Clara Blüthgen
Dilettanten des Lasters
Clara Blüthgen

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252 XVI.

Es giebt Ereignisse, die, ehe sie eingetreten sind, die Umgebung unter Druck nehmen. Man weiß nichts Genaues darüber, man fühlt nur, es geht etwas davon aus, wie eine schwere Luftwelle, die das Atmen erschwert und das Herz bang macht. Man fühlt es herannahen, wie etwas Tragisches – weil man nichts Sicheres weiß, beschäftigen sich die Gedanken nur um so stärker damit, das Gerücht beginnt zu arbeiten – – –

Seit fast zehn Tagen wußte man in der Klinik des Dr. Jentsch, daß etwas ganz Besonderes sich vorbereite.

Wie in jeder Klinik galt es auch hier als Gesetz, von einem Krankenzimmer so wenig wie möglich in das andere dringen zu lassen. Aus den Wärtern und Schwestern war nichts herauszubringen; es sah ganz so aus, als ob alles im gewohnten Geleise hingehe, alle Kranken tapfer der Genesung zuschritten. Und dennoch war etwas von dem Absonderlichen, das im Werke war, durchgesickert.

253 Die Kranken flüsterten davon in ihren Betten, die Rekonvaleszenten, wenn sie sich im Korridor trafen. Am besten war man aber in der Polyklinik unterrichtet, hier hatte sich um das Bevorstehende schon ein ganzer Legendenkreis gebildet.

Seit acht Tagen befindet sich ein neuer Patient in der Klinik, auf den man etwas neidisch sein darf. Er ist nicht bettlägerig, aber er wird ganz abgesondert gehalten und gepflegt wie ein König.

Dr. Jentsch ist oft stundenlang bei ihm, und wenn er sich dann endlich seiner anderen Patienten erinnert, so ist er nicht ganz bei der Sache. Zwar versäumt er nichts, er hat die Krankengeschichten mit allen Symptomen, allen kleinen Zwischenfällen im Kopf wie nur je, dafür ist er eben Dr. Jentsch, aber man merkt es ihm trotzdem an, daß ihm dies jetzt nicht so wichtig erscheint wie früher. Wer ist dieser geheimnisvolle Kranke? Was will der Doktor mit ihm anfangen?

Man ist entsetzlich neugierig in einer solchen Klinik, diese Neugier durchdringt Wände. Von der Außenwelt erfährt man wenig, da sind die inneren Vorgänge doppelt interessant. Die Neugier ist mit Nervosität, mit Grauen gemischt, man giebt sich ihr freudig hin, weil sie von dem eigenen Zustande ablenkt.

Dr. Jentsch selbst hat keine Ahnung davon, daß, wenn er seinen Rundgang durch die Krankenzimmer macht, so und so viele Augen auf seiner Stirn zu 254 lesen suchen: Ist es heute soweit? – und wenn er's wüßte, würde es ihm nichts ausmachen.

Ist es so weit? das fragt er sich selbst immerzu, in kühler, kritischer Betrachtung des Falles und doch wieder in fiebernder Ungeduld. In diesem besonderen Falle läßt sich eben kein Termin für die Operation feststellen, es heißt beobachten, den Körper des Kranken, die eigene Macht über den Kranken ganz genau kennen lernen.

Selbst bis in des Doktors Privatwohnung war das Gerücht gedrungen. Und merkwürdig, diese junge Frau, die es von Anfang ihrer Ehe an gewohnt gewesen ist, immer beiseite geschoben zu werden, die eine Toleranz, die an Stumpfheit grenzt, hat erlernen müssen, wird hiervon mehr wie von irgend einer früheren Zurücksetzung gepackt. Ihres Gatten lange italienische Reise hat sie in ohnmächtiger Ruhe ertragen, sie ahnt, daß er ihr untreu ist, es ist nicht das erstemal, aber es kränkt sie nicht so tief wie dies, daß er nicht ein Wort von dem, was ihn doch ganz beschäftigen muß, zu ihr spricht.

Und eines Tages, bei Tisch, als er die kurze Pause zwischen zwei Gängen benutzt, um eine ärztliche Zeitung zu durchfliegen, sagt sie es ihm.

Er ist sehr erstaunt. Es könnte ihn nicht mehr verwundern, wenn ein Bewohner anderer Welten plötzlich verlangte, an seinen Interessen teilzunehmen. Es ist ihm fatal, daß die kleine Frau, die er bisher so selbstverständlich übersehen, versucht, sich in seine 255 Angelegenheiten zu drängen, und um sie in bequemer Weise abzufertigen, steht er auf, küßt sie auf die Stirn und sagt: »Das mußt du mir schon verzeihen, Ella. Es ist nun mal nicht Männerart, von Berufssachen zu sprechen, ehe sie reif sind. Sieh, das ist wie eine Art Jägeraberglaube, als bringe das kein Glück. Wenn alles vorüber, nimmst du an deines Doktors Ruhm teil, freu dich darauf« – damit mag sie sich einstweilen begnügen.

Aber sie begnügt sich nicht damit, sondern ergreift seine Hand und drückt sie gegen ihr Herz. »Alles könnte ich ertragen, Felix, aber behandle mich nicht ganz als Null«, sagt sie aufgeregt.

Eine Szene! Das fehlt ihm, gerade jetzt, wo er Ruhe und einen klaren Kopf nötiger braucht als je. Bisher hat er nicht unter Szenen zu leiden gehabt. Nun ist es ihm ernsthaft zu Sinne, als ob die Mitwissenschaft seiner Frau ihn irritiere.

Deshalb lieber ein schneller Entschluß.

Als Dr. Jentsch abends noch einmal bei Beyer-Waldau vorspricht, liest dieser ihm sofort vom Gesicht ab, was ihm selbst bevorsteht.

»Nun, soll die Hinrichtung im Grauen der Nacht vor sich gehen, oder habe ich noch Zeit bis morgen? Vermutlich kommen Sie als Seelsorger, der mich erst vorbereiten will?«

»Ich hoffe, ich komme Ihnen als Helfer, der Sie durch das dunkle Thor hindurch zu einem Leben der Gesundheit führen wird«, erwiderte der Doktor 256 mit seiner schönen überzeugenden Stimme. »Mut, lieber Freund, was die ärztliche Kunst für Sie thun kann, wird geschehen; ich hoffe bestimmt, daß wir Sie noch mal zu einem ganz gesunden Manne machen werden, der noch viele gute Jahre vor sich haben soll.«

»Na, hoffen wir das beste, Doktor, es liegt ja in Ihrem eigenen Interesse, daß Sie Ihre Sache gut machen. Kann man sich nicht wenigstens noch mal mit einer Flasche Portwein Mut für morgen antrinken? So eine nette kleine Henkersmahlzeit, was, Doktor? Aber nicht allein; meine kleine Frau könnten Sie mir wohl noch auf ein paar Stunden erlauben – nur zum Abschiednehmen?«

»Nichts da«, sagte der Doktor heiter. »Sie dürfen sich nicht aufregen und müssen fasten in jeder Weise, bis die Operation vorüber ist. Hinterher, eine Weile später, aber sollen Sie haben, was Sie mögen. Hinterher – das ist ein gutes Wort. Ich bin meiner Sache so sicher, als wäre schon alles vorüber.«

Er lächelte fröhlich und ermutigend und reichte dem andern die Hand zum Abschiede, die dieser heftig drückte. »Sie sorgen für meine Kleine? Auf jeden Fall? Ich kann mich darauf verlassen?«

Nachdem der Doktor gegangen, verließ Beyer-Waldau die Fassung. Eine Weile saß er am Tisch, den Kopf in die Hände vergraben und brütete vor 257 sich hin, nun wirklich wie ein Verurteilter. Dann ergriff er Feder und Briefpapier und schrieb, bis der Wärter ihn mit einem Machtspruch ins Bett trieb.

»Daß mir der Brief auf jeden Fall noch heute Abend in den Kasten kommt – hören Sie wohl?« sagte er.


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