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Es war in diesen Jahren, daß der dänische König und der Gottorffer Herzog sich gegenseitig den Pelz zu kämmen suchten. Dabei mußten die Läuse, die in dem Pelz saßen, mehr leiden als die hohen Herren, die ihn trugen. Zwar – Herzog Christian Albrecht mußte sich außer Landes begeben, als der König ihm auf die Hacken trat, aber darum lebte er in Hamburg doch nicht weniger behaglich als auf Schloß Gottorff, und wenn die Gelder aus der Heimat vom Könige mit Beschlag belegt wurden, dann mußte Schweden einmal Vorschuß geben und selbst sehen, wie es den Vorschuß hernach mit Zins und Zinseszins aus den schleswig-holsteinschen Städten und dem platten Lande wieder herauspreßte. Viel war da nicht mehr zu holen seit dem Polackenkriege, aber der Schwede nahm schließlich auch, was die polnischen Wölfe übrig gelassen hatten. Der König aber, der fünfte Christian von Dänemark, hatte es ja bequem, seine Soldaten in die gottorffschen Lande zu legen und sie dann selbst für Kost und Löhnung sorgen zu lassen. Und wenn der Krieg schließlich auch die Soldaten fraß, nun, dann gab es immer noch genug Läuse im gottorffschen Pelze, die man knacken konnte – man mußte nur zu kämmen verstehen.
Nach Sylt kamen dänische Werber; die griffen auf, wen sie nur irgend fangen konnten. Sie prügelten die Leute wie die Hunde, wenn sie nicht Geld nehmen wollten. Die Leute erschraken und nahmen Geld. Mehr als neunzig kamen so im Frühjahr 1677 auf die dänische Flotte, davon starben siebzehn im Laufe des Jahres an den Folgen der schlechten Behandlung, an Hunger und Krankheit. Als im März des folgenden Jahres die Werber wiederkamen, ging das Seevolk durch und war keiner, den die Dänen pressen konnten. Einer der Offiziere kam selbst bis Rantum, und als er Lorens dort unter den andern Kindern sah, rank und schlank, einen halben Kopf größer als seine Altersgenossen, wollte er den Zehnjährigen greifen. Aber der Großvater gab Lorens einen Wink, da entwich der in die Dünen, und dieser Pelz war gar zu groß und die Laus gar zu klein; die kämmte selbst ein enger Kamm nicht heraus. Der dänische Offizier prügelte den alten Mann, daß ihm das Blut aus Nase und Mund stürzte, und blieb drei Tage selbst im Hause. Dann zog er ab. Gegen ein Fuder Mist kann man nicht anstinken, dachte er, als er von Gondel verlangt hatte, daß sie ihm die Kammer scheuern sollte und Gondel dazu einen Eimer voll Jauche genommen hatte. So brachte sie ihn wieder aus dem Hause. Aber die Weiber von Sylt mußten dafür, daß ihre Männer nicht dem dänischen Könige gegen ihren eigenen Herzog in den Krieg folgen wollten, 550 harte Taler zahlen, außer all den andern Steuern, die König und Herzog jeder für sich dort holten.
Als die Männer im Herbst heimkamen, erfuhr Peter Jens Grethen, was sich begeben hatte. Erstaunt sah er auf seinen Ältesten, den er bis dahin wohl noch nie anders angesehen hatte als seine Brüder, die Schweine und das Kleinvieh. Nun sah er plötzlich, daß der Junge wie ein gutes zweijähriges Hengstfohlen war, voller Kraft und Leben, voll Eigenwillen und Übermut, anders als seine jüngeren Brüder und sehr verschieden auch von allen andern Kindern im Dorf.
»Im Frühjahr muß er mit,« sagte er zu Jens Grethen, und der Alte nickte schweigend: besser nach Helgoland auf den Heringsfang, als nach Kopenhagen auf die königliche Flotte. Von den Helgolandern wurden die Sylter geachtet als ihresgleichen; unter den Dänen aber waren sie wie die Möwen unter den Raben.
Als aber das nächste Frühjahr kam und weil die dänischen Werbeoffiziere eine große Beschwerde über die widerspenstigen Sylter bei dem königlichen Commissair Tych geführt hatten, sandte der einen ganzen Zug Soldaten, Reiter und Fußvolk mit ihren Offizieren nach Sylt. Die waren nicht dumm. Sie zogen die Schiffe auf Strand und legten in jedes eine Wache, die scharf geladen hatte. Wer sich irgend am Strande blicken ließ, wurde erschossen, und der Anführer gab bekannt, daß alle Schiffe leck geschlagen würden in dem Augenblick, wo die Insulaner wagen würden, auch nur eine Wache aufzuheben. Nun, meinte er, könnte ihm das Mannsvolk nicht entgehen.
Es war aber schönes klares Frostwetter, und seit Tagen schon wehte ein leichter Nordost. Am Abend war er steil Ost und stand steif vom Festlande herüber. Da lief das Watt trocken. Mitten in der Nacht wurde Lorens aus seinem Bett geholt, und da er vor Schlaftrunkenheit nicht stehen konnte, zog ihn der Großvater selbst an: die dicken grauen Strümpfe mit den Ledersohlen, die Mutter im Winter gestrickt hatte und auf die er so stolz war. Lang und groß waren sie, länger als seine Beine und größer als seine Füße; er konnte noch Jahr und Tag wachsen, ehe er sie ausfüllen würde. Darüber kam die rote Jacke, rundrum gestrickt nach uralter Sylter Art, die ihm bis über die Knie herunter hing. Aber die Hose hielt alles zusammen, eine echte Seemannshose, die schwarz geteert war und so steif, daß sie wohl allein im Winkel stehen konnte. Die wurde unter den Knien festgebunden und um den Leib mit einem Riemen geschnallt.
Lorens rutschte mit den Füßen in die Holzschuhe und zog die Mütze über die Ohren, aber er tat alles wie im Traum, und immer wieder fielen ihm die Lider über die Augen, so sehr er sich auch mühte, sie offen zu halten. Da gab ihm der Vater einen Becher, aus dem er selbst soeben getrunken hatte.
»Mach Rest,« gebot er, und Lorens griff darnach und schluckte ein-, zweimal, dann mußte er husten und krächzen, aber dabei wurde er plötzlich hellwach, und ein heißer Schauer rann ihm über den Leib. Er sah die Stube im flackernden Dunkel, sah, daß die Mutter sich mit dem Ärmel über das Gesicht fuhr, und hörte des Großvaters Stimme:
»Der Herr segne dich und Er behüte dich –«
Dann befand er sich – wieder ganz plötzlich – draußen auf dem Norderweg. Ein eisiger Wind fuhr über Watt und Weiden daher; scharf blinkten die Sterne. Aber Lorens sah nicht zu ihnen hinauf; er sah nur vor sich einen Klump von Männern und jungen Burschen, die eilig und schweigsam dahinwanderten. Denen trabte er nach, so schnell er nur konnte. Nach einiger Zeit wandten die Männer nach Osten um. Nun blendeten sie ihm den Wind ab. Da war es heimelig warm hinter ihnen, und in der Wärme verflog das Wachsein wieder. Die Augen fielen ihm zu, aber seine Beine liefen von selbst den Männern nach, ohne daß er noch etwas davon wußte. Er wachte erst wieder aus, als seine Holzschuhe laut schallend auf Steinen klapperten. Da schrak er auf und erschrak noch mehr, als er sah, daß der Vater sich umwandte und ihm mit der Faust drohte. Er schlurrte aus den Schuhen heraus, nahm sie in die Hand, wie die andern schon längst getan hatten, und lief auf den Ledersohlen seiner Strümpfe weiter. So trabte er dahin, zwischen Schlaf und Wachen; doch jedesmal, wenn er die Augen wieder auftat, war der Menschenklump vor ihm dicker geworden, und um ihn herum und hinter ihm trabten noch mehr solche wie er war, halb schlafend, halb wachend.
Die Nacht verging, und um die Zeit, wo er sonst aus dem Stroh zu kriechen pflegte, fühlte er des Vaters harten Griff an der Schulter, der ihn schüttelte:
»Wach auf! Im Watt kannst du nicht schlafen.«
Er riß sich hoch und warf den Kopf auf, und dann fühlte er, daß nun die Nacht wirklich vorüber war. Er rieb sich die Augen und nieste ein paarmal, dann war er wach, wirklich hellwach. Noch war die Sonne nicht da, aber ein hoher und klarer Himmel gab schon genug Licht, daß Lorens Jens Grethen um sich sehen konnte, und was er da sah, das setzte ihn mächtig in Erstaunen. Er stand aus hoher Heide, die hinter ihm noch höher anstieg. Vor ihm aber, nach Osten und Süden zu, lief das Land flach ins Watt hinaus, und hier auf einem breiten Wege, der durchs Weideland führte, waren ein paar hundert Männer versammelt, alle zur Seereise gerüstet wie sein Vater und die andern Rantumer auch, mit Bündeln unterm Arm oder auf dem Rücken. Lorens riß die Augen weit auf; dann konnte er sich nicht mehr halten:
»Junge – Vater – was Menschen auf der Welt!«
Er hatte den Ausruf nicht mehr zurückhalten können; er hatte ihn auch nur für seinen Vater bestimmt. Aber seine helle Knabenstimme schwang sich so laut und unbekümmert über das Schweigen der Männer hin, daß viele sich verwundert nach ihm umsahen, und ein alter Mann, der nicht weit von ihnen stand, sah erst Lorens und dann den Vater und dann wieder Lorens spöttisch an; dann spuckte er aus und sagte:
»Mir scheint, Ihr hättet Greth Skrabbels Maulwerk noch extra totschlagen sollen, als sie schon im Sarge lag.«
Peter Jens Grethen gab keine Antwort, aber er versetzte seinem Ältesten einen Puff, den dieser sich ganz richtig übersetzte.
»Halt's Maul!« hieß der. Die Mahnung schrieb Lorens sich hinter die Ohren, aber sie zu befolgen wurde ihm nicht leicht. Zu sehr war er daran gewöhnt, mit dem Großvater umzugehen, der freilich selbst auch nicht eben mitteilsam genannt werden konnte, aber doch das kindliche Gebabbel ohne Einschränkung geduldet hatte.
Ehe die königlichen Werbeoffiziere an diesem 6. März des Jahres 1679 aus ihren Betten krochen, und ehe die Soldaten die Wachtfeuer verließen, die sie in der Nähe der Schiffe angezündet hatten, waren die Sylter Seeleute schon so weit draußen im Watt, daß niemand sie mehr einholen konnte. Freilich mußten die Frauen wieder mit 500 Talern die Freiheit ihrer Männer büßen und dem Commissair Tych noch extra mit 100 Talern »zur Diskretion« das Maul stopfen. Die Frau Amtmannin in Tondern aber, die sich aus irgend einem Grunde ebenfalls durch die Flucht des Sylter Seevolks benachteiligt fühlte, verlangte hundert Pfund Federn und Daunen von den Sylterinnen. Es durften aber nur bestgeschlissene sein, kein Spulenrestchen, Schmutz oder Blut durfte mehr daran kleben. Wochenlang saßen die Frauen über der Arbeit, die Männer aber wanderten derweil frei und ungehindert die schleswigsche Westküste entlang nach Holstein hinunter. Die meisten blieben in Tönning oder Husum haken; andere zogen sich nach Hamburg und Altona.
Lorens Jens Grethen trabte an seines Vaters Fersen hinter dem Haufen her. Er wußte nicht, was der Vater zu tun beabsichtigte, er ahnte nichts von ihrem Reiseziel, und zu fragen wagte er nicht. Aber er zerbrach sich auch nicht den Kopf über das Wohin? Wo er ging und stand, war die Welt groß und wunderbar. Er übernachtete mit seinem Vater in Scheunentennen, in denen ein ganzes Sylter Haus mit Stall und Hofwinkel hätte Platz finden können; er lernte Rindvieh kennen, gegen das ihm die Kühe seiner Mutter vorkamen wie seine Holzschuhe gegen Matzenohms Kutter; er kam an Tische zu sitzen, wo mächtige Braten in starkduftenden Fett-Tunken zum täglichen Brot gehörten, und wo er selbst das Brot eintunkte, das auf Sylt doch nur für Alte und Kranke gebacken wurde; er sah Kinder in bunten Röckchen über leinenen Hemden, sah Frauen im Schmuck schwerer silberner Ketten und Knöpfe, und auf den Marktplätzen der Städte, durch die sie auf ihrer Wanderung kamen, sah er gar hin und wieder die Frauen in seidenen Gewändern mit Mänteln aus Samt mit Pelzwerk verbrämt, und stattliche Ratsherren in kostbaren Wämsern, auf denen reiche Ketten lagen. Das alles sah Lorens mit großen Augen, und hörte, was nur eben in seine Ohren hineinging und was darin von dem fremden Klang der Sprache haften blieb. Wenn er sich aber vergaß und sich mit rascher Frage an seinen Vater wendete, bekam er nie eine andere Antwort als einen Puff:
»Halt's Maul!«
So lernte Lorens Jens Grethen schweigen und wurde ein Mann. –
Von Husum nahm ein Frachtschiff sie mit nach Helgoland. Peter Jens Grethen fuhr mit einem Helgolander auf Part zum Heringsfang. Der hatte aber selbst Söhne. So kam Lorens zu einem andern. Auf dessen Schaluppe war er der einzige Junge unter lauter Männern. Er bekam schwere Arbeit und karges Essen, wenig Schlaf den Sommer über, selten ein böses und niemals ein gutes Wort, gelegentlich wohl auch »Stockfisch mit Faustbutter«, wie der Schiffer es nannte, obgleich das Tauende dabei mehr mitsprach als der Stock. Aber der Fischer war einmal in Husum Werbern in die Hände gefallen und hatte mit dem Stock Bekanntschaft gemacht, ehe es ihm geglückt war, vom Lager wieder in den Hafen zu kommen; da war ihm der Schnack dann im Munde hängen geblieben. Der Schiffer tat nicht oft das Maul auf, aber doch öfter als die Genossen, und jedesmal blieb Lorens dann ein Wort im Ohr, dem er nachdenken mußte. Das erinnerte ihn an den Großvater.
Im Herbst kamen Gerüchte von einem Frieden zwischen Dänemark und Schweden. Danach aber hieß es, daß Christian V. von neuem Völker anwürbe, die der Herzog von Hannover abzudanken sich entschlossen hatte. Hamburg bekam hierob große Augen, dachte, es würde ihr gelten, ließ deshalb stark werben, ließ vor dem Steintor einige Schanzen aufwerfen, die Bäume auf der Reeperbahn abhauen und den vorm Altonaer Tor stehenden Pulverturm abbrechen. Peter Jens Grethen machte auch große Augen, als er davon hörte, und als der Heringsfang beendet war, ging er allein nach Sylt zurück und ließ Lorens auf dem Land. Er wollte nach seinen Leuten sehen und meinte, er selbst könnte sich wohl bergen vor Werbern und ähnlichem Volk, aber den Jungen wollte er nicht überher noch hüten müssen.
Lorens war es zufrieden. Nun prügelte er sich mit den Helgolander statt mit den Rantumer Jungen herum. Ihm gefiel das Leben auf dem Land nicht übel. Auch im Winter kam mancher Tag, an dem man wohl ein paar Butt einbringen konnte, und wenn es sonst nichts gibt, ist die Krabbe auch ein Fisch; dann warf man Hummer und Taschenkrebs ins kochende Wasser und zerbrach ihnen die Scheren. Wenn auch nicht alle Tage Fangtag, so war doch jeden Tag Eßtag. Der Schiffer hielt ihn gut. Sie strickten Strümpfe und strickten Netze und flickten die langen Grundleinen, die zum Schellfischfang gebraucht wurden. Dazwischen kletterte Lorens mit andern Buben am Felsen herum, wenn die Schnepfen strichen, fing mit dem Ketscher die Kleinvögel, die bei Nebelwetter in dunkler Nacht sich nach der Feuerblüse zogen, und traf tagsüber mit der Schleuder manche Krähe zu Tode. So brachte er immer etwas in den Kochtopf; das machte ihm die Hausfrau wohlgesinnt. Das Haus, in dem sie wohnten, lag am Wall, der den hohen Felsen mit dem Dünenland verband. Hier unter der weißen Klippe lagen nur zwei Reihen kleiner Häuschen – »sie laufen hintereinander weg wie eure Inseln da drüben oder wie Gänse,« sagte der Schiffer – aber sie lagen hier gut, geschützt durch den roten und den weißen Felsen. Lorens kletterte überall herum, während die Helgoländer Jungen nur dahin kamen, wo es etwas zu holen gab. Der Schiffer schüttelte manchmal den Kopf über ihn: »Junge, sitz doch still!« Aber das nützte nicht viel.
Lorens hielt den Winter wohl aus, aber er brannte aufs Frühjahr, um wieder hinaus zu kommen und wieder das lebendige Gefühl des Wassers unter sich zu spüren, statt des harten Bodens des roten Felsens, zu dem er keine rechte Beziehung finden konnte. Endlich kam der März, es kam der Kabeljau, aber die Helgolander kamen immer noch nicht in Schwung. Ach, gewiß, sie standen des Morgens auf und gingen an Bord und warfen die Leinen aus und nahmen dann auf, was Gott ihnen bescherte, aber das alles ging so gemächlich vor sich, daß Lorens das Feuer aus den Augen sprang. Das Doppelte würden sie fangen können, wenn sie nur früher aufstehen möchten, dachte er bei sich, aber es erwies sich als unmöglich, den Schiffer flott zu kriegen.
»Was?« knurrte er; »ist Boy jetzt Kapitän? Soll ich ausfahren, ehe die Hähne krähen? Soll ich dem Nachbarn den Wind abkneifen? Das mag wohl auf Sylt Sitte sein – ein Helgoländer tut das nicht, und wenn er darüber hungern müßte. Ein guter Nachbar ist besser als ein erzürnter Freund; das merke dir, mein Jüngsken.«
Und als Lorens daraufhin noch wagte, zu sagen:
»Jee, Schiffer, es bleiben genug für den Nachbarn, auch wenn Ihr einen Fang voraus tut –« da nahm ihn der Alte unsanft bei den Ohren.
Nicht lange danach befiel eine sonderbare Krankheit die Helgoländer Hähne. Vordem hatten sie gekräht wie andere brave Hähne auch tun: wenn die erste Morgendämmerung das Nahen der Sonne ankündigte. Standen die Fischer dann auf, so kamen sie meist mit der Sonne zugleich aufs Wasser. Jetzt aber krähten die Hähne Nacht für Nacht so früh, daß die Fischer schon die Leinen ausgelegt hatten, ehe die Sonne sich blicken ließ. Das gab gute Fänge. Es war, als ob die Fische doppelt so gern anbissen, solange die Dämmerung ihnen noch die Leinen unsichtbar machte. Lorens plagte seinen Brotherrn, nach kürzerer Zeit schon, als sonst über Tage üblich war, die Leinen wieder einzuholen, und wirklich waren sie überreichlich besetzt. Am Abend legte der Schiffer mit doppelter Andacht die Hände überm Ruder zusammen:
»Gott sei Dank für diesen Tag! Morgen mehr!« sprach er dazu, wie seine Gewohnheit war, und am andern Tage bescherte Gott ihm wahrhaftig wieder einen guten Fang.
Das ging eine Weile so fort, aber den Helgoländer Jungen gefiel dies Leben nicht so gut wie dem Sylter. Sie schlichen ihm nach und lauerten ihm auf, und eines Abends, als eben die Schaluppen heimgekommen waren, fielen sie alle über ihn her und verprügelten ihn auf gemeinsame Kosten. Es war ein arger Knäul und ein solches Gewühl von Armen und Beinen, daß Lorens nicht einmal schwer beschädigt wurde, aber als der Kampf vorüber war, konnte er doch sich kaum mehr aufrecht halten, und lehnte trutzig mit dem Rücken an der Hauswand, während seine Gegner mit geballten Fäusten und wütenden Schimpfreden immer wieder auf ihn eindrangen. Ein Fremder, der gerade vorüber ging, blieb stehen.
»Hee?« machte er und sah Lorens an, der mit der Hand sich das Blut aus dem Gesicht wischen wollte, es aber nur verschmierte; »wer bist denn du?«
»Lorens Jens Grethen,« antwortete der Junge und richtete sich straffer auf. Da fiel der Blick des Fremden auf die gestrickte Jacke.
»Ein Sylter Mann –« sagte er spöttisch. »Seit wann ist es denn bei euch Sitte, daß die Männer sich nach den Weibern nennen?«
Lorens warf den Kopf hoch.
»Greth Skrabbel war meine Großmutter.«
Da wurde der Blick des Fremden bewußter, aber den Helgoländer Burschen paßte das Gespräch nicht.
»Lorens Jens Grethen hieß er – jetzt heißt er Lorens der Hahn,« schrie einer, und die andern fielen lärmend ein: »ja, der Hahn – der Hahn – Lorens der Hahn!«
»Der Hahn?« wiederholte der Fremde verwundert, und Lorens fing an zu lachen, trotz Blut, Schrammen und Beulen lachte er aus Herzensgrunde; doch je mehr er lachte, desto wütender schrien seine Feinde. Es dauerte geraume Zeit, bis der Fremde den Hering im Mahlstrom greifen konnte. Die Helgolander hatten entdeckt, daß Lorens vor Tau und Tage hinter den Hühnerställen durchgekrochen war und durch geschicktes Nachahmen des Hahnenschreies die Hähne zum Krähen veranlaßt hatte. Ein Hahn hatte die andern geweckt, sie alle zusammen aber die Helgolander Fischer, die dadurch um Stunden früher als sonst zum Fischen ausgefahren waren. Lorens lachte. Wollte sein Schiffer nicht allein vor der Zeit fahren, um dem Nachbarn nicht den Fang vor der Nase wegzuschnappen, nun, dann mußte der Nachbar eben auch früh hinaus. Dann taten sie beide einen guten Fang; es gab genug Fische im Wasser.
Der Fremde schüttelte den Kopf.
»Bist unklug,« sagte er kurz; »Boy ist nicht Kapitän. Komm mit mir; du paßt nicht hierher.«
Das lachende Bubengesicht wurde mißtrauisch.
»Wohin?«
»Auf Grönland.«
Lorens lehnte sich fester an die Hauswand. Er kannte die großen Grönlandfahrer wohl, die auf den Walfischfang fuhren, aber sie hatten ihn noch nie gelockt. Da oben an Deck konnte man die See nicht so fühlen wie in der kleinen Schaluppe, und Speck schneiden, statt die glatten frischen Fische durch die Finger gleiten zu fühlen – nein, das mochte er nicht. Der Fremde zuckte die Achseln, als er sein Zögern sah.
»Bist unklug,« wiederholte er. »Wirst noch einmal an mich denken, wenn du dies satt hast. Dann such mich in Hamburg.«
Er warf Lorens ein Geldstück zu, das der geschickt mit der Hand auffing. Dann ging er weiter, und die Buben starrten ihm mit offenen Mäulern nach.
»Wer war das?« fragte Lorens nach einer Weile.
»Kennst du ihn nicht? Matthis Peters von Föhr war das, der glückliche Matthis. Oha, der hat schon mehr Walfische gefangen als du Heringe. Zeige, was er dir gegeben hat. Einen holländischen Gulden – wahrhaftig, du hast auch mehr Fisch als Leine im Boot!«
Sie wollten ihm das Geldstück abnehmen, aber Lorens ballte die Hand zur Faust und kämpfte sich durch den Knäul hindurch. Als sein Vater ein paar Tage später ankam, zeigte er ihm den Gulden und erzählte sein Erlebnis.
»Weshalb fährt Vater, nicht auf. Grönland?« fragte er dann, aber Peter Jens Grethen gab ihm keine andere Antwort als die alte Rede:
»Lieber zu still, als zuviel.« –
Das Jahr brachte einen schönen Sommer. Ein paar Gewitter gingen über See nieder, die Leinen und Netze in Gefahr brachten, sonst aber gab es meist stilles Wetter. Leise gewiegt von der Dünung der Gezeitenströme ruhten die Schaluppen, Ewer und Kutter wie schwimmende Enten auf dem Wasser. Kein Unglück störte den ruhigen Gang der Ereignisse, aber wenn die Schiffe mit ihrem Fang die Elbe hinaufsegeln wollten, um ihn in Hamburg zu Markt zu bringen und in der flauen Luft kein Vorwärtskommen war, dann kam mehr als einmal dem jungen Lorens des Vaters Wort: »Lieber zu still als zuviel« störend in den Sinn, und er hörte des glücklichen Matthis spöttische Stimme: »Bist unklug – komm mit!«
Erst als im Hochsommer der Hering kam und bald danach auch das Wetter unruhig wurde, belebte sich der Betrieb, und dabei vergaß Lorens der Hahn alle überflüssigen Gedanken und hätte gern wieder gekräht, um ein paar Fangstunden am Tage mehr herauszuschlagen. Im Herbst aber machten die Stürme, daß er tagsüber kaum genug Essen hinunterschlingen konnte und abends doch todmüde ins Stroh kroch, so nahm ihn die schwere Arbeit mit. Aber seine Glieder reckten und streckten sich dabei, und seine Muskeln wurden steinhart. Er nahm es mit manchem auf, der um Jahre älter war als er. Der Schiffer aber war ein verständiger Mann und erlaubte nicht, daß Lorens von den älteren geschunden wurde.
»Er hat's noch nicht durchgeholt; er ist noch nicht ausgewachsen,« pflegte er zu sagen, und die Bordgenossen ließen es gelten, da Lorens von allen die beste Orientierung hatte und ihnen schon aus mancher Klemme geholfen hatte.
In diesem Winter war es Lorens schon selbstverständlich, auf dem Land zu bleiben, um im nächsten Frühjahr als erster Sylter mit hinaus zu fahren. So ging ein Jahr nach dem andern hin, und als er kaum ins fünfzehnte Lebensjahr eingetreten war, kam ein Tag, an dem er die achtzig Fragen des Helgolander Ältestenrates über die Gestirne des Himmels und den Lauf des Herings und des Kabeljau, über die Platen und Gründe zwischen Wangeroog und Eiderstedt, über die Einfahrt in die Elbe und alle See- und Landkennungen auf dem Wege von Helgoland nach Hamburg, mit Auszeichnung beantworten konnte. Danach bekam er seinen Schein als vollbefahrener Mann und konnte nun wie sein Vater und andere Sylter auch mit einem Helgolander auf Part fahren – wenn er wollte. Er wußte nun aber selbst nicht recht, ob er wollte. Sein Schiffer entließ ihn; er brauchte einen Jungen an Bord, keinen vierten Mann. So ging Lorens Jens Grethen, oder wie auf seinem Helgolander Schein stand: Lorens Petersen der Hahn, mit seinem Vater und seinen Brüdern Manne und Aaners, die nun auch schon auf Helgoland fuhren, im nächsten Herbst einmal wieder nach Sylt zurück, nur weil er mit sich selbst nicht recht einig werden konnte.
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