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Heinrich Ahrensee liegt den ganzen Tag matt und gequält auf seinem Ruhebett.
Die Augen aber leuchten ihm jedesmal auf, wenn sein Kind eintritt. – Er liebt es, ihre Hand in der seinen zu halten, und so sitzt sie oft still bei ihm, oder er bittet sie von daheim zu plaudern, von ihren Bootfahrten, fragt nach kleinen Einzelheiten bestimmter Ausfahrten, die sie miteinander gemacht haben.
So sitzen sie auch an einem stürmischen Spätnachmittag beieinander.
Die Dämmerung bricht herein, die ersten Novemberflocken sinken dicht in großen Fetzen nieder. Die Windstöße, die dies frühe Schneewetter gebracht hatten, fahren gegen die Scheiben. Heinrich Ahrensee sagt:
»Nun schneien wir hier ganz ein. Wenn das Frühjahr da ist, so Gott will, geht's zurück.«
Da fährt es seinem armen Kind wie ein Messer durchs Herz und sie starrt bleich auf ihren Vater, der aber blickt nicht auf und sieht wie in Erinnerung vor sich hin.
Jetzt ist das Maß voll. Sie kann nicht mehr ihr Elend verbergen – ihr Vater zerreißt ihr die Seele; wie jammervoll sieht er aus, wie gut ist er. Und sie fühlt in diesem Augenblick ein Leben, das sich in ihr regt; es verrät seine Gegenwart so unabweisbar herzbedrückend! Da schreit sie in ihrer Angst dumpf unterdrückt auf, macht sich von ihrem Vater los, der erschreckt auf sie blickt, und stürzt hinaus, greift wie unbewußt gewohnheitsgemäß nach ihrem Mantel und läuft die Treppe hinab, durch die enge Seitengasse, bis sie einsam unter hohen Bäumen steht.
Die weichen Flocken rieseln auf ihr Haar, der Schnee und die Dunkelheit haben alles sanft eingehüllt – kein harter 162 Laut, die Uhren schlagen gedämpft, wie sie bei dichtem Schneefall schlagen – ganz in der Ferne Musik, wie von weichen Flügeln getragen, Hundegebell, fast klanglos – und der Schneefall stark und dicht.
Hinter den Bäumen fließt die Saale dunkel, und die Wellchen am niedern Ufer glucksen leise.
Kristine will sich aufraffen, will überlegen, weshalb sie hierher gekommen ist – aber sie kann nicht denken; der weiche Schneefall und das leise Plätschern der Uferwellen hüllt ihr alles Denken ein; und wie das dunkle Wasser die weißen Flocken einsaugt, das sieht sich so einschläfernd an. – Sie lebt nicht mehr wie ein wacher Mensch – sie träumt. Ihr Elend ist nun so hoch gestiegen, daß sie es nicht mehr fassen kann. Sie ist ganz erfüllt und umlagert davon. Es trägt sie wie ein Meer, wirft sie hin und her, verschlingt sie, läßt sie wieder auftauchen, wieder sinken, wieder tauchen, und jetzt hat das Elend sie unter diese dunklen Bäume geworfen, an den fließenden Strom, der die weichen Flocken lautlos einsaugt, so lautlos und weich und schmeichelnd, daß sie immer wieder durch den Schneetanz blicken muß. – Der breite, dunkle Streif mitten im Schnee! Und manchmal glänzt, flimmert es darin auf, und die lautlos fließenden Wassermassen schieben weiter, gleichmäßig, geheimnisvoll – und die Flocken fallen immer dichter, immer dichter und verlöschen im schwarzen Wasser. Und diesem Auslöschen, Verschwinden zuzusehen, tut ihr gut. Es ist still und ungestört hier. Durch den Flockentanz dringt nach kurzen Pausen immer wieder ferne Musik auf weichen Flügeln – und das arme Geschöpf geht tief befangen von allem Leid und aller Angst, die über dem Kopf zusammengeschlagen ist, dem dunkeln Strome näher und näher.
Kristine weiß jetzt, was sie hier sucht – Frieden. – Ihre Seele hält nicht mehr stand. Es graut ihr vor diesem 163 Frieden; aber die Angst, das Entsetzen vor tausend Dingen, die über sie herfallen werden, vor bekannten und unbekannten Gesichtern, treiben sie diesem Grauen zu –.
Wie einsam, wie fürchterlich wird ihr Tod sein! – Dann wird sie vom Fluß hinuntergeschwemmt, dann wird sie an eine flache Stelle gespült. So wird man sie finden! – Ihr Körper ist fremden Augen preisgegeben! Was niemand weiß, muß offenbar werden und die Ihrigen gräßlich treffen!
Ihren Lippen entfährt ein dumpfer Schrei! Es dreht sich ihr so wild im Kopfe. Sie starrt um sich her. Gibt es denn kein Mittel auf Erden, solche Qual zu wenden?
Gehen, gehen – gehen in Hunger, Durst und Frost ohne Ende – und tot zusammenstürzen, da wo niemand sie kennt –
Hilfesuchend, mit Todesangst in den Zügen, blickt sie um sich her – nicht hinauf in die Wolken. Ihr guter Herrgott war ihr jetzt fern, unsäglich fern. Er hat sie verurteilt. Das Spiel der Majunkeschen Kinder vom Jüngsten Gericht steht ihr mit einem Male grell und unvermittelt vor der Seele. – »Ja,« sagt sie halblaut und leidenschaftlich »sie werden gemartert, die Menschen!«
Wieder irrt ihr Blick wirr umher. Da bleiben ihre Augen wie gebannt an einem Licht hängen.
Sie weiß sehr wohl, was dieses Licht bedeutet. Das helle Fenster ihres Vaters ist's, das bis hin zum Ufer herüberblickt. Und mit einem Male breitet das arme Geschöpf die Hände aus wie in grenzenloser Sehnsucht und eilt zurück, unaufhaltsam. Sie tritt in das Zimmer ihres Vaters mit bleichem, von furchtbarer Erregung entstelltem Gesicht. Sie steht mit großen, verzweifelten Augen vor ihm und sieht in sein sterbenskrankes Gesicht.
»Kristine!« ruft er, als er sie so stehen sieht, »was ist dir? wo warst du?« und er erhebt sich mühselig von seinem 164 Ruhebett, kommt ihr entgegen, breitet die Arme aus und zieht sein Kind zitternd an sich.
»Kristine, fasse dich, Herzenskind – dein Vater kann nicht bei dir bleiben – er kann nicht. – Er hat auch ganz abgeschlossen.
So schrecklich dir das scheint, jetzt im Augenblick, du wirst's verwinden! Denk' doch, die Blätter fallen im Herbste, es muß so sein – es ist gut so –. Dies Leben ist eine so zweifelhafte Sache, daß einer, der darüberstehen und alles überschauen könnte, lächeln würde, wenn er sähe, wie wir uns an dieses Leben klammern.«
Er ist auf den Lehnsessel vor seinem Bette gesunken und hält die Hände seines Kindes, das ihn immer noch mit denselben verzweifelten Augen anblickt, und er sucht sich zu fassen; er versteht diese jammervollen Augen in ihrem wirren, unsteten Ausdruck nicht.
»Mach' mir's nicht so schwer, mein Herzenskind. Hör' mich an, sei ruhig – mir ist's ja eine Erleichterung. Was denkst du denn, so ohne Abschied von seinem Kinde zu gehen, ist nicht gut. Wir können ruhig beide darüber reden, wie über andere Dinge auch – komm, mein Herz! und du wirst sehen, wie dann der Tod eines kranken, alten Menschen sich dir ganz anders zeigt, als du jetzt glaubst. Es handelt sich um ein kurzes Stückchen Erdenbewußtsein – dann kommt's auch an die Zurückgebliebenen. – Und wer weiß, wozu uns das Schicksal gebraucht, was es aus uns machen will. Da hat noch kein Mensch den Schleier gelüftet.«
Mit einer Stimme, über die sie keine Gewalt mehr hat, die allen Jammer wie einen einzigen Todesschrei ausspricht, ruft sie: »Nimm mich mit, auch ich muß sterben!« – und vor ihres Vaters Füßen bricht sie zusammen.
Ahrensee umklammert mit einer Hand krampfhaft die Stuhllehne, und sieht ihr in die jammervollen Augen, die 165 zu ihm in stummer Verzweiflung aufblicken. – Ein krampfhaftes Zittern fährt durch ihren Körper, sie faßt seine Hand, preßt sie an ihre Lippen und drückt Küsse darauf, mit einer demütig leidenschaftlichen Liebe; von ihrem Haar fallen die getauten Tropfen herab, und so wie sie zusammengesunken ist, bleibt sie vor ihrem Vater liegen.
Die verzweifelten Augen ändern ihren Ausdruck nicht – und wie es scheint, versucht sie zu sprechen und kann nicht – – blickt hilfesuchend, schweigt und ringt wieder nach Worten – und wieder – und wieder; aber Worte finden sich für diesen Jammer nicht –.
Sie blickt auf ihren Vater, und da ist es ihr, als werde ihr das Herz zertreten, als stürzte von allen Seiten Entsetzen auf sie ein. Und wieder fährt es ihr durch die Seele, wie die Majunkeschen Kinder an jenem Abend gespielt haben, und in ihrem wirren Kopf ist es, als hätten sie gar nicht gespielt, sondern ihr eine Wahrheit vorgeführt, die sie damals noch nicht kannte.
»Vater, Vater,« flüstert sie mit einer fassungslosen Stimme – »lieber heiliger Gott – behüt' ihn – behüt' ihn!
Vater!« ruft sie flehend noch einmal, und dann preßt sie die Hände wie bittend über ihrem Kopf zusammen – – –:
»Ich bin Mutter.«
Über Ahrensees Gesicht geht es wie eine Totenblässe, seine Augen blicken einen Moment ganz verwirrt und fassungslos. Während Kristine sprachlos vor ihm liegt, ziehen Schreckensbilder über Schreckensbilder an ihm vorüber. Da, als wäre er hellsehend geworden, ist auch das Bild des jungen Ker, seines Gastes, vor ihm aufgetaucht, und es ist ihm, als wenn seine Kristine diesen Ker die ganze Zeit her geliebt hätte.
Jetzt nimmt er wortlos ihren Kopf, legt ihn an sein Herz, schlingt die Arme fest um sie und hält sie so. Seine Augen blicken über sie hinaus wie in die ferne Zukunft.
166 Und dem armen Mädchen, das so in ihrer Ratlosigkeit und Angst einen sichern Hafen in den Armen ihres Vaters gefunden hat, dringen unbezwingbar heiße Tränen aus den Augen, Tränen, die längst schon in übergroßem Jammer erstarrt waren.
Und er läßt sie weinen. Nur der leise Druck seiner Arme zeigt ihr, daß er sie liebt, nach wie vor: das ist, wie er glaubt, die größte Wohltat, die er ihr jetzt tun kann. – Aber was dann?
Der todkranke Mann, der so in aller Stille, ohne irgendeinen Menschen zu belästigen, mit dem Leben ganz nach seiner Weise abgeschlossen und sich für den nahen Tod vorbereitet hat, steht mit einem Male wieder mitten im Sturm des Daseins, und sieht das Liebste, was er besitzt, schwer bedroht.
Das weiß er jetzt, daß sein Leben noch dazu ausreichen muß, um ihr beizustehen!
Er weiß das – er fühlt die Kraft in sich, sein Leben zurückzuhalten, bis sie gesichert ist.
Er hebt ihren Kopf von seiner Brust. – Es ist ihm, als müßte er ersticken. – Wie sollte er – jetzt, in letzter Stunde für sein unglückliches Kind gegen eine Welt kämpfen!
Kristine blickt ihn angstvoll an – sie fühlt seinen liebevollen Arm nicht mehr.
Wie die traurigen Augen eines sterbenden Tieres erscheinen ihm die Augen seines Kindes.
»Nein, mein armes Geschöpf, ich tu' dir nichts« – sagt er tief erregt, »ich will dich schützen.«
»Vater, Vater«, flüstert Kristine leise, wie eine arme, erlöste Seele. »Papachen«, schluchzt sie noch einmal, dann stürzen die Tränen wieder unaufhaltsam.
Die Welt ist ausgeschlossen aus dieser stillen Stube; draußen fällt wieder der Schnee in dichten, wirbelnden Flocken, der Wind stößt gegen die Fenster, heult im Schornstein, braust 167 durch die Wipfel der gewaltigen Bäume unten am dunkeln Ufer der Saale, in deren schwarzes, nächtliches Wasser wieder die Flocken sinken – nach wie vor.
Heute kommt auch Frau Ahrensee nicht; bei diesem Wetter bleibt sie bei dem Enkelchen. Sie weiß ja, wie gut ihr Mann und ihr Kind miteinander hausen, und daß ihr Mann wohl aufgehoben ist.
Kristine liegt immer noch ganz aufgelöst in Tränen vor ihrem Vater, und dieser versteht ganz, was diese Tränen für sie bedeuten.
»Wir bleiben beieinander, Kristine, du bist nicht mehr allein –« sagt er, nachdem eine Zeit verstrichen ist. – »Wir reisen miteinander fort von hier – bald. Wenn du heute schlafen gehst, armes Kind, denke an deinen Vater – und schlaf' ruhiger.«
Kristine macht ihm noch auf der kleinen Spirituslampe seine Tasse Milch und Wasser zurecht, die er des Abends jetzt immer trinkt, und die er auch heute geduldig entgegennimmt mit einem Gefühl, das sich deutlich in seinen Zügen widerspiegelt – er will nichts unterlassen, will seinem Körper nicht das geringste entziehen oder zumuten, denn dieser Körper, den er schon völlig aufgegeben, soll weiterleben – der Mensch, der schon abgeschlossen hatte, soll auf der Todesschwelle wieder umkehren.
Als Heinrich Ahrensee seinem Kinde Gute Nacht sagt, schlingt er beide Arme um ihren Nacken. »Das ist mein unglückliches Kind,« denkt er – »und zu dem stehe ich, solang ein Atemzug in mir ist. – Durch mich ist sie ins Leben gerufen, und wer in aller Welt sollte ihr in dieser Not beistehen, wenn nicht ich? die mir, solang sie lebt, nichts als Glück und Freude brachte – ganz unverdient – und nun, das erstemal, wo sie unglückselig ist und, wie die Welt es nennt, mit Schande beladen – da sollte ich an mich 168 denken?« Er preßt sein Kind an sich. – »Geh nur – geh nur!« sagt er bewegt.
Und sie geht.
Erlösung! Ein Menschenherz hat die Macht, ein anderes zu erlösen! – Das ist eine wundervolle Macht!
So liegt Kristine unsäglich dankbaren Herzens und sieht dem Schlaf fast friedlich entgegen.
Sie ist ja das elende Geschöpf nicht mehr, die Verbrecherin, die vor der Entdeckung ihres Verbrechens zittert.
Sie ist nicht mehr verurteilt!
Von diesem Augenblick an gehören sie und ihr Kind zueinander, und in ihrem Herzen taucht ein freies, starkes Gefühl auf.
Wie ein Licht in tiefer Dunkelheit leuchtet dies Gefühl. Und zum erstenmal seit langer Zeit zieht auch klar und tief bei ihr ein, was ganz von Angst und Seelendruck erstickt war: die Sehnsucht nach dem Geliebten und das Vertrauen zu ihm. Verlassen hat er sie nicht!
Verlassen nicht, das weiß sie, und so schläft sie ein, ein junges Weib, das um den, den es liebt und dem es vertraut, bangt, und das auf ihn hofft.
Seit ihres Vaters Blick so gut auf ihr geruht, ohne Zorn, ist ihr alles Entsetzliche einfacher und ruhiger geworden. 169