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Der große Grönlandkommandeur

Solange die Sylter Seeleute schon auf Grönland fuhren, wäre nie einer darauf verfallen, von einem Engländer Heuer zu nehmen. Mit Holländern, Hamburgern, Bremern fuhren die Sylter auf Part, das heißt: sie bekamen als Kommandeur, Steuermann und Harpunier von jedem Fisch einen Anteil. Die englischen Reedereien hingegen gaben ihren Grönlandfahrern ein festes Gehalt für die ganze Reise, mochte sie gut oder schlecht ausfallen. Das paßte den Syltern nicht. Dabei fehlte ihnen die Spannung, der Reiz des großen Spieles. Daß sie in schlechten Jahren beim festen Gehalt besser abgeschnitten hätten, als bei der Partnerschaft, änderte an ihrer Stellung nichts; sie hofften eben jedesmal bei der Ausreise auf ein märchenhaftes Glück. Die englischen Reedereien fuhren bei diesem System aber auch nicht gut. Sie bekamen nur schlappes, unlustiges Schiffsvolk, das gleichgültig zusah, wenn ein Fisch unters Eis lief. Man bekam sein Geld für die Reise, ob man viel oder wenig Fische fing; weshalb sollte man sich anstrengen?

Bald nach dem Frieden von Utrecht kam der Bremer Henrich Eelking nach London. Seine Ausreise von Bremen hatte eine etwas unklare Vorgeschichte, und es gab manche, die ihm noch von rückwärts an den Rock spuckten. Aber in London kümmerte sich kein Mensch um ihn. Er sah sich die große Stadt an, und da er mit Walfischspeck und Tran groß geworden war, blieb er bei den Grönlandfahrern hängen und saß tagelang bei ihnen in Lloyds Kaffeehaus. Da wurde ihm bald klar, daß die feste Gage es war, die das Schiffsvolk so unhandlich machte wie ein Tau ohne Knoten. Es glitt den Unternehmern nur so durch die Finger, ohne daß sie es irgendwo anpacken konnten. Henrich Eelking war nicht dumm, und was er sich auf Bremer Platt ausdachte, konnte er wohl auf Englisch zu Papier bringen. So sammelte er in Lloyds Kaffeehaus auf, was er von Seeleuten und Reedern über die englischen Grönlandfahrten nur erfragen konnte – von Holland, Hamburg und Bremen wußte er selbst genug – setzte sich hin und schrieb einen Aufsatz darüber, den die »Times« abdruckten. Einen halben Monat später nahm die »Südseekompagnie« den Walfang unter neuen Gesichtspunkten in ihr Unternehmen auf; Henrich Eelking wurde unter schmeichelhaften Bedingungen zum Direktor gewählt – »so viel Sachkenntnis, so viel weise Einsicht« – und die Reise ging los mit vollen Segeln.

Henrich Eelking bekam völlig freie Hand und setzte Bramsegel über Bramsegel. Zwölf neue Schiffe auf einmal wurden nach seinen Angaben gebaut und mit dem Besten ausgerüstet, was englisches Geld beschaffen konnte. Henrich Eelking aber war nicht dumm. Er wußte, daß gutes Schiff und beste Ausrüstung tote Ware sind ohne das Schiffsvolk, das diese lebendig macht. Er setzte nicht einen Agenten zu Lloyds, um das Schiffsvolk anzumustern, sondern er schickte ihn mit einer guten Schmack nach Föhr und Sylt. Dort sollte er anwerben, was ihm nur unter die Finger käme, vom Kommandeur bis Kajütswächter. Wenn einer auf der Welt, dann konnten die Sylter und Führer Grönlandfahrer das neue Unternehmen hochbringen. Deshalb ließ er ihnen Anerbietungen machen, daß seiner Meinung nach jeder Mann mit beiden Händen zugreifen mußte.

Es war aber gerade die Höhe der gebotenen Anteile, die die Föhrer stutzig machte, so daß der Agent kaum die Hälfte der Zusicherungen erhielt, auf die er bestimmt gerechnet hatte. Auf seine Bitte schickte der Landvogt eine Anfrage nach Sylt, ob es lohnen würde, hinüber zu kommen. Der Landvogt wandte sich an Lorens Hahn, von dem sein verstorbener Vater, der glückliche Matthis, noch mit besonderer Anerkennung gesprochen hatte, und Lorens lud den Agenten zu sich zu Gaste, denn er selbst hatte die Handelsschiffahrt dicksatt und wollte – koste es, was es wolle – wieder auf Grönland fahren. Als am Abend Stube und Pesel voll von Lernenden war, saß der Agent mitten zwischen ihnen und sprach ihnen von der Grönlandabteilung der Südsee-Kompagnie in London. Die Augen der Männer wurden blank, als er die Anteile nannte, die Kommandeur und Offiziere bekommen sollten, aber sie ließen die Lider über die Augen sinken und rauchten gleichgültig weiter.

»Jee, Lorens, was meinst du?«

»Ich fahre als Kommandeur der ›Hope‹, das ist fest,« sagte er ruhig; »und ich meine, wer nicht fährt, wenn Segelwind ist, muß warten, bis Segelwind wiederkommt; vielleicht aber muß er bis zum Nimmermehrstag warten.«

Das entschied; und als einen Monat später die zwölf neuen Grönlandfahrer der Londoner Südsee-Kompagnie aus der Themse liefen, standen sie sämtlich unter dem Kommando der Inselfriesen, und auch das Schiffsvolk stammte in überwiegender Mehrheit von Sylt, Föhr und den Halligen. Lorens hatte seinen Bruder Niggels als ersten Steuermann neben sich. Er nahm ihn scharf heran, denn Henrich Eelking hatte ihm gewinkt, daß er zwölf weitere Schiffe im Bau hätte. Dafür brauchte er auch zwölf weitere Kommandeure, und Lorens war fest entschlossen, Niggels zu einem zu machen. Niggels aber war begierig darauf, denn endlich war er auch an ein Mädchen geraten, mit dem zu hausen, ihm nicht uneben dünkte.

So kam es, daß Niggels Augen und Ohren aufsperrte und Lorens ihm ohne Sorge das ganze Schiff hätte anvertrauen können. Er überließ ihm auch manches, was sonst Sache des Kommandeurs war, saß viel unten in der Kajüte über Karten und Berechnungen, und wenn er an Deck kam, sah er über das Schiff hinaus auf See und Himmel. Da sah er, was er nie bisher gesehen hatte: daß See und Himmel oft in leuchtendem Grün standen, und er mußte an Gottfried Köhler denken. Sie kamen nach Spitzbergen, und auch hier sah er, was er nie zuvor gesehen hatte: daß der Fuß dieser Berge anzusehen war wie Feuer; die Spitzen der Berge aber waren mit Nebel bedeckt, und der gemarmelte Schnee lag wie die Äste eines Baumes über sie gebreitet und gab einen hellen Schein, als schiene die Sonne, und war doch ein grauer Tag.

Sie segelten weiter an den sieben Eisbergen vorüber, die man so nennt, ob sie gleich nicht auf See schwimmen, sondern auf festem Lande stehen, und Lorens sah, was er nie zuvor gesehen hatte, wie an der Mitte der Berge der Schnee finster war von den Schatten der Nebelwolken, die darüber hinschwebten; über den untersten Wolken aber war der Schnee ganz licht, und die Sonne schien bleich daran. Andern Tages war das Eis, das vorn gegen das Wasser abgebrochen war, schön blau von Farbe, zierlich mit dunkleren Ritzen; die Klippen, die davor aus der See ragten, schienen feurig rot, und oben von den Bergen aus sandte der Schnee einen hellen Widerschein in die graue Luft hinauf.

Das alles sah Lorens der Hahn und noch viel mehr, wenn er oben im Krähennest saß, um nach Walfischen auszuschauen, und er wunderte sich, daß er es früher nicht gesehen hatte. Er sah aber auch das trostlose Grau schwerer Nebeltage, das die Seele dessen zusammenpreßt, der es sieht, und er begriff nicht mehr, wie seine Stimmung in früheren Jahren nur nach dem Fisch gegangen war.

»Ich werde alt,« dachte er, wenn ihm so das schwere Grau übers Herz kroch, aber wenn dann ein weißer Vogel heranschwebte und ihn mit blanken Augen fragte:

»Wann fischt Ihr wieder, daß ich mich sattfressen kann?« dann lachte er ihn doch an, und ganz leise regte sich wohl eine Sehnsucht – »ach, Merret, du weißgewaschenes Seelchen.« Denn die feine kleine Merret mit den grauen Augen war und blieb sein Liebling unter seinen vier Töchtern. –

Sie hatten aber guten Fang in diesem ersten Jahr der Grönlandkompagnie und sperrten ihre Säcke wohl auf, als im Herbst ihnen ihre reichen Anteile hineinflossen.

»Nun, was sagt Ihr?« fragte Henrich Eelking mit stolzem Lachen, und Lorens Hahn antwortete für alle andern:

»Jee, was gibt es da viel zu sagen? Leicht ist es, mit silberner Angel zu fischen.« –

Jahr für Jahr kamen die Grönlandfahrer von London mit dickem Geldsack heim, aber wunderlich war's, daß es den Syltern doch nicht so ganz munden wollte.

»Die hohen Anteile werden den Nutzen fressen, den die Gesellschaft haben könnte,« meinte Lorens. »Wer in Hamburg seinen Platz findet, sollte lieber dort wieder Heuer nehmen. Mir lohnt es nicht, noch einmal zu wechseln. Nicht lange, so muß ich mich ganz für die See bedanken; das Reißen nimmt mich, gerade wenn ein Fisch in Sicht kommt.«

»Fahr ins Mittelmeer,« sagte Niggels, aber Lorens schüttelte den Kopf:

»Vom Handel habe ich genug.«

In jedem Herbst dachte Lorens, nun wollte und müßte er auflegen, aber wenn das Frühjahr kam, packte ihn doch immer wieder das Hinausfieber. Was sollte er im Sommer mit sich anfangen? Die Töchter wuchsen heran und halfen Inge, nahmen ihr mehr als die Hälfte ihrer Arbeit ab; seine Hilfe brauchte sie nicht. Und auf der Insel ging es friedlich zu, seit der König den Herzog unterm Daumen hielt, und seit sich den Sylter Seeleuten auf Grönlandfahrern und Kauffahrteischiffen immer bessere Erwerbsmöglichkeiten boten.

Im vierten Jahr der englischen Grönlandkompagnie kam Henrich Eelking den Kommandeuren mit einer biestigen Neuigkeit. Er hatte eine Harpune konstruieren lassen, die nicht von der Schaluppe aus mit der Hand geworfen, sondern vom Schiff aus mit einer Kanone auf den Fisch geschossen wurde. Die anderen Kommandeure verweigerten das Ding: die Leute müßten ganz neu darauf eingelernt werden, und würden faul werden, wenn sie nicht hinter dem Fisch dreinriemen müßten. Endlich fand Lorens sich bereit, die Schießharpune praktisch zu erproben. Er hatte auf Eelkings Bitte immer mehr Engländer unter sein Schiffsvolk aufgenommen, und es war ihm gleichgültig, welche Art von Fang diese Leute lernten. Außerdem reizte ihn selbst auch diese neue Erfindung, und als er erst draußen war und an das Wild herankam, da merkte er gar bald den großen Vorteil. Mit vierzehn Fischen im Bauch kam die »Hope« im Spätsommer die Themse wieder hinauf, und Lorens mußte sich einen zweiten Geldsack anschaffen, um das Erworbene heimzubringen.

Auch im nächsten Frühjahr zog der Reiz des Neuen Lorens noch einmal hinaus, aber mitten im Sommer überfiel ihn plötzlich der Ekel. Er dachte daran zurück, wie er selbst in jungen Jahren als Harpunier die Waffe geworfen hatte. Ja, das war ein ehrlicher Kampf gewesen, wo die Geschicklichkeit des kleinen Menschen die Kraft des gewaltigen Tieres besiegt hatte. Aber dieser Schuß aus einem toten Werkzeug auf das lebendige Tier gefiel ihm nicht. Er beobachtete sein Schiffsvolk; auch unter den Offizieren hatte er nun schon mehrere Engländer. Was sahen diese Leute denn in dem Fisch? Doch nicht mehr das Wild, das lebendige Geschöpf, sondern nur noch den Marktwert. Sie zielten nicht auf den Gegner, sondern auf Pfund, Schilling und Pence; und wenn ihre Hand zitterte beim Abdrücken, so war es nicht mehr die Jagdleidenschaft, die sie unsicher machte, sondern die Geldgier. Und der Ekel würgte Lorens in der Kehle.

Eines Nachts saß er allein in seiner Kajüte. Sie hatten guten Fang gehabt und viel Arbeit, aber immer mehr Schiffe hatten sich dann in ihre Nähe gezogen, und immer weniger Fische waren in der Gegend geblieben, denn der Fisch hatte in den letzten Jahrzehnten auch allerlei gelernt. Nachdem sie nun ihre Fische bis zum letzten Brocken abgemacht hatten, wollte Lorens neue Jagdgründe suchen, aber vorher noch seinem Schiffsvolk eine ruhige Nacht gönnen. Sie hatten an einem schwimmenden Eisberge festgemacht und lagen seit Tagen schon hinter dem Winde. Alles war still ringsum, nur die Möwen kreischten in einiger Entfernung über einem anderen Schiff, dessen Volk beim Flenssen eines Fisches war. Eine bleiche Nachtsonne stand tief am Himmel, und in den langsam ziehenden Nebelwolken zeigte sich eine matte Nebensonne – blau-gelb-rot – in seltsam unwirklichem Farbenspiel.

Lorens sah und hörte nichts von dem, was draußen war. Er saß allein für sich in der Kajüte und starrte mit müden Augen in das flackernde Licht. Vor ihm lag das Schiffsjournal, und die Feder hielt er noch in der Hand; er hatte lange über seinen Schreibereien gesessen, wollte alles klar haben, ehe er neue Jagdgründe suchen ging. Als das Licht sich verdunkelte, hob er gedankenlos die Hand, um es zu putzen, aber er hatte vergessen, daß eine Feder keine Lichtschneuze ist; der Bart der Feder sprühte auf, brannte und stank. Das weckte ihn, und er mußte lachen.

»Ich werde alt,« sagte er zu sich selbst, indem er nun die richtige Lichtputzschere nahm und die Kerze schneuzte. »Mich freut das alles nicht mehr recht, und wenn wir noch so viele Fische bekommen. Ja, wie alt bin ich denn eigentlich?«

Er fing an zu rechnen und kritzelte die Zahlen auf das Klackspapier, das zwischen den Seiten des Journales lag. Da waren diese letzten Jahre bei der englischen Kompagnie; davor die Jahre der Handelsschiffahrt nach Bergen hinauf; davor die, in denen er ganz daheim gelegen hatte; davor die bei Worms und Rüscher; davor die beim alten David Worms; davor die Helgoländer – jee ja, da hatte er doch auch schon seine elf bis zwölf Lebensjahre im Hosensack gehabt.

»Fünfzig werden es nun bald sein – ein halbes Jahrhundert. Ja, dann ist es freilich Zeit. Länger als bis zum Vierzigsten ist der Seemann nicht jung, und ein alter Seemann – puh, für den haben alle Winde wohl Gegenwinde. Ja, Jens Grethen, du hattest recht: vor acht Jahren hätte ich endgültig auflegen sollen.«

Er starrte ins Licht und dachte an die Nächte, da der Alte ihm nah gewesen war, und ihm dünkte, daß er ihm auch heute nicht fern wäre. Ihm war, als fühlte er wieder eine Hand auf seiner Schulter, doch als er zögernd den Blick vom Lichte löste und zur Seite wandte, sah er nicht Jens Grethen, sondern Inge, seine Frau. Sie neigte sich ihm entgegen und lächelte, wie sie als Braut getan, und war jung wie damals. Aber als er den Mund auftun und sie fragen wollte, war sie schon wieder verschwunden, und nichts blieb ihm als eine heimliche, zehrende Sehnsucht, die ihn den ganzen Sommer über nicht wieder losließ. –

Als Inge in den Jahren nach Peterchens Tode ihren Mann so lange ganz daheim gehabt hatte, war es ihr manchmal fast zu viel geworden. Aber als er dann wieder ausfuhr, fehlte er ihr doch. Sie mochte ihm das nicht zeigen und tat im Herbst, wenn er zurückkam, oft borstig und immer kühl und herbe, gerade wenn ihr Herz heiß wurde bei seiner Berührung. Mehrmals hatte sie noch ein Kleines erwartet, aber keinmal hatte sie es mehr ganz austragen können. Davon hatte sie ihm nichts gesagt und hatte ihren Kummer, daß sie ihm keinen Sohn schenken konnte, still für sich verwunden. Die Mädchen wuchsen heran, frisch und unbekümmert. Sie liefen so neben der Mutter her, ohne viel von ihr zu wissen. Inge war wortkarg mit den Töchtern, hielt sie aber straff zur Arbeit an, so daß sie ihr in jungen Jahren schon gut zur Hand gehen konnten.

So kam es, daß in den letzten Jahren, da, Lorens ausfuhr, Inge auch über Sommer nicht mehr allzu schwer arbeiten mußte. Gondel, die Älteste, hatte nun schon ihre volle Kraft. Sie war kurz und breit, wie die Leute sprachen, daß Greth Skrabbel gewesen wäre, hatte krauses Blondhaar, das ihr in festen Locken unter der Huif hervorkam, kralle blaue Augen und einen roten Mund, der selten stillstand. Ihre Hände arbeiteten wie von selbst, und niemals war sie müde bis zu dem Augenblick, da sie ins Stroh kroch. Da freilich schlief sie schon, kaum daß sie lag, oft mitten im Wort oder Lachen. Als sie erst voll ausgewachsen war und nun ihrerseits die jüngeren Schwestern herumregierte, hatte Inge nicht mehr viel im Hause zu schaffen und saß auch sommertags für Stunden mit Spinnrad oder Strickstrumpf am Herde. Dabei wachte ganz wunderlich die Sehnsucht nach Lorens in ihr auf. Sie sah ihn, sie sprach mit ihm, liebe Worte, die sie in Wirklichkeit niemals zu ihm gesprochen hätte, und hörte seine Antworten, als wäre er bei ihr. Bis dann wieder ein Blick auf Gondel ihr wies, daß sie selbst über die Jahre junger Liebe hinaus war. Dann schämte sie sich ihrer Sehnsucht, aber die ließ sich nicht abweisen und kam immer wieder.

Eines Tages ging sie zu ihrer Schwiegermutter nach Rantum, um ihr ein Brot zu bringen, wie nur Gondel es zu backen verstand. Die alte Frau mußte immer etwas Besonderes haben, sonst war sie nicht zufrieden und plagte alle Hausgenossen. Inge fand sie allein: Nur die kleinsten Kinder krabbelten um die Großmutter herum; die anderen waren alle im Heu. Nach einer Weile kam die Nachbarin, die kluge Maren Taken, von der die Leute sprachen, sie wäre eine Hexe. Inge sah sie mit leisem Grauen an und doch auch mit heimlicher Begierde. Wenn es wahr wäre, daß Maren konnte, was über Menschenkraft ging? Sie dachte an Lorens, und die heiße Glut schlug ihr ins Gesicht, als Maren sie ansprach:

»Fährt dein Mann auch für den Englischmann, den Henrich Eelking?«

»Wohl, Maren, aber Eelking stammt aus Bremen.«

»Mag sein, aber sage deinem Mann, er soll sich beizeiten von ihm lösen; es geht nicht lange mehr gut mit diesem Eelking.«

Inge antwortete nicht darauf, aber als Maren Taken aufbrach, schloß sie sich ihr an und ging mit ihr die hundert Schritt durchs Dorf; dabei sagte sie:

»Wie kann ich meinen Mann warnen? Wenn er im Herbst heim kommt, hat er meist schon Heuer genommen für das kommende Frühjahr.«

»Kannst du ihm nicht Botschaft nach London schicken?«

»Das mag ich nicht, es könnte Gerede geben, und noch ist Henrich Eelking sicher.«

»So rufe ihn doch.«

»Wie könnte ich das, Maren Taken?«

Maren Taken hob die mageren Schultern fast bis an die Ohren.

»Wenn du ihn lieb hast –«

Inge faßte ihre Hand.

»Hilf mir, Maren, ich danke es dir.«

Aber Maren schüttelte sie ab.

»So heißt es vorher! Aber hinterher heißt es: alte Hexe. Geh, geh, ich will nichts mit dir zu schaffen haben.«

Damit verschwand sie in ihrem Hause und ließ Inge stehen.

Von nun an ließ es Inge Tag und Nacht keine Ruhe. Ihr lag nichts daran, Lorens vor Henrich Eelking zu warnen; sie wollte ihn nur wiedersehen, und sie war fest davon überzeugt, daß Maren Taken ihr dazu verhelfen könnte. Sie machte sich ein Gewerbe daraus, sich mehr um ihre Schwiegermutter zu kümmern, brachte ihr bald etwas Gutes zu essen, bald ein warmes Gestrick oder ein Stück Leinenzeug, das Lorens ihr vor Jahren geschenkt hatte. Jedesmal aber strich sie so lange um Peter Takens Haus, bis sie Maren in Sicht bekam und ein paar freundliche Worte mit ihr wechseln konnte. Das ging so, bis das Heu drinnen war, aber danach traf sie einmal den jungen Nis bei der Mutter, und der sah sie aus ernsten Augen so traurig an, daß ihr war, als fragte er sie: hältst du Maren auch für eine Hexe?

Das schreckte Inge für kurze Zeit zurück. Dann aber dachte sie: was ist es denn Böses, das ich von ihr will? Ich will meinen Mann wiedersehen und will sie geradenwegs fragen, ob sie mir dazu helfen kann. Kann sie es nicht, so gehe ich nicht wieder zu ihr.

Am gleichen Abend noch machte sie sich auf nach Rantum. Auf dem Wege aber, noch außerhalb des Dorfes, traf sie schon, die sie suchte. Sie blieb stehen und wußte nicht, wie sie anfangen sollte.

»Du wolltest zu mir,« sagte Maren Taken und lachte ihr sonderbar kurzes, trockenes Lachen. »Du willst deinen Mann sehen und willst ihn locken, daß er bei dir bleibt.«

Inge schwieg; nach einer Weile sprach sie mit Überwindung:

»Du kannst mir dazu helfen, das sehe ich. Aber sage mir vorher, was du dafür von mir haben willst.«

»Daß mein Mann wieder Strandvogt wird.«.

»Wie könnte ich das machen?« rief Inge voll Schrecken. »Du verlangst, was unmöglich ist.«

»Du auch.«

Inge setzte sich an den Grabenrand und stützte den Kopf in beide Hände. Wie sollte es angehen, daß Peter Taken wieder Strandvogt würde? Er hatte das Trinken angefangen, und man sah ihn nicht mehr anders, als daß er von Steuerbord nach Backbord schlingerte. Solch einer taugte nicht zum Strandvogt, und wenn Lorens erst daheim sein würde und die Sprache käme darauf, würde er der erste sein, der sagen würde: besser gar keiner als so einer. Merkwürdig war nur, daß diese beiden Leute, der fortgejagte Strandvogt und die Hexe, einen Sohn haben konnten wie Nis, der als ernst, arbeitsam, klug und nüchtern schon in jungen Jahren allgemein geachtet wurde, obgleich er nicht zur See fuhr, sondern die Landstelle bewirtschaftete. Nis – langsam hob Inge den Kopf.

»Wenn Lorens daheim sein wird und ein Wort dabei zu sprechen hat, will ich ihm wohl sagen, daß er es für Nis spricht; ist dir das recht?«

Maren Taken stutzte; dann überlegte sie.

»Wohl, ich sehe, du meinst es ehrlich,« sagte sie; »ehrlicher als die anderen Weiber, die mir alle versprachen, daß sie Peter zum Strandvogt machen wollten. So will ich auch ehrlich gegen dich sein. Rieche einmal hieran.« Sie holte ein kleines Päckchen aus ihrem Hemd, wickelte es auf und hielt Inge einen Scherben mit einer gelblichen Salbe unter die Nase. Der Geruch war aber so stark, daß Inge wie schwindlig zurücktaumelte. Maren Taken nickte befriedigt.

»Heute abend, wenn der Mond im Süden steht, mußt du dich nackt ausziehen und dir das Gesicht ganz und gar mit diesem Schmier einreiben. Es darf aber nichts übrig bleiben. Dann stellst du dich genau nach Süden, und breitest die Arme aus, als wärest du ans Kreuz geschlagen. So sprichst du dreimal nacheinander das Vaterunser, nicht zu laut, nicht zu leise, nicht zu schnell, nicht zu langsam, und denkst dabei an Lorens, denn du betest um seine Seele.«

»Und dann?« fragte Inge atemlos.

»Wirst schon sehen,« antwortete Maren Taken, wandte sich und trottete zum Dorfe zurück. »Vergiß nicht, was du versprochen hast,« rief sie aus einiger Entfernung noch zurück, »sonst geht es dir schlecht!«

Zögernd schlug Inge den Scherben wieder in den alten Lappen und steckte das Päckchen in ihren Korb. Es war alles so anders, als sie gedacht hatte, weniger heilig und weniger unheilig. Das Vaterunser allerdings und die Kreuzesstellung – und andererseits dieser Teufelsgestank – ein Schauer lief Inge über den Rücken, und sie war fest entschlossen, Marens Ratschläge nicht zu befolgen. Dann aber, je weiter der Abend vorrückte, kam immer stärker eine quälende Unruhe über sie. Mehr als sonst sprach sie mit den Kindern über ihren kleinen Kram und wünschte insgeheim, daß eine Nachbarin kommen möchte. Aber die Mädchen krochen früh ins Stroh, und die Nachbarinnen wohl auch, denn morgen sollte es vor Tau und Tage ins Korn gehen. So blieb Inge allein, und als sie vor die Haustür trat, sah sie den Mond noch rotgelb im Osten überm Watt. Er war noch nicht ganz voll, aber stand so klar am Himmel, daß er einen hellen Schein geben mußte, wenn er erst hoch im Süden stehen würde.

Inge schloß die untere Halbtür und lehnte sich daran. Der Wind kam aus Nordwest, hier stand sie völlig in Lee und hörte nur, wie er sausend ums. Haus und über die Felder lief. Sie wußte jetzt schon, daß sie doch zu Marens Hexenkünsten greifen würde, denn in dieser stillen Nachtstunde war die Sehnsucht in ihr stärker denn je. Ihr Herz schlug, daß das Hemd über ihrer Brust leise zitterte, und bis in die Füße hinein fühlte sie den warmen Blutstrom. Dazu sah sie Lorens deutlich vor sich, nicht wie er jetzt war, der stattliche selbstbewußte Grönlandkommandeur, sondern wie er als Junggast seinerzeit zu ihr gekommen war, um ihr zu sagen, daß er nun mit dem Hausbau beginnen wollte. Wie war er damals jung und glücklich gewesen – so lebendig schlug sein Herz an das ihre, wenn er sie im Arm hielt.

Als der Mond hoch im Süden stand, richtete Inge sich auf und reckte sich; ihre Glieder waren völlig steif geworden. Dann machte sie leise auch die obere Tür dicht und ging in die Stube, wo ihre Kinder hinter den Bett-Türen schliefen. So war sie nicht ganz allein und hatte doch keine Zeugen bei ihrem Tun. Langsam legte sie ihre Kleider ab, Stück für Stück. Sie war nun völlig ruhig, und indem sie sich so entkleidete, beobachtete sie, wie die Mondstrahlen die buckligen grünen Fensterscheiben mit feinem Glanz umspielten. Wenn der Ring sich schloß, stand der Mond erst voll im Süden. Sie wickelte den alten Lappen auf, und der starke Geruch der gelben Salbe strömte ihr entgegen.

Nun war es so weit. Sie nahm den Scherben in die Hand und fing an, sich das Gesicht zu bestreichen, Stirn, Augenlider, Wangen, Mund und Kinn, obgleich der Geruch sie so betäubte, als wandelte sie auf Wolken. Dann ließ sie den Scherben fallen und breitete die Arme aus, wie Maren Taken sie gelehrt hatte. Wie ein Feuerstrom schoß ihr das Blut vom Herzen bis in die Fingerspitzen, gleichzeitig aber wurde ihr Gesicht unter der Salbe so kalt, als legte sich eine Eisschicht darüber.

»Lorens,« flüsterte sie; »Lorens –!«

Dann aber entsann sie sich wieder Maren Takens Anweisungen. Hoch hob sie den Kopf, die Blicke auf den flimmernden Mondesglanz gerichtet. Sie stellte die Füße eng nebeneinander und hielt die Arme gebreitet, obgleich Feuerströme mit eisiger Kälte wechselten. Einmal holte sie tief, tief Atem, und noch einmal. Dann begann sie – nicht zu laut und nicht zu leise – nicht zu langsam, nicht zu schnell:

»Vater unser, der du bist im Himmel –«

Sie war aber noch nicht bis zum täglichen Brot gekommen, da brach sie in die Knie und schlug mit dumpfem Ton zu Boden. –

Als Lorens zwei Monate später nach Hause kam, erfuhr er, daß Inge lange krank gewesen war. Sie hätte sich wohl bei der Kornernte übernommen, meinte Gondel. Während der Ernte selbst hatte sie sich noch so hingeschleppt, aber dann war sie durch Wochen nicht recht bei sich gewesen. Sie war auch noch keineswegs wieder gesund, als Lorens heimkam. Blaß und schmal lag sie im Bett, mehr wie eine jung-schöne Frau anzusehen, denn wie eine Mutter erwachsener Töchter, und sie lächelte so lieblich mit fieberglänzenden Augen, daß Lorens meinte, sie wieder als Braut vor sich zu haben. Da kam es ihn an, daß er sich über sie beugte und sie küßte wie in alten Zeiten. Inge aber legte den Arm um seinen Nacken und zog ihn zu sich herab:

»Bleibst du nun bei mir? Für immer?«

Er stutzte; hatte er doch noch mit niemand davon gesprochen, daß er Henrich Eelking nun endgültig aufgesagt hatte. Dann aber fiel ihm die Nacht wieder ein, in der er diesen Entschluß gefaßt hatte. War Inge damals wirklich bei ihm gewesen? Hatte sie ihn gerufen? Es hab viele, die glaubten, daß ein Mensch, der die Hand des Todes fühlt, seinen Körper schon einmal verlassen kann. War Inge so krank gewesen? Hatte sie schon mit einem Fuß im Grabe gestanden? Ein Schrecken fiel ihn an; er konnte sie nicht entbehren, sie war ihm sein anderes Selbst.

»Wenn du nur bei mir bleibst, will ich wohl ganz auflegen,« antwortete er mit heiserer Stimme, und sie legte sich beruhigt zurück. Von diesem Tage an wurde sie wieder gesund. Zwei Iahte später brach Henrich Eelkings Unternehmen zusammen, und wer von den Syltern noch für ihn gefahren hatte, suchte nun wieder in Hamburg Heuer. Da aber der Walfang immer mehr zurückging, kam es auf, daß sie fast nur noch auf Kauffahrteischiffen fahren konnten.

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