Clara Blüthgen
Dilettanten des Lasters
Clara Blüthgen

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266 XVIII.

Seit zwei Tagen war das Opfer des wissenschaftlichen Experiments der Erde übergeben worden.

Dr. Jentsch benahm sich so korrekt wie möglich, er war bei dem Leichenbegängnis zugegen gewesen und bemühte sich nun nach Kräften, die Zukunft der jungen Witwe sicher zu stellen.

Die beiden ersten Tage hatte sie ihn nicht sehen wollen, aber schon bei der Beerdigung, als sie ihn blaß, kummervoll, aber gefaßt, sich gegenüber sah, beruhigte sie sich etwas, noch einen Tag später und sie konnte ganz geschäftsmäßig mit ihm verkehren. Zu der Summe, die ihr vertragsmäßig zukam, legte der Doktor noch die Hälfte zu, damit konnte sie eben auskommen, und da sie von Natur arbeitsam war, und sich voraussehen ließ, daß sie nicht ganz müßig hinleben werde, erschien ihre Zukunft gesichert.

In der Klinik ging äußerlich alles wieder seinen gewohnten Gang. Obgleich das Personal auch über die Operation hinaus zum Schweigen verpflichtet war, wußte mit einemmal jeder, was vorgefallen war, 267 bis in alle Einzelheiten. Man geriet da in eine wunderliche Lage: zwar bewunderte man den Doktor seiner Genialität wegen, aber das Vertrauen war doch leicht erschüttert. Eine Dame, die andern Tages operiert werden sollte, hakte zurück und verließ unter einem Vorwande die Klinik, eine andere angemeldete Patientin schrieb wieder ab.

Ein wenig bestärkte sich das Mißtrauen gegen Dr. Jentsch noch dadurch, daß die Oberschwester noch am Tage der Operation die Klinik verlassen hatte und durch eine ältere Dame ersetzt worden war, die sich offenbar noch recht unsicher fühlte.

Von Vilma hatte Dr. Jentsch seit ihrer Trennung nichts gehört. Zuerst hat er ihr ein paar Briefe und Postkarten geschrieben, doch als er darauf keine Antwort bekommen, ist er verstockt geworden und hat nun auch seinerseits das Schreiben aufgegeben.

Er begreift sie nicht, irgend eine ganz unverantwortliche Laune muß dahinter stecken, aber Launen sind doch sonst ihre Sache nicht –? Eine Lösung findet er nicht, aber er grollt ihr: wie kann sie ihm das anthun – gerade jetzt? Sagt ihr keine Ahnung, wie nötig er sie gebraucht? Und dann mischt sich da noch ein anderes Gefühl ein, verletzte Eitelkeit, daß sie ihn aufgegeben. Das ist das erstemal in seinem Leben, bei andern ist er es gewesen, der den Bruch herbeigeführt hat und meist haben sie es ihm schwer genug gemacht. Bei andern – da ist sie wieder, die Zusammenstellung, gegen die er sich 268 sträubt und die sich immer wieder so ungewollt einstellt.

Er ist inkonsequenter, als es sonst seine Art ist. Er will Vilma aufgeben, sie ganz aus seinen Gedanken ausstreichen – und dabei kommt ihm die Idee, nach Venedig zu fahren, sich dort nach ihr umzusehen. Je mehr er mit der dringenden Arbeit in der Klinik aufräumt, um so mehr reift in ihm der Entschluß, und mit der nervösen Plötzlichkeit, die letzthin seine Entschlüsse kennzeichnet, geht er eines Morgens an die Ausführung. Er hat seine Frau davon in Kenntnis gesetzt, in der Klinik seine letzten Bestimmungen getroffen, Anweisung gegeben, seinen Koffer zu packen – alles genau so, wie vor kaum zwei Monaten.

Als er sich im Reiseanzug vor dem Spiegel sieht, kommt ein frohes Gefühl über ihn. Reisen, frei sein, einmal all das Häßliche der letzten Zeit hinter sich werfen – keine Gedanken will er mehr daran verschwenden, jetzt geht es dem süßesten Ausruhen entgegen. Es soll eine, wenn auch ganz kurze Wiederholung der glücklichen Lidotage werden! Er betrachtet sich noch einmal aufmerksam in dem Glase: Er sieht nicht gut aus, blaß, nervös, wahrhaftig, er ist es auch sich selbst schuldig, daß er reist – – –

»Nun, was giebt es denn noch? Die Postsachen sollen doch bis zu meiner Rückkehr zurückgelegt werden?« sagt der Doktor ärgerlich über die Schulter hinüber zu dem Kutscher, der schon im Ueberrock, für 269 die Fahrt gerüstet, ihm ein großes, amtlich aussehendes Schreiben präsentiert.

»Ich dachte nur, weil der Herr Doktor doch nun einmal noch hier sind – – – vielleicht pressiert's.«

»Es ist gut, Wilhelm – aber halten Sie sich bereit«, er zieht die Uhr, »in knapp zwanzig Minuten.«

Er wiegt das große Kouvert in der Hand. Wahrscheinlich wieder eine von diesen albernen polizeilichen Scherereien, die der Klinikbau ihm so massenhaft bringt. Wie gut, daß man diesen Dingen nun mal auf ein paar Tage entgeht.

Er schlägt den Bogen auseinander. Es ist eine Vorladung vor den Untersuchungsrichter, um über die Umstände, unter denen Beyer-Waldaus Tod erfolgt war, vernommen zu werden, den der Staatsanwalt, wohl infolge einer entstellenden Anzeige, als fahrlässige Tötung ansehen zu müssen glaubte.

Für nächsten Montag war der Termin festgesetzt, heute war es Dienstag.

Das war für Dr. Jentsch ein Schlag, der ihn traf, wie kein anderer.

Mit seinem Gefühl hatte er sich längst abgefunden. Daß eine Operation fehlschlägt, kommt täglich vor, und Beyer-Waldau war ein aufgegebener Mann gewesen; zudem nahm die Sorge für seine Witwe seinem Gewissen den letzten Stachel.

Dagegen die Oeffentlichkeit, die war es, die er fürchtete. Gelangte von seinem Mißerfolg auch nur das Geringste in die Außenwelt, bemächtigten sich 270 die Zeitungen der Sache, so war es um seinen Ruf als Operateur geschehen.

Bisher waren die Gerüchte kaum bis über die Klinik hinaus gedrungen, aber schon die geringe Wirkung, daß zwei Patientinnen sich vor der Operation zurückgezogen, hatte den Doktor mit einer abergläubischen Angst erfüllt. Er kann keinen Zweifel an seiner Vollkommenheit ertragen, das nimmt ihm den Glauben an sich, nimmt ihm die Sicherheit der Hand. Und ist in ihm erst mal der Glaube an seine Unfehlbarkeit erschüttert, so hört auch die hypnotische Kraft auf, durch die er auf andere wirkt.

Er bemüht sich, klar zu denken, nichts zu übertreiben, Assistenten und Wärter werden in der Vernehmung bei der strikten Wahrheit bleiben und dies zeigt ihn als einen Strebenden, der geirrt, aber nicht als einen Ignoranten, der leichtfertig ein Menschenleben aufs Spiel gesetzt hat. Kein Richter der Welt kann, wenn erst alles aufgehellt ist, ein anderes Bild aus diesem Falle gewinnen.

Aber vorher: Eine Stimme wird sich gegen ihn erheben, die der Denunziantin.

Er ist keinen Augenblick im Zweifel, wer ihm dies eingebrockt hat, so rächt sich nur ein Weib in sicherem Gefühl ihrer Unantastbarkeit.

Man kann gegen eine ehemalige Geliebte in keiner Weise vorgehen, sie hat einen ganz in der Hand durch die Vergangenheit. Man kann nicht eingestehen, daß man eine frühere Maitresse zur 271 Vorsteherin einer Klinik gemacht hat, darf sich nicht persönlich mit ihr auseinandersetzen – man kann doch ein Weib nicht schlagen! Ja, wenn der Untersuchungsrichter ihm ihren Brief reicht: Haben Sie irgend einen Verdacht, wer das geschrieben hat? so wird er achselzuckend sagen müssen: ich habe die Handschrift nie gesehen. Ueberall sind ihm die Hände gebunden.

Und sie hat sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht, hat noch am Abend der Operation eine Stelle in der großen chirurgischen Klinik des Professors Kleinschmidt angenommen, zu der sie sich zuvor gemeldet. Der Umstand, daß sie zwei Jahre lang der Krankenstation des Dr. Jentsch vorgestanden, ist ihr ja, auch ohne Zeugnisse, Empfehlung genug!

Es ist eine Komödie – dieses Weib wird gegen ihn aussagen, geschickt und doppelzüngig – und die Justiz wird nur zu gern zugreifen. Nach dieser Aussage wird man die Anklage gegen ihn erheben, das ist sicher.

Das kommt in die Zeitungen, wird weiter entstellt, vergrößert. Der Gedanke schreckt ihn am meisten. Mit seinem Ruf ist's vorbei, er kann irgendwo hin in die Provinz gehen, in einem Landstädtchen seine Praxis ausüben, wo man nichts von ihm weiß – Einer unter Tausenden sein! Und seine Klinik, dieser Wunderbau, der in ein paar Wochen bezogen werden sollte – am liebsten hätte er sie mit dem Fall Beyer-Waldau eingeweiht, so sicher war er seiner Sache gewesen. Das große Unternehmen ist mit 272 fremdem Gelde ins Leben gerufen worden, so viel hat er trotz seiner großen Einnahmen bisher noch nicht zurücklegen können, um ganz aus eigener Tasche zu wirtschaften, aber wenn alles so geht, wie er es sich ausgerechnet, würde die Verzinsung eine Lappalie gewesen sein – nun wird es zweifelhaft, wie er seinen Verpflichtungen nachkommen soll. Geldsorgen! Er hat sie sein Leben lang nicht gekannt –

Und das alles dankt er Einer, die ihn »geliebt« hat! Wie ekel doch das Weib ist!

Plötzlich mitten in diesen Ekel hinein erfaßte ihn eine geradezu überwältigende Sehnsucht nach Vilma. Es war ihm, als müsse sie alles gut machen, was von ihrem Geschlecht Niedriges und Gemeines ausging. Ihre weiche Hand, ihre ganz besondere Gabe des Nachempfindens – was für eine ideale Trösterin müßte sie sein. Er spürt ihren weichen Körper neben sich, den Duft ihres Haares an seiner Wange – – und er kann nicht zu ihr – –

Zwar versteht er wenig vom Gesetz, aber das eine weiß er: Seit einer Viertelstunde ist er ein Gefangener, er darf das Weichbild von Berlin nicht verlassen. Und wenn er auf einen Tag Berlin den Rücken kehrt, kann es als Fluchtversuch angesehen, kann er durch alle Mittel des Gesetzes verfolgt werden.

Er schlug die Hände vor das Gesicht und stöhnte. Seiner Herrennatur, an die sich nie ein Zwang herangewagt hatte, war das Gefühl, nicht mehr zu können, 273 wie er wollte, entsetzlich, er kam sich vor, wie an Händen und Füßen geknebelt.

Als er, an sich niederblickend, seinen Reiseanzug sah, lachte er gallig auf. Den kann er nun wieder ausziehen, mit dem Reisen ist's vorbei – da kann er am Ende noch Gott danken, wenn man ihn überhaupt noch auf freiem Fuße läßt? Er drückte auf den elektrischen Knopf.

»Lassen Sie meinen Koffer wieder auspacken, ich reise nicht, aber es soll angespannt bleiben.«

Der Wilhelm wird sich seine Gedanken über diese Contreordre machen, sie vielleicht in Verbindung mit dem Wisch da bringen? Welche Demütigung – wahrscheinlich nur der Anfang einer ganzen Kette von anderen. Wie gut, daß er wenigstens noch ausfahren darf – – –

Er hat total die Schätzung seiner Lage eingebüßt, übertreibt, argwöhnt. – –

Nun fuhr er zu seinem Rechtsanwalt, einem tüchtigen Juristen, der ihn verschiedentlich bei kleinen Civilsachen vertreten, ihm auch in Angelegenheit des Baues manchen guten Rat gegeben hatte.

Ein wenig beruhigt kam er zurück, denn er hatte wenigstens das erfahren, daß er auf freiem Fuß bleiben werde, daß für eine Anklage nur wenig Grund vorliegen würde, da er ja doch im Einvernehmen mit dem Verstorbenen gehandelt und diesen von der vollen Gefährlichkeit der Operation unterrichtet habe. Freilich, Termine und Verhandlungen würden ihm 274 nicht erspart bleiben und irgend ein Mittel, um die Affaire ganz der Oeffentlichkeit zu entziehen, gäbe es nicht – auch sei augenblicklich nicht zu raten, daß er Berlin verlasse.

Wie zerschlagen warf er sich zu Hause auf das Sopha und brütete mit schwerem Kopfe vor sich hin. Ein paar Influenzaanfälle abgerechnet, war er niemals krank gewesen, selbst Kopfschmerzen und Nervosität waren ihm fremd. Jetzt merkte er ein sonderbares Gefühl von dumpfem Bohren hinter der Stirn, seine Nerven vibrierten. Er horchte auf jedes Zuschlagen der Thüren, mit der dunklen Empfindung von schweren Widerwärtigkeiten, die da hereinkommen könnten.

In diese Stimmung hinein wurde ihm mit anderen Postsachen zugleich ein Brief von Vilma gebracht.

Kann der Zufall so spielen? Dieser Brief gerade jetzt – oder hat seine Sehnsucht die Kraft gehabt, Wunder zu bewirken? Er vergißt vollkommen, daß er diesen Brief seit über vierzehn Tagen täglich und stündlich erwartet hat.

Er legt den Brief auf die Sophalehne und sein Gesicht darauf. Ehe er liest, will er noch eine lang ausgesponnene Vorfreude genießen. Mit einemmale kommt er sich überreich vor: es giebt doch noch ein geliebtes Geschöpf, das, komme, was da wolle, an ihm festhält wie an ihrem Allerheiligsten. Dadurch büßt auch das andere seine Bitterkeit ein. – Daß 275 es doch immer das Weib sein muß, zu dem man sich flüchtet, wenn das Leben auf der höchsten Höhe oder in der tiefsten Tiefe steht!

Langsam und sorgfältig schneidet er mit seinem Taschenmesser das Couvert auf.

»Mein Geliebter – ist es nicht eine Tragikomödie, daß dies Wort, das die Summe des innigsten Fühlens umschließt, zugleich mit dem stärksten Makel belastet ist? Ich bin Deine ›Geliebte‹. Du schenkst mir damit das Süßeste und Köstlichste, was eine Frau von dem Manne begehren kann – und ich bin dafür eine Ausgestoßene – – – Ich, die Künstlerin, die glaubte, sich lachend über die Vorurteile der Welt hinwegsetzen zu können, die sich ihre eigene Moral zurechtmachen wollte, ich gehe zu Grunde, weil – ja, weil ein gefallenes Mädchen mich daran erinnert, daß ich nichts besseres bin als sie. Ich habe einen Brief bekommen aus Berlin, einen häßlichen Brief von einer unbekannten Schreiberin, und er gab den letzten Anstoß. Ich wollte sterben und habe mich im letzten Augenblick besonnen, weiter zu leben – ich bin eben nur eine ›Dilettantin des Lasters‹.

Das Wort stammt von dir, Liebster. Wirst Du Dich daran erinnern? Es war an jenem Abend, als ich krank war und Du mit Lotte Rienacker kamst, um mir deine ärztliche Hilfe aufzudrängen. Der Abend, der über mich entschied. Unser erster Kuß, erinnerst Du Dich wohl?

276 Ich hatte allerlei phantastische Gedanken: Wenn ein Weltuntergang vor der Thüre stände, ob uns das wohl das Recht und auch den Mut zur Sünde geben würde? Ja, sagte ich mir, und dachte bei dem Weltuntergang nur an die Vernichtung meines armen kleinen Ichs, das mir dennoch so wichtig ist, daß ich glaube, die Sonne müßte aufhören zu scheinen, die Wagen auf der Straße aufhören zu rollen, wenn ich nicht mehr wäre!

Ich sagte es Dir: der dumme Todesgedanke, den ich geradezu in mir gezüchtet, erschien mir wie ein Freibrief, um mir nun auch kecklich mein Teilchen Erdenglück zu nehmen. Auch Dir wollte ich geben, was ich zu geben hatte. Nehmen und Geben fließt ja bei uns Frauen so untrennbar zusammen, was wir für uns wollen, ist ja schließlich nur das, was aus unserem Geben hervorwächst.

Ich bin glücklich gewesen, nein überselig, daß ich meine ganze unverbrauchte Liebesfülle Dir geben durfte, mein Geliebter. Die schrecklichste Frauentragödie ist mir erspart geblieben, all das ungenützt ins Grab nehmen zu müssen.

Diese glücklichen Tage auf dem Lido, diese stillen Abende! Alles Schönheit, wunschloser Frieden, ein großes, stilles Glück.

Aber ein Glück, das nicht für die Dauer aufgebaut war, dem von vornherein als Grenze die strengste Sühne gesetzt war. Nur in diesem Gedanken konnte ich Dir das sein, was ich war: Deine Geliebte.

277 Den Tagen auf dem Lido hätte ein Zurückkehren in die Welt folgen müssen. Entweder Du wärest meiner überdrüssig geworden, oder wir hätten uns weiter in Berlin gesehen und wären über kurz oder lang entdeckt worden.

Ich kenne mich. Alle die kleinen Demütigungen: hier ein Uebersehen, dort ein offenes Verleugnen, dann wieder eine gönnerhafte Duldung, würden über meine Kräfte gegangen sein, denn meine Natur, die nach Großem verlangt, ist dennoch sensibel, ängstlich, und nur groß in der Kraft der Leidempfindung. Ich würde ungerecht geworden sein, Dich verantwortlich gemacht haben. Und ich wollte doch mein Diadem stolz und in der Stille tragen: Deine Geliebte.

Ich bin nur eine Dilettantin in allem, aber eine von jenen unglücklichen, ich möchte sagen aristokratischen Dilettantinnen, die sich ihres Unvermögens bewußt sind und darunter leiden. Ich will auf schneebedeckten Gipfeln stehen – und die Füße werden mir müde, wenn ich eine halbe Stunde gewandert bin. Ich will die Mauern des Hergebrachten einreißen – und höre damit auf, wenn mir ein Fingernagel splittert. Immer bleibe ich auf halbem Wege stehen, und da, wo ich einmal den Mut hatte, bis ans Ende zu gehen, kam die Reue nach.

Ich bin damit nichts besonderes, nur eine von einer ganzen Kategorie, der kleine Teil einer großen Zeiterscheinung. Wir sind alle für den Konflikt geboren, wir wollen mit dem Kopf durch die Wand, 278 aber unser Schädel ist nicht hart genug dafür. Wir wollen, wollen, wollen und reiben uns auf, ehe wir etwas erreicht haben. Wir haben nicht die Kraft, still und groß zu verzichten, und nicht die Kraft, der Welt ins Gesicht zu schlagen, um unsere selbstgeschaffene Moral zu vertreten.

Uns ist es am besten, zu Grunde zu gehen, denn wir passen nicht in die Zeit, wie sie jetzt noch ist. Aber wir haben dennoch eine Mission, wir sind dazu da, um vorzubereiten, unser Herzblut und unsere Thränen düngen vielleicht den Boden für eine neue Saat.

Gieb Dir keine Mühe, zu erfahren, was aus mir geworden ist, vielleicht, daß ich es doch noch ausführe, vielleicht, daß mir wieder im entscheidenden Augenblick der Mut versagt. Für Dich bin ich tot. Du erfährst nichts wieder von mir. Dieser Brief bleibt vierzehn Tage in der Villa Laguna liegen, damit ich nicht mehr aufzufinden bin, wenn Du ihn erhältst. – Wärest Du unglücklich, verzweifelt, dann möchte ich bei Dir sein, Dir zum Trost, und meinen Kopf hochtragen. Aber Du gebrauchst mich nicht, ich bin nur ein hübscher Schmuck Deines Lebens gewesen. Du hast Deine Wissenschaft und jetzt Deine Operation. Sie wird glücken, möglicherweise ist es schon geschehen. Dein Stern wird aufsteigen, immer höher und höher – ich aber drücke mich beiseite, ehe unsere Liebe sich überlebt hat.

Vilma.«

279 Als Dr. Jentsch geendet hatte, blieb er ein Weilchen regungslos. Dann faltete er die Blätter sorgfältig zusammen, schob sie ins Couvert und steckte den Brief in die Brusttasche.

»Schlag auf Schlag!« sagte er. »Was bleibt jetzt noch übrig?«

Er dachte an die Person, der er auch dies dankte – giebt es kein Mittel, nichts, nichts, um sie zu züchtigen? Er knirschte mit den Zähnen und für eine Minute glitten allerlei extravagante Rachemöglichkeiten durch sein Gehirn.

Im nächsten Augenblick war er damit fertig. Das mag der Zukunft überlassen bleiben. Vilma, das ist jetzt das einzige.

Daß er jetzt festsitzt – ein Gefangener – hat sich denn alles gegen ihn verschworen! Er müßte sie suchen, ihre Spur vom Ausgange an verfolgen – Der Brief ist ja thatsächlich vierzehn Tage alt, welchen Vorsprung wird sie gewonnen haben, mit jeder Stunde mehr gewinnen. An die Wiederholung eines Selbstmordversuches glaubt er nicht.

Einen Augenblick kommt ihm der Gedanke, doch zu reisen, alles zu riskieren – aber das ist ja unmöglich, er kann nicht seine Ehre als Arzt aufs Spiel setzen, um seiner Geliebten nachzujagen.

Niemals hatte er Männerfreundschaften gepflegt, selten nur das Bedürfnis nach einer Aussprache empfunden.

Selbst nach der Operation hatte er sich bei einer 280 eingehenden Erörterung des Falles mit Dr. Stephany auf das rein Aerztliche beschränkt und einen Trostversuch seiner Frau eisig abgelehnt.

Jetzt verlangte er nach Mitteilung, nahm alle diejenigen durch, die ihm näher standen. Das Verrückteste erschien ihm möglich: einen Augenblick dachte er sogar an Ella, ihre Duldsamkeit war gerade so groß wie ihre Liebe – wenn er zu ihr ginge?

Natürlich verwarf er den Gedanken sofort wieder, man bettelt nicht bei einer Frau, die man täglich und stündlich verletzt.

Zuletzt blieben seine Gedanken auf Lotte Rienacker haften. Wenn irgend jemand Verständnis für seine Lage hatte, so war sie es. Sie war Vilmas nächste Freundin, Vilma hatte ihm erzählt, daß sie Lotte noch an deren Hochzeitsabend verraten hatte, wie sie zu ihm stände. Vielleicht, daß sie von Vilmas Plänen wußte, sogar eine Nachricht von ihr besaß.

Da fällt ihm ein, daß selbst eine Fahrt von Berlin nach Quedlinburg über das hinausgeht, was ihm jetzt gestattet ist. –

So blieb ihm denn nichts übrig, als der Frau Oberlehrer zu schreiben.


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