Helene Böhlau
Kristine
Helene Böhlau

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Zweites Kapitel

Die Familie sitzt auf der Veranda vor dem Wohnzimmer, der Teetisch ist gedeckt. Der Samowar summt. Es ist nachmittags fünf Uhr.

Frau Ahrensee hält die silberne Kanne unter den kochenden Wasserstrahl.

Das zarte Aroma des Tees, auf den das Wasser niederdampft, erfüllt die Luft.

Zu dieser Stunde tritt Peter Fuhks ein.

Peter Fuhks ist ein weitläufiger Vetter der Ahrensees und Privatsekretär seines reichen Verwandten.

Herr Ahrensee hat die ererbte Reederei, die schon sein Vater, ein eingewanderter Deutscher, begründete, kürzlich aufgegeben, hat sich ganz auf seinen Landsitz zurückgezogen und verwaltet seinen weitläufigen Grundbesitz.

»Nun, lieber Fuhks, was bringen Sie?«

Peter Fuhks verbeugt sich fürs erste außerordentlich achtungsvoll gegen die Damen, gibt einen Brief ab und fährt sich gedankenvoll mit der Hand über den Mund.

Frau Ahrensee bietet ihm eine Tasse Tee an.

»Wissen Sie,« sagt Peter Fuhks auf eine etwas ungeschickte, ungelenke Weise zu Frau Ahrensee gewendet »es ist heute jemand angekommen. Ich bin sehr überrascht und erfreut. – Ich hätte ihn gleich mitgebracht, aber er hatte zu schreiben, zu tun hatte er, zu tun.«

»Wer denn?« fragt Kristine.

»Hab' ich es nicht gesagt?« sagt Fuhks leicht verlegen – »mein lieber Ker ist gekommen.«

»Ihr lieber Ker?« rufen Kristine und Mathilde zugleich. Und Mathilde lächelt ein klein wenig erhaben.

»Jetzt lernen wir Ihr Wunder also kennen?« sagt Mathilde.

79 »Ein Wunder ist er nicht, mein Freund Ker, ich habe dies nie gesagt, soviel ich weiß. Ich möchte ihm nie schaden, man schadet damit, wenn man einen Menschen über die Gebühr lobt.«

Peter Fuhks fuhr sich mit der Hand wieder über den Mund. Das war so seine Angewohnheit, das tat er nach jeder einigermaßen auffälligen Rede, die er zustande brachte.

»Er ist mir vollkommen überraschend gekommen – vollkommen überraschend. Er ist mit dem Schiff aus Petersburg gekommen. Schade, daß ich ihn nicht bringen konnte.«

»Wie ist denn Ihr Freund?« frug Kristine. »Wie soll ich sagen?« sie zögerte, »ist er so wie Sie?«

»Nein, nein.« sagte Fuhks eifrig, »nicht wie ich, gar nicht so.«

»Schade, daß er nicht kommt, ich glaube, er ist eigensinnig.« Diese Worte begleitete Peter Fuhks mit einem wahrhaft trübseligen Gesicht.

»Ich hätte ihn so außerordentlich gern mit Ihnen bekannt gemacht.

Für meinen Briefwechsel mit ihm wäre mir das von größtem Vorteil gewesen.«

Frau Ahrensee lächelte.

»Nun, ist es Ihnen denn nicht möglich, ihn zu bewegen?«

Peter Fuhks aber erschien wahrhaft verstimmt und mochte nur gekommen sein, um seinem Herzen Luft zu machen.

Man sprach Peter Fuhks zuliebe teilnehmend von diesem Thema weiter.

»Er kommt aus Deutschland, von der Universität Jena«, wendete er sich an Frau Ahrensee. »Er kennt Ihre Frau Tochter.«

»Und kommt nicht?« frug sie verwundert.

»Nein«, sagte Fuhks schwermütig.

»Aus Jena?« rief Mathilde. »Ja, da müßte ich ihn doch 80 kennen? – Ihr Wunder? Ker? – nicht wahr? Ker? sagten Sie. Wüßte nicht . . .«

»Dmitri Ker-Asowsky.«

»Was?« rief Fräulein Mathilde, »der ›Fürst‹? der reiche Student? Freilich hab' ich von dem gehört! Meine Freundin hat mir von ihm geschrieben. Er soll ja schauderhaften Aufwand treiben. Zwei Reitpferde! Und der soll Ihr Freund sein?«

»Ja, mein Freund! mein Schulfreund«, sagte Peter Fuhks und strahlte vor Stolz. »Aber«, fügte er, wie für sich sprechend hinzu, »ich glaube, er ist etwas krank. Er spricht nicht, er ist so still.«

»Das ist doch merkwürdig, ihm hier zu begegnen«, meinte Mathilde.

»Eigentlich wohl: nicht begegnen«, sagte Frau Ahrensee, auf Peter Fuhks blickend.

»Ist für mich etwas zu erledigen?« frug er dienstbereit, die Hände reibend, indem er auf Herrn Ahrensee blickte.

»Nein, mein Lieber, solange Sie Ihren Freund bei sich haben, sollen Sie frei sein.«

»Bewahre,« sagte Fuhks, »bewahre, ich werde mich immer einfinden. Er hat ja zu tun, er hat zu tun.«

»Nun,« meinte Herr Ahrensee, »sollte er aber einmal nichts zu tun haben, so vergessen Sie nicht, daß ich keinerlei Ansprüche an Sie mache.«

Peter Fuhks verbeugte sich abermals. »Sie sind sehr gütig«, erwiderte er langsam, verbeugte sich wieder und empfahl sich.

Als er gegangen war, sagte Ahrensee: »Der gute Bursche wollte uns seine Not klagen; er war wie verwirrt vor Freude, als er mir heute morgen schon ankündigte, daß sein lieber Ker gekommen ist – und nun scheint es ihm in allen Ecken nicht recht zu sein.«

81 »Wie kann der liebe Ker«, sagte Mathilde, »Freundschaft für diesen Menschen gefaßt haben? Unbegreiflich!«

»Nichts auf meinen Fuhks, Mathilde«, sagte Ahrensee. »Ihr kennt ihn nicht. Er gibt sich anders als er ist. Er ist verlegen und unbeholfen.«

»Das schadet nichts«, sagte Kristine.

»Hör' einmal,« begann Mathilde lebhaft, »du solltest dich eigentlich revanchieren, du hast ihm neulich seinen dummen Spatz fortfliegen lassen.«

»Mathilde!« unterbrach sie Kristine beinahe schmerzlich, »das war kein Spatz. Das war eine Lerche, ein Männchen, und konnte singen, und er hatte sie sich gekauft, der arme Mensch, und brachte sie voller Freude; aber ich kann es nicht sehen, wenn so ein armes Geschöpf im Käfig sitzt.«

»Spatz oder nicht Spatz«, sagte Mathilde lachend. »Ich bin in der Naturgeschichte nicht bewandert. Goethe kannte auch keine Lerchen. Was meinst du, wenn wir selbst Fuhks mit seinem lieben Ker hierher holten.«

»Willst du das wirklich Fuhks zuliebe tun?« sagte Kristine wie erstaunt.

»Sollen wir's?« wendete sie sich an ihren Vater.

»Wenn ihr meint, ja. Fragt nur unten im alten Warenlager nach Fuhks, er wird in seinem Turme sitzen, oder ruft, er wird euch schon hören.« 82

 


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