Clara Blüthgen
Dilettanten des Lasters
Clara Blüthgen

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65 III.

So übernächtig und abgespannt wie heute hatte Martha Ihring sich selten gefühlt, sie hatte das Gefühl, sich nicht auf den Füßen halten zu können, aber die Arbeit drängte.

Diese Nacht war sie erst sehr spät zu Bett gegangen, und auch dann hatten die verworrenen Sezessionslinien ihrer Stickerei sie bis in den Schlaf verfolgt. Es war ihr zu Mute, als würden alle diese langgezogenen, ineinander verschlungenen Linien mit den sonderbaren Verdickungen, den eigentümlichen Ausladungen zu den Fangarmen eines riesenhaften Polypen. Sie streckten sich nach ihr aus, klammerten sich um ihre Stirn und preßten sie zusammen, und das Sonderbarste war, daß der Schmerz, den sie verursachten, wiederum Gestalt annahm, daß er genau wie eine Photographie dieselben Formen wiederspiegelte, die die Arbeit gezeigt hatte. Wie zerschlagen fuhr sie aus dem Schlaf auf, als das Mädchen sie morgens weckte.

Ein übertrieben ernsthaftes Arbeiten war ihre 66 Art, jede größere Arbeit wurde nur unter Qualen geboren. Wenn der Entwurf zu einem Wandschirm, einer Flügeldecke sie beschäftigte, so kostete es ihren Appetit, den Schlaf ihrer Nächte, bis die Idee in Form und Farbe deutlich vor ihr stand, und noch während der Ausführung, wenn an dem Ganzen nichts mehr zu ändern war, quälte sie die ständige Angst, sich am Ende dennoch vergriffen zu haben. Sie faßte dann nicht, daß es außer ihrer Arbeit etwas interessantes in der Welt geben könne, war nervös gereizt und Lotte Rienacker hatte böse Tage bei ihr. Allerdings war das Resultat dieser Mühen gut: sie gehörte mit zu den Ersten ihres Faches, ihre Arbeiten standen ziemlich hoch im Preise.

Diese Nacht hatte sie die letzte Hand an eine Chaiselonguedecke in Applikationsarbeit gelegt, ein Prachtstück, das viel Mühe und Kopfzerbrechen gekostet hatte. Für die mechanische Arbeit hatte sie eine Stickerin zur Hilfe genommen, die allerdings auf eine Weile dieses Mädchenheim recht ungemütlich machte, dafür aber nervenlos mit der Ausdauer einer Maschine arbeitete. Die letzte Ausführung, eine feine Abtönung, fast eine Tuscharbeit mit der Nadel, hatte ihr aber niemand abnehmen können, und die halbe Nacht hindurch war sie, durch starken Thee mühselig aufrecht erhalten, thätig gewesen, um heute das Stück an die Bestellerin abliefern zu können.

Nun war Martha Ihring dabei, die fertige Decke zu plätten – auch das war ein Kunststück, das 67 man keiner Söldnershand anvertrauen konnte. Auf ein paar Böcken waren die Einlegebretter des Speisetisches gebreitet und mit einer Friesdecke belegt; es roch dunstig und flau nach dem glühenden Bügeleisen und dem angefeuchteten Wollstoff.

Verdrießlich steckte Lotte Rienacker, mit dem Nachthemd und darüber einen lose übergeworfenen Morgenrock angethan, den Kopf durch die Thüre. Auch sie sah überwacht aus und hatte Ringe um die Augen: hatte sie doch gestern Abend im Auftrage ihrer Zeitung das Promenadenkonzert im Reichstagsgebäude besucht und nach ihrer Rückkehr um Mitternacht noch den bestellten Bericht darüber geliefert. Das Mädchen hatte ihn frühmorgens in den Postkasten befördern müssen – Lotte hätte es sich ganz gut gönnen können, länger in den Tag hinein zu schlafen.

»Dein abscheulicher Plättgeruch ist bis in das Schlafzimmer gezogen und hat mich geweckt. Ich habe einen ganz benommenen Kopf davon – bist du nicht bald fertig?« sagte sie ein wenig ärgerlich.

Martha schob einen anderen Teil der Decke über das Gestell und führte mit Kraft das Eisen über den Stoff. »Ich bitte dich, treibe mich nicht noch, das macht mich nervös. Ich hetze mich gewiß schon selbst genug ab.«

»Wie lange bist du wieder aufgewesen, Martha?«

»So bis gegen vier, glaube ich. Und du?«

»Es war wohl halb drei, als ich mich hinlegte. 68 Ich war so müde, daß ich wie ein Droschkengaul im Stehen einschlief. Das wird wieder ein famoser Bericht geworden sein – ist er übrigens expediert?«

Martha nickte, indem sie weiter plättete.

»Mußte deine dumme Decke eigentlich heute fertig sein?«

»Ja, sie mußte. Heute ist doch der Geburtstag von Frau von Renners Mutter, die sie haben soll – wenn es nicht eine Erfindung ist. Nach meiner Meinung ist es aber kein Geburtstag der Welt wert, daß man sich danach in einer solchen Verfassung befindet wie ich.« Sie warf einen Blick auf die Uhr ihr gegenüber: »Himmel, es ist die höchste Zeit, in einer Viertelstunde kommen die Mädels. Gott sei Dank, daß ich glücklich fertig bin, Emma muß gleich mit der Decke abgehen, und du, Lotte, mußt mir hier helfen.«

»In dieser Toilette? – Nun, denn man zu.«

Während Martha ein paar Worte auf eine Visitenkarte warf und dann hastig die Decke in Papier packte und verschnürte, kramte Lotte, die wenigstens nun in Pantoffeln geschlüpft war und die Schnur des Morgenrockes um ihre Taille gebunden hatte, aus den Zimmerecken Stickrahmen mit angefangenen Arbeiten, Aquarellkasten und Arbeitskörbe hervor und begann, alles aufzustellen.

»Heute kommen wohl die üblichen sechs?« fragte sie aus einer Ecke hervor, aber Martha hatte schon mit ihrem großen Packet das Zimmer verlassen, und 69 man hörte, wie sie draußen das Mädchen zur Eile antrieb.

»Iß wenigstens etwas Fleisch und trink' ein Glas Wein – wie willst du es denn sonst aushalten?« mahnte Lotte die wieder eintretende, indem sie den letzten Stickrahmen zurecht rückte.

Aber schon schlug die Korridorklingel an, die erste Schülerin erschien und Lotte flüchtete mit Hinterlassung eines Pantoffels ins Schlafzimmer.

Sie machte langsam Toilette, zog sich dann aber den Schlafrock wieder an. Ihre Bewegungen waren schwerfällig, ihr Gesicht zeigte noch immer den verdrießlichen, aus Uebermüdung herrührenden Ausdruck. »Wenn man doch mal sieben Tage und sieben Nächte hintereinander schlafen könnte, wie die Siebenschläfer«, murmelte sie. »Was das für ein Gefühl sein müßte, einmal nur wirklich ausgeschlafen zu sein.«

Neben ihrer Kaffeetasse fand sie die eingelaufene Korrespondenz: den Prospekt eines Institutes, das sich zur Vervielfältigung von Manuskripten durch die Schreibmaschine anbot; das Schreiben einer unbekannten Dame, die von Lotte wissen wollte, wie man es anfinge, Manuskripte möglichst gut abzusetzen; die Bestellung einer großen Provinzzeitung auf einen hauptstädtischen Plauderbrief, Lottes Spezialität, in der sie einigen Ruf besaß; schließlich das Manuskript einer Novelle, das von einer Redaktion zurückgeschickt wurde. Es war eine Arbeit, die Lotte sich mühselig zwischen ihrer Journalistenthätigkeit abgerungen hatte, 70 eines von jenen Schmerzenskindern, denen der Verfasser ein Stück des eigenen Lebens geopfert hat, auf das er die größten Hoffnungen setzt und das meist bei den Redaktionen so wenig Liebe findet, weil die Persönlichkeit des Autors darin allzu stark spricht. Schon das fünfte Mal war es, daß die Schriftstellerin ein Wiedersehen mit ihrem Manuskript feierte. Indem sie einen Schluck Kaffee trank, buchte sie das zurückgekommene Manuskript und schrieb im Stehen ein paar Postkarten. Dann setzte sie sich ernsthaft an dem Schreibtisch zurecht, um mit der Arbeit anzufangen – aber die Gedanken versagten ihr.

Wie dieses Leben, das sie führte, doch den ganzen Menschen zerstückelte und aufrieb, diese Hetze von einem Vergnügen, von einer neuen Bildungs- oder Wohlthätigkeitseinrichtung zur andern, um darüber zu schreiben – eine Reporterschreiberei, durch einige gemacht geistreiche Wendungen aufgehübscht. Wie das Gehirn dabei ausgepreßt wurde, bis auf den letzten Tropfen – und man hätte es doch vielleicht noch einmal nötig, um etwas anderes zu schreiben, als diese Artikelchen, in die am andern Tage schon in den Grünkramhandlungen Möhren und Kohlköpfe gewickelt wurden.

Lotte hatte mit ein paar Novellen debütiert, die zwar freundlich aufgenommen, aber schlecht honoriert worden waren, jetzt war sie, weil sie für ihren und zum Teil auch der Schwester Unterhalt schreiben mußte, ganz in die Journalistencarriere 71 hineingeraten, aber ihr Ehrgeiz lief darauf hinaus, ein einziges Mal einen größeren Roman zu schreiben, etwas, worin sie sich selbst ganz geben könne, etwas von bleibendem Wert. Das verbot sich aber durch eins: es fehlte ihr sozusagen an Betriebskapital, sie lebte aus der Hand in den Mund und durfte sich nicht erlauben, etwas zu schaffen, dessen Verwertung zweifelhaft und auf jeden Fall langausschauend war. In Stunden aber, wenn die Feder in ihrer Hand nicht recht für die Brotarbeit gehorchen wollte, dann komponierte sie an diesem Zukunftsroman, legte sich die Situationen zurecht, stattete die handelnden Personen mit allerhand individuellen Zügen aus – – –

Zuweilen wurde die Unterhaltung der sechs Mädchen im Nebenzimmer so laut, daß Lotte aus ihrer Gedankenwelt aufgerüttelt wurde, dann kam auch Martha einmal hereingesaust, hastig wie immer: »Leih mir mal deinen Klebegummi, wir haben Applikationen aufzukleben, meiner ist alle«, oder: »Hast du die letzte Nummer des ›Studio‹ nicht gesehen? Es war ein famoses Muster zu einem Wandbehang darin« – – – Zuletzt kam Vilma Sommer, etwas außer Atem von den drei Treppen und ganz auf dem Sprunge zwischen zwei Klavierstunden. Nun hatte der Zukunftsroman für heute sein Ende gefunden.

»Du mußt mir helfen, Lotte. Ich weiß noch immer nicht, was für ein Kostüm ich für das Künstlerinnenfest nehmen soll. Aber nichts allzu Aktuelles. 72 Weißt du noch, wie ich das letztemal als ›Rautendelein‹ unter sieben anderen Rautendeleins dort war?«

Lotte besann sich einen Augenblick. »Borge dir doch Mia Bernhardts Siebenbürgener Kostüm, mit den schönen Stickereien«, schlug sie dann vor.

»Das wird sie aber selbst benutzen wollen?«

»Wo denkst du hin, das hat sie längst verwachsen, seitdem sie ihre imponierende Fülle angesetzt hat. Sie leiht es dir sicher.«

»Nein«, sagte Vilma nach einem Moment der Ueberlegung. »Eine Siebenbürgenerin mit meiner Dantenase – das geht nicht. Es wäre jammerschade um das schöne Kostüm.«

»Wir wollen Martha fragen; in allen praktischen Dingen und wenn es gilt, verborgene Schätze auszugraben, ist sie uns himmelweit über«, entschied endlich Lotte.

Martha erschien, mit Händen wie ein Färber und recht ärgerlich über die Störung. Sie hatte soeben für eine Schülerin an einem Panneau, das später in Stickerei ausgeführt werden sollte, einer sezessionistischen Ideallandschaft, den Himmel mit einem selig leuchtenden Blau angelegt und ihrer Finger dabei nicht geachtet. »Nun aber fix, lange wollen die da drinnen mich nicht entbehren.«

Der Fall wurde ihr vorgetragen und sie wußte sofort Rat: Betty Strauß, eine junge Opernsängerin, besaß ein entzückendes Kostüm des Cherubim, das würde man ihr wohl abluxen können. Sie selbst 73 wollte versuchen, sie für diesen Zweck heute Abend im Frauenklub zu treffen. »Natürlich müssen Sie ein Hosenkostüm tragen, Vilma, es wäre ja eine Sünde, wenn Sie Ihre bezaubernde Schlankheit unter Röcken verdecken wollen, nicht wahr? Und für die Gruppe der ›Straßenjungen‹ wie die der ›griechischen Jünglinge‹ im Festzuge werden Sie auch angeworben.«

Ein bischen sträubte sich Vilma gegen diese Jünglingsrollen, dann gab sie nach und zum Dank versprach Martha, ihr das Cherubimkostüm womöglich nicht nur für das Künstlerinnenfest, sondern auch für die ganze folgende Woche zur beliebigen Benutzung verschaffen zu wollen, denn: »natürlich wird man uns hinterher, wo man uns gebrauchen kann, wieder mächtig einladen.«

Nach den Erfahrungen früherer Jahre war das ziemlich sicher. In gewissen Sonderkreisen der Finanz, der Künstlerschaft und der Aristokratie machte sich in den letzten Jahren eine starke Bevorzugung des Ewigweiblichen bemerkbar. Frauen, die ihre Männer durch den Tod oder auch auf andere Weise verloren hatten, Frauen, die gesellschaftlich auf anderen Pfaden gingen als ihre Männer, betrieben eine ausgedehnte Frauengeselligkeit als Sport, eine Geselligkeit, bei der man rauchte, trank, auch wohl ein Spielchen machte und in allen möglichen Künsten dilettierte. Sie zogen jüngere Künstlerinnen heran, Schauspielerinnen, Sängerinnen, Musikerinnen, Schriftstellerinnen, die die Kosten der Unterhaltung bestritten. Mitleidige 74 Männerverachtung war auch hier die Parole, sowohl bei jenen, die vom Manne übersättigt waren, wie bei jenen, die den Mann kaum kannten. Jedenfalls bewiesen sie durch die That, daß man sich auch ohne Männer prachtvoll amüsieren könne.

»Wenn ich Vilmas prärafaelitische Schlankheit hätte, wüßte ich, was ich thäte«, sagte Lotte. »Dann ging ich einfach als Knut Erikson und kopierte das Jüngelchen von der Stirnlocke bis zur großen Zehe. Davon könnte ich mir einen herrlichen Effekt versprechen – schade, daß ich etwas zu viel Hüften habe.«

Sie sah vor sich hin, dann schlug sie kräftig mit der Hand auf die Tischplatte. »Kinder, ich habe es – wißt ihr was? Ich werde als dressierter weißer Pudel gehen, und mich sehr gebildet betragen.«

Die beiden anderen lachten.

»Lacht nicht, Kinder, es ist mir blutiger Ernst. Es steht bei mir fest: als weißer Pudel. Das ist doch noch mal etwas Neues, ihr sollt mal sehen, wie ich tanze und Taschentuch apportiere – großartig! Uebrigens: die Sache ist symbolisch. Wenn wir zu unsern Kommerzienrätinnen gehen, was sind wir da anders als dressierte Pudel, die auf Verlangen über den Stock springen und schön machen?«

»Oho!« – »So schlimm ist's doch wohl nicht.«

»Doch so schlimm ist's. Du, Martha, bist nichts anderes, wenn du ihnen aus ihren haarsträubenden Wandschirmen und Dekorationsshawls eine 75 »gemütliche Ecke« zusammen baust, und du, Vilma, erst recht nicht, wenn du dein wundervolles Talent zu ihrer Unterhaltung hergiebst. Schämen sollten wir uns alle mit einander.«

Die Thür öffnete sich ein wenig und ein hochfrisierter Mädchenkopf blickte hindurch: »Ach bitte recht schön, liebes, süßes Fräulein Ihring, ich kann mit meiner Iris ohne Sie absolut nicht weiter«, und Martha folgte der Mahnung ganz gehorsam.

»Ist es dir wirklich mit der Pudelidee Ernst, Lotte?« fragte Vilma ungläubig.

»Vollkommener, heiliger Ernst. Hast du etwas dagegen einzuwenden, du Moralistin?«

»Ich dachte an deinen Richard. Ich kann es mir für einen Mann nicht gerade angenehm denken, wenn seine Braut eine derartige Rolle spielt – –«

Lotte schnitt eine Grimasse. »Du weißt, daß mir immer nur Sonntags Zeit bleibt, an meinen Richard zu denken, und heute ist Dienstag«, sagte sie ein bischen verstimmt. »Was macht es ihm aus, womit ich hier mich und die anderen amüsiere? Außerdem sind wir ja nur Damen unter uns. Nun aber zur Sache.« Sie rückten näher zusammen.

Für eine Viertelstunde schien es, als ob die beiden Mädchen keinen anderen Lebensberuf hätten, als für die Verschönerung des »Künstlerinnenfestes« zu wirken, dieses großartigen Kostümfestes, das die Berliner Künstlerinnen seit ein paar Jahren nach dem Vorbilde ihrer Münchener Kolleginnen veranstalten. Nur 76 »Damen unter sich«, aber dennoch eine Menge von Pseudoherren, in ihrer Erscheinung und ihren Allüren oft von verblüffender Echtheit, die rauchen, trinken, Cour schneiden, eine Komödie heißesten Liebeswerbens aufführen – Mädchen, die diesem Werben begierig lauschen, die sich von einem solchen Männerarm umfassen, auf ein Männerknie willig niederziehen lassen. Die Illusion feiert hier ihre Orgien. Es ist möglich, alles Versagte wenigstens in der Imitation zu genießen. Was als ein harmloses, süßes Spiel beginnt, wandelt sich im Verlauf des Festes zu einem pikanten Reiz, der noch anderen Tages als bitterer Nachgeschmack zurückbleibt. Es ist die Apotheose der Idee, daß das Weib den Mann entbehren könne – zugleich aber das unfreiwillige Eingeständnis, daß es mit allen Fibern nach ihm verlangt.

Fast hätte Vilma bei all dem Wichtigen ihre Klavierstunde verplaudert – noch im letzten Augenblick sah sie auf ihre Uhr, dann stürzte sie wie gejagt davon.


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