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Es war gerade drei Tage her, daß die Prätorianer den Kaiser in den Gärten des esquilinischen Palastes erdrosselt, durch die Stadt geschleift und den zerfetzten zerstümmelten Rumpf in den Tiber geworfen hatten, als Augaros der Nichtstuer mit seinem marsylischen Gaste, dem jungen Silius Messala, die Landstraße gegen Tibur hinausfuhr, wohin sie eine Einladung zu einem nächtlichen Feste im Lusthause des Mimen Comazon hatten, der unter dem früheren und dem toten Kaiser fünfmal Konsul und so glücklich gewesen war, immer mit dem Leben davonzukommen. Gegen Sonnenuntergang hatten sie sich aufgemacht, und nun lag schon der helle Juliabend über der Landschaft. Das Maultiergespann war nur langsam durch die Menge gekommen, die lärmend die Straßen und Plätze füllte. Bald mußte das Gefährt halten und Soldaten passieren lassen, bald waren es Freunde des Augaros, die nach dem Wohin der Reise fragten, dann wieder gab es ein zufälliges Wiedersehen mit einem Kameraden des jungen Messala, der sechs Jahre nicht in der Stadt gewesen war. Aber gleich hinter der Porta Tiburtina, wo die Stadtgärten beginnen, fielen die Maulesel in einen leichten Trab. Der thracische Knecht schwang sich vornhin auf das Breitteil der Wagendeichsel und lenkte das polternde Überlandgefährt vom gepflasterten Feldweg auf die erdige Straße hinüber, und es wurde auf einmal deutlich still – wie wenn einer dem schreienden Lärmtier mit einem plötzlichen Hieb die tausend Köpfe abgehauen hätte. Nun konnte man sprechen, ohne sich die Worte aus dem Halse zu reißen und in die stumpfen Ohren zu schleudern.
Und Messala, der nach Neuigkeiten eifrig war, da er aus der Provinz kam, begann.
– Da ich nun schon einmal zu spät zum Feste gekommen bin, wo die Tische abgeräumt und die Lichter ausgelöscht sind, so erzähl mir wenigstens, was es gab. Man hat mir gesagt, du kostetest mit deiner eigenen Zunge und seist ein Feinschmecker, der sich darauf verstünde. Von dir darüber erzählen hören, sei fast wie selber dabei sein. Also erzähle.
In diesem Augenblick ging eine Bande junger Burschen etwas schwankend vorüber, der Stadt zu, und einer von ihnen warf einen Rosenkranz in den Wagen und schrie in der Mundart des Volkes: Donec virenti canities abest …! Und Rosen flogen noch hinter dem Wagen her, als er weiterfuhr.
– Da hast du ihn wieder, sagte Augoras, den Ruf, der die ganze Stadt füllt und einem so aufmunternd auf die Schulter schlägt. Und da soll ich dir von gewesenen Dingen erzählen, von abgeräumten Tafeln und dem Flötenspiel, das in der Ecke liegt. Ja: die Lust des Augenblicks möchte wohl, daß wir ihn uns aufheben zu einem Nachgenuß. Der Duft dieser Sommernacht will nicht vergessen werden, will bewahrt sein für eine Erinnerung, wenn die Nächte kalt sind. Wenn im Winter die Glutbecken hereingebracht werden, spürt man seine kalten Füße nur noch kälter. Alle Erinnerungen sind eine Störung, und die schönen tun weh. Man muß sich kein Gedächtnis für die Augenblicke anlegen wie eine Bibliothek und diesen Lockungen der Schwäche und Angst vor dem Nächstkommenden widerstehen. Man hält sich an die Blume, wenn die Frucht nichts taugt oder giftig ist. Wenn du auf die Frucht des Augenblicks wartest, wirst du darüber seine Blume versäumen. Denn er verlangt alles von uns, wenn wir uns an ihm freuen wollen, und wir müssen, was in uns ist, zu seinem Höchsten steigern, um die Lust des Augenblickes ganz zu vermögen. Trifft er uns in Vor- und Nachbedenken, so haben wir ihn durchaus für immer verloren.
Aber Messala fürchtete auf diese Weise um das zu kommen, was er wissen wollte, und so sagte er statt aller Antwort:
– Erzähl mir vom Kaiser.
– Ich sprach ja von ihm und von nichts sonst. Jeder in Rom spricht heute von ihm und von nichts sonst als von ihm. Hast du nicht gehört? Donec virenti …
– Du mußt schon deutlicher sein, sagte Messala, der, von der Reise und der Stadt erregt, wenig Lust hatte, sich mit dem alten Spaßmacher in Betrachtungen so allgemeiner Art zu ergehen, wenn auch seine Rückkehr nach Rom und nach so langem Verweilen in der Fremde einen Zweck hatte, der ihm so allgemeine Betrachtungen willkommen machen sollte. Denn nichts Geringeres war des jungen Mannes Absicht, als sich in Rom der Philosophie zu ergeben, aus Lehre und Beispiel der nachdenklichen Leute etwas über den Sinn und das Ziel des Lebens zu erfahren, wonach sich zu richten. Einsame Jahre erst und dann die etwas wilden in der Hafenstadt hatten den zu einer sanften Schwermut neigenden Messala – er war ein Etrurier – ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht, wozu kein Geringes auch dieses beitrug, daß er seine nächsten Verwandten der neuen christianischen Lehre ergeben wiederfand und keinen Weg zu ihnen mit Gründen und Beweisen. Das bedrückte ihn, und so wollte er Geschichten hören, einmal, daß sie ihm die Laune bessern sollten, und dann, daß es ihm vielleicht helfen könnte, das neue Wesen zu verstehen, hörte er von dessen Äußerungen. So lag es ihm an dem Spiel der Dinge und nicht an den Schlüssen und sagte er:
– Du mußt schon deutlicher sein.
Und Augaros:
– Du willst doch zu den Philosophen in die Lehre gehen. Ich will dir also erzählen, wie dieser Jüngling-Kaiser eine größere und bessere Weisheit lebte, als alle Philosophen zusammen erdacht haben, die – wenn wir den göttlichen Plato ausnehmen, der auch ein Dichter war – Erkenntnisse nur suchen, um mit einander darüber zu streiten, und sich darüber den Bart wachsen lassen, daß sie aussehen wie die Barbaren von jenseits der Berge. Und hängen an die leichten Dinge das Gewicht ihrer unsinnigen Gedanken, das sie in eine hohle Tiefe zieht. Als hätten nicht die tiefen Fragen den Wunsch nach einer Antwort, die auf der Oberfläche schwimmt wie der Kork auf dem Wasser. Man gräbt die Brunnen um des Quells willen, der ans Licht springt, nicht wegen des schmutzigen Grabens in die Tiefe. Werd nicht ungeduldig. Ich will dir schon von den Dingen erzählen, aber wir müssen uns über dieses verstehen, sonst kommt es dir vor, ich erzähle dir Klatsch und Geschichten aus dem Zirkus. Ich meine also: wenn sich die tiefen Dinge nicht dem Leben dienstbar machen zu einem sichtbaren Schmuck und Kleid, sind sie zu nichts und nur ein Spiel der Leute, die, selber vom Leben ausgeschlossen, nicht zum Leben kommen können. Wir suchen neue Vertiefungen des Lebens zu keinem andern ungewußten Zweck, als daß wir ihm neue Oberflächen gewinnen. Das vortreffliche Freudenmädchen Benedicta, das wir bei Comazon, wie ich sehr wünsche, treffen werden, dient dem syrischen Gotte, weil die Blutbäder, die er verlangt, ihr wohlbekommen. Ist es nicht darum, daß wir diesen Gott nach Rom gebracht haben? Wir schaffen uns für unsere Delirien Getränke besonderer Art und erfinden ihnen neue Worte, warum sollen wir ihnen nicht auch neue Götter erfinden, zu sichtbaren Zeichen unserer Lust? Und das war das größte, was der Kaiser tat: er brachte uns die Schöpfungen unserer höchsten Augenblicke in die größte Nähe, daß wir mit den Händen ineinandergehen und unsere Göttlichkeit spüren. Laß dir erzählen.
Dieser Jüngling hat nie die Tyrannei der gewohnten Gedanken über sich mächtig werden lassen. Er hat sich nie mit den Alltäglichkeiten des Lebens abgegeben, daß er tote Stunden an sie verlor. Er machte sich nichts aus dem gesetzmäßigen Mittleren des Lebens, aus den Selbstverständlichkeiten guten oder schlechten Wetters und den behaglich genossenen Bestätigungen irgendwelcher Meinung. Er suchte nicht das Vergnügen, weil ihn ein gegensätzlicher Zustand plagte. Er brauchte sich nicht auf die Zehen zu stellen, um zu sehen und den Wadenkrampf zu bekommen. Er fand ohne zu suchen die Fülle des Lebens immer, und war ausgerüstet mit allem, diese Fülle aufzunehmen. Er gab dem, was er tat, keinen Wert über die Zeit seines Tuns hinaus, und darum wiederholte er nie und tat immer ein anderes, denn es lag ihm nichts an der Verbindung und Knüpfung des Tuns durch einen tieferen Sinn. Denn sieh: nicht was ich tue, sondern was ich bin, diese Kraft meiner Täuschung gefällt den Göttern. Der Kaiser ist nie zu den Niederungen des Lebens hinabgestiegen, um die sich die Philosophen und diese Christianen kümmern, weil sie die Gründe ihrer Kümmernis suchen; er hat die einen nicht geröstet um ihrer Meinungen willen, die andern nicht befragt um ihre Lehren, denn er gab keiner Meinung und keiner Lehre einen weiteren Sinn als dem, der sie hat, zu seinem Leben zu dienen. Und war selber reich genug, um dieser Dienste einer Meinung, auch wenn sie seine gewesen wäre, entbehren zu können.
Seine Senatoren nannte er Sklaven in der Toga und ließ die Herren parfümieren, wenn er einmal unter ihnen erscheinen mußte, daß wenn sonst auch nichts wenigstens ihr guter Geruch ihr Dasein erträglich mache. Waren sie bei ihm zu Gaste, so sperrte er die Betrunkenen mit alten Äthiopierinnen ein oder mit Schakalen und Hyänen. Das war der Übermut des jungen Gottes, der an den Würdigkeitsgefühlen der Menschen seinen Spaß hat und Takt genug, diesen Spaß nicht zu fein zu machen. Einmal ließ er vor seinen Wagen vier Löwen spannen, einmal vier Elefanten, dann vier Dammhirsche, und nackt auf einem einrädrigen Wagen ließ er sich von vier nackten Frauen ziehen. Du wirst sehen, daß seine Art darauf gerichtet war, keine Beschwerung von irgendeinem Ziel zu bekommen, das weiter lag als in diesem Augenblicke. Das Leben war ihm immer das Ende des Lebens, und nichts was endet, dauert lange und lange genug, um daran zu denken. Ziele, die sich nicht im Augenblick erfüllen, hemmen den Schritt oder hetzen ihn, und der Kaiser ging spielend wie ein Tänzer und freute sich an der Zierlichkeit seines Schrittes, des Weges weiter nicht achtend. Was wir über den Weg denken, was wir über den Augenblick hinaus denken, geht über das Leben hinaus, und diese zu vielen Gedanken finden das Leben weiter, fassen es größer, träumen es unendlich – und alles dieses Gedachte stopfen und drängen wir wieder in dieses kurze Leben hinein und machen es damit schwer, traurig und unfähig: denn immer stellt es uns dann vor ein Entweder – Oder, vor ein Großes oder Kleines, eine Tugend oder eine Sünde, und es gibt doch nur ein: So, und nichts weder groß noch klein, noch gut, noch bös; das Gegensätzlichste läßt sich mit den gleichen Gründen verteidigen, denn es liegt als Einheit in uns. Das Schönste, was wir denken, wird häßlich, wenn wir es tun. Das Schönste, was wir tun, wird häßlich, wenn wir es denken.
War dieser Kaiser nicht eine unerhörte Pracht und Entfaltung des Lebens? Ich will dir noch von ihm erzählen.
Von dieser seiner lächelnden Verschwendung des Tuns, die unsern alten römischen Herrn, die immer aus den Zeiten der Republik zitieren, so sinnlos vorkommt wie sie es war, nur daß sie ihr diesen Vorzug übel nahmen. Weil sie sich ihres Lebens Erbärmlichkeit mit einem Sinn verbessern wollen, verstehen sie nicht, daß das wirkliche Leben sinnlos ist.
Im Frühling ließ der Kaiser an dem einen Tag seinen Tisch lauchgrün decken, flaschengrün am nächsten und so durch alles Grün den Frühling. Der Sommer gefiel ihm in den blauen Farben, in den gelben der Herbst und das Rot war für den Winter. Er ging auf Rosen den einen Tag, den andern auf Narzissen, den dritten auf Veilchen. So sehr war sein Wesen dem Augenblick hingegeben und gegen alles, was zum zweiten Male kommt und den Gedanken an das erstemal grau zur Seite hat wie einen Schatten, daß er nie einen Mann oder eine Frau öfter besaß als einmal. Er verbrauchte jede Zeit und ließ kein Stück davon der nächsten übrig. Er änderte die physische Gestaltung seines Leibes so zu immer andern Formen, wie er es mit seiner Kleidung tat. Er war Frau und Mann und Knabe, im Wechsel der Lust des Augenblickes. Da waren die Götter gut zu ihm, daß sie ihn nicht in das Gefängnis seiner eigenen Sinnlichkeit setzten. Nie kam die Lust über ihn wie ein Anfall. Denk an die roten Augen, mit denen heut Mittag der dicke Glaucos die Livia auffraß, an seine Hände, die nur greifen, aber nicht fühlen, und an das Nachher, diesen Anblick gieriger Sättigung, den er bot, als ob ihm einer mit der Faust die Speisen in den Magen gestoßen hätte – denk an unsern Freund Glaucos, und du wirst mich verstehen, daß die Götter dem Kaiser wohlwollten, da sie ihm zu allem andern diese nie auf Sättigung gierige Sinnlichkeit gaben, die, schwächer als er, ihm immer Genuß war und er nie der ihre. Er war ein Kaiser, weil er über allem so stand, daß er sich an alles hingeben konnte, ohne sich zu verlieren. Er war eine Hetäre und lud die Freudenmädchen aus dem Zirkus, dem Stadion, dem Theater zu sich und sprach mit ihnen über die Wollust. Er stand in Frauenkleidern und mit goldgeschminkten Lippen hinter dem Vorhange eines Gemaches, das auf die Straße lag, und lockte, die vorübergingen. Er war Gemüsekrämer, Koch, Parfümeur, Wirt und Sklavenhändler und vieles noch nach der Lust des Augenblickes, war alles dieses nach diesem Gesetze, daß was wir sind den Göttern gefällt und unser Tun ihnen gleich ist. So wird das Tun nicht mit dem Sinn beschwert, und so schüttelte der Kaiser des Tuns und aller Dinge Sinn und Bezug durcheinander, und gab ein Beispiel, Sinn und Bezug nicht anders zu sehen, als wie das zufällige Gewebe eines Teppichs. An den Lotterien, die er zu den Festen gab, gewann der eine zehn Kamele, der andere zehn Fliegen, der zehn Strauße, der zehn Enteneier oder einen verreckten Hund. Er ließ im Theater Wohlgerüche auf die Zuschauer regnen und Schlangen unter sie loslassen. Er überschüttete seine Gäste mit Blumen, die von der seidenen Decke in solchen Mengen fielen, daß, wer sich nicht retten konnte, darin erstickte. Er ließ in den Reis, der auf die Tafel kam, Perlen tun, in die Erbsen Goldkörner, in die Bohnen Ambra …
Augaros machte eine Pause, als ob er auf etwas wartete, das sein junger Wagengefährte nun endlich sagen müßte.
Der aber schwieg und sah vor sich hinaus in die mondweiße Nacht, die ganz still war, und drehte den Kranz von Rosen in seinen Händen. Der Weg stieg an, und der Wagen fuhr im Schritt. Nach einer Weile erst sagte Messala:
– Nun versteh ich den Anfang deiner Rede, da du vom Kaiser schon sprachst und ich es nicht merkte. Du hattest ganz recht, als du und doch ganz nach der Art der von dir gar nicht geachteten Schreiber und Philosophen deine These erst hinstelltest und dann von der Ambra in den Bohnen sprachst. Anders hätte ich doch immer nur an dieses Bohnengericht denken müssen. Und doch hast du mich mit der Lehre deines Kaisers betrogen.
– Mit der Lehre?
– Die du daraus machtest, ja.
– Das ist der Nachgedanke, sagte Augaros. Vergiß ihn.
– Ja, eben das, bestand Messala. Wie, wenn ich nun nicht in mir die gute Bereitschaft habe, was ist mir, was Lust des Augenblickes sein soll, dann mehr als ein Nachgedanke in vieler Zeit, einer der Gedanken mehr, die bekümmern? Und wenn es mir nun zu einem andern Sinn des Lebens not tut als diesem der Aufhebung allen Sinnes, indem ich die Dinge durcheinander wirken lasse zu nichts sonst als zur Freude an der reichen Oberfläche?
Augaros sagte darauf:
– Es sind solche Dinge in unser Leben beschlossen, die manchmal aus uns reden, ohne daß wir sie verstehen – das lockt uns, ihnen einen Sinn zu geben, mit dem wir den Sinn des sichtbaren Lebens suchen wollen. Diese in unser Leben beschlossenen Dinge drängen uns, daß wir dieses tun und das, und wir tun es, aber weshalb, das können wir nicht sagen, und sollen nicht laut darüber sprechen, damit wir den Worten nicht weh tun. Denn was immer für Antworten wir finden, sie führen uns doch keinen andern Weg als den im Schlagen unseres Herzens und im Gesicht unserer Augen, nur führen sie ihn uns im Schatten unruhiger Gedanken. Suchst du aber lieber einen dunklen Weg, wenn die Lust deines Herzens stark schlägt und das Gesicht deiner Augen hell ist?
Messala aber sagte:
– So stellst du dich immer in die Mitte der Welt und schenkst sie dir nach deinem Wohlgefallen und nach deiner Wahl. Aber ist nicht alles Wählen ein sich Beschränken? Dorthin, woher die Schatten fallen könnten, blickst du nicht, aber es blickt auf dich, und wie erträgst du das?
– Blickt es auf mich, so muß ich bereit sein, es zu tragen. Du trennst Gleiches und stellst es einander gegenüber. Du sagst: Lust – Schmerz und meinst, es sei ein Verschiedenes, weil die Grimasse verschieden ist und das Kleid. Was aber willst du mehr, als daß ich die tausend Bereitschaften habe für jede meiner Regungen, deren mehr sind, als unsere Phantasie und das Leben erdenken können, nicht zu reden von denen, die du für deine Lehrer aussuchen wirst. Aber ich wäge keines um des andern willen, denn wir haben kein Maß, das außer uns wäre: auch die Ideen gibt es nur insoweit, als es Menschen gibt, sie zu denken. Es gibt kein Maß, und ist eines so schwer und so leicht wie das andere. Mußt du die Welt aus einem kleinen schwarzen Spiegel sehen und dich selbst wie einen räudigen Hund halten – es sei, denn es ist deine Lust; tust du anders – es sei denn, es ist deine Lust. Was immer die Fülle deines Augenblicks macht, ist gut. Aber die Summe meiner Bereitschaften ist meine Kraft – denkst du da nun, daß ich mich wählend beschränke, die Summe meiner Bereitschaften verkleinere und meine Kraft mindere? … Schau dort an der Straße die gehenden Lichter. Das ist das Haus der Corinna. Man sagt, sie wurde Christianin, weil ihr die alte römische Mode der langen weißen Kleider gut steht. Denn sie ist etwas wohlbeleibt. Aber es wird sie wohl noch anderes auf diesen Weg geführt haben, daß er zu ihrem Weg ward.
Der Wagen kam an einem großen Hause vorbei, das das der Corinna war. Den Garten füllten Menschen, Erwachsene und Kinder, die schweigend kamen und gingen oder vor Grabhügeln knieten. Nur von den Kindern flog es manchmal wie ein Schrei in die Nacht: Christe Eleyson! Christe Eleyson! Und dabei flackerten ihre kleinen weißen Arme in die Luft wie das Feuer von den Fackeln, die manche der Alten trugen. – Christe Eleyson! verhallte es hinter dem Wagen, der nun die Höhe erklomm, auf der Comazons Haus stand. Messala hatte zurückgeschaut. Als er sich wieder umwandte, sagte er:
– Sie müssen sehr unglücklich sein, um einen Gekreuzigten zu ihrem Gott zu machen … Kannst du das in eine Freude des Augenblicks wandeln, Augaros?
– Du kannst auch sagen, sie müssen sehr glücklich sein, daß sie sich immer so zu den Toten halten und den Tod lieben, denn nur ein glückliches Leben rechtfertigt den Tod. Aber sie sind die Neugekommenen. Die haben kein Haus und kein Kleid, keine Dichter und keine Mädchen. Sie haben sich aus der braunen Erde herausgewühlt, blickten auf den Zehen in unsere Fenster und schauten sich die Augen und das Herz wund. Sie verlangten eine ausgestreckte Hand, die ihnen helfe. Sie können nicht werden wie wir, und wir würden wie sie, reichten wir ihnen die Hand. Denn eine weiße Hand macht eine schmutzige in der Berührung nicht weiß und eine schwielige nicht zart.
– Aber Corinna und die vielen andern von den unsern?
– Ja, denen störte es den Tag und sie gaben sich auf, daß sie zu den Neugekommenen gingen. Auf alles verzichteten sie, die ein langer Besitz geschwächt hatte, und gingen zu denen, die nie auf etwas zu verzichten hatten, und lehrten sie, das Glück sei Verzichten. Nun schaut der Stolz in unsere Fenster. Denn sie dünken sich so reich, daß sie uns ihr Mitleid schenken. Siehst du nicht, wie sich aller Schmerz zu einer Freude, alles Unglück zu einem Glücke aufrichtet? Auch das Leid will sichtbare Gewänder tragen, die Einsamkeit schreibt einem Freunde, der Schmerz hat die Lust der Tränen, und die Qual lächelt. Es ist nichts in uns, das nicht als Lust zur Oberfläche wollte, bestimmt, einen Augenblick ganz zu füllen.
Messala sagte:
– Eines aber bleibt immer noch: stört es dich nicht, dies erkannt zu haben, da doch mindest eine Erinnerung an diese Erkenntnis in dir lebendig bleiben muß, als ein Gedanke, als ein Wort, das einen Schatten wirft, der das Spiel deines Lichtes verwirrt?
– Die Erinnerung, der Gedanke und das Wort, sagte Augaros, kann mich begleiten, aber nicht führen. Was ich tue, tue ich unsorgend um irgendeinen Wert meines Tuns. Nicht einmal ihm keinen Wert geben ist die kleinste Absicht. Du kennst doch sicher unsern Dichter Valerius Suburrus, der so darauf aus ist, die braven Bürger in den Heiligtümern ihrer Tugenden zu verspotten und zu ängstigen. Er meint, er sei ein unerhört Freier, und er ist doch nur sein eigener braver Bürger und plagt sich im Schweiße seiner gesinnungsvollen Gesinnungslosigkeit. Nur die Erinnerungen und Gedanken, die Macht über unseren Augenblick haben, wollen, was wir tun, werten, weil sie, nach einer abstrakten Einheit hungrig, ohne diese Staub sind. Alles Nichtige drängt zu einem System.
– Was sind das für Einheiten, von denen du sprichst?
– Wie man es so nennt: Pflicht, Gewissen, Freiheit, Menschlichkeit und manches noch, das wie ein Luftkissen ist, aufzupumpen und zusammenzulegen nach Bedarf. Aber der Wein, den wir gestern getrunken haben, mag er uns heute nicht schmecken, so trinken wir einen andern und nicht den von gestern, bloß weil er uns da geschmeckt hat.
– Wenn wir ihn aber heute mit der gleichen Lust wie gestern trinken?
– Dann wiederholt sich Wein und Stunde, und wir könnten nur melancholisch bemerken, daß ein Tag an uns vorüberging und uns zu nichts gut fand, zu schwach für sich.
– Was es auch immer sei, du wirst den Gedanken davon spüren, sagte Messala. Das glückliche Leben ist wohl nur dieses, das nicht denkbar ist.
– Oder nichts sonst als denkbar. Und hat man nicht das Glück dieser reinlichen Scheidung, so soll mir doch der Gedanke keine größere Reisebeschwerde sein als dieser Kranz, den der Junge in den Wagen warf und mit dem deine Hände spielen. Dreh ihn in den Fingern oder wirf ihn fort, wie du willst. Anders nicht der Gedanke.
Sieh, wir sind am Ziel. Wir sprachen vom Kaiser – lösch es aus, es war nur dies und das, den Weg zu kürzen, um die Lust dieses Augenblicks. Und bleibt dir ein Wort davon, so laß ihm die Flügel und sperr es nicht ein, oder schenk es lachend einem Sammler. Da tritt schon Comazon unter die Schwelle und schwingt den Becher.
Das Gefährt hielt vor des Schauspielers und fünfmaligen Konsuls weißleuchtendem Haus, aus dem lautes Reden, Lachen und Musik kam. Fackelträger leuchteten, Diener halfen den Gästen aus dem Wagen, und der würdige Hausherr goß vor ihnen den Wein auf den Boden, als sie über die Schwelle traten.
Es war wohl nur die plötzliche Helligkeit, die im Saale auf Messalas Gesicht fiel, daß er es verzog, was es wie voll zorniger Trauer aussehen machte.