes. Das Fasten sollte den beleidigten Gott versöhnen, ihre Entsagung das Flehen für Hatto unterstützen. Und nach katholischem Glauben bildet die streitende Kirche auf Erden, mit der leidenden im Reinigungsorte und mit der triumphirenden im Himmel, eine einzige große Familie, und deßhalb war Ella fest überzeugt, von der Theilnahme der vierzehn Nothhelfer. Sie zweifelte nicht, daß die angerufenen Heiligen am Throne Gottes ihre große Herzensangelegenheit, Hatto's Rettung, fürsprechend vertraten. Allein das Fasten und die Schrecken der vorausgegangenen Tage hatten die Kräfte des Weibes erschüttert. Sie empfand Schwere und Mattigkeit in den Gliedern, ihr vorher glühendes Gesicht bedeckte Leichenblässe, und mit der äußersten Anstrengung schleppte sie sich vorwärts. Endlich war das Ziel erreicht. Ella stieg die sanfte Anhöhe empor, auf der sich die alte Abtei erhob. Wankend betrat sie die Thorhalle. Schon nahte der freundliche Thürhüter, die Eintretende zu empfangen. Da wurde es Nacht vor ihren Augen. Sie taumelte und sank bewußtlos in die Arme des greisen Laienbruders.